Zusammenfassung
Soziologische Diskriminierungsforschung untersucht Diskriminierung als gesellschaftliches Phänomen. Grundlegend ist dafür ein Verständnis von Diskriminierung als soziale Konstruktion und Verwendung von Unterscheidungen zwischen Personenkategorien und imaginären Gruppen, die mit Vorstellungen über Ähnlichkeit und Fremdheit, Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit sowie über angemessene Positionen im Gefüge der sozialen Hierarchien (Anerkennungsverhältnissen, Machtverhältnissen, soziökonomischen Ungleichheitsverhältnissen) verbunden sind.
Die soziologische Forschung hat aufgezeigt, dass diskriminierende Unterscheidungen in je spezifischer Weise in den Strukturen der gesellschaftlichen Teilsysteme verankert sowie in gesellschaftlich einflussreiche Diskurse und Ideologien eingeschrieben sind. Diskriminierung geschieht zudem nicht allein durch das Sprechen und Handeln in Interaktionen, sondern auch durch Regeln und Routinen von Organisationen, auf der Grundlage historisch gewordener Hierarchien zwischen Mehrheiten und Minderheiten und ggf. durch rechtliche verankerte Festlegungen. Deshalb wird in soziologischen Theorien zwischen interaktioneller, institutioneller bzw. organisationaler und gesellschaftsstruktureller Diskriminierung unterschieden.
Ein soziologisches Verständnis von Diskriminierung nimmt damit eine grundlegend andere Perspektive ein als Denkmodelle, die eine individualistische Zurechnung vornehmen, also Diskriminierung auf individuelle Einstellungen und Handlungen zurückführen. Individuelle Einstellungen (Stereotype und Emotionen) und Handlungen sind – soziologisch betrachtet – nicht der Ausgangspunkt und die Ursache von Diskriminierung, sondern ein Bestandteil und ein Ergebnis sozialer Strukturen und Prozesse. Diskriminierung kann auch nicht zureichend durch sozialpsychologische Konzepte erklärt werden, welche die Entstehung von Stereotypen und Vorurteilen in Gruppenprozessen sowie ihren Zusammenhang mit familialen Erziehungsstilen und Charakterstrukturen analysieren.
Im vorliegenden Beitrag werden für die Konturierung einer eigenständigen, genuin soziologischen Diskriminierungsforschung zentrale Überlegungen dargestellt. Davon ausgehend werden soziologische Begriffsbestimmungen und ihre Implikationen diskutiert. Vor diesem Hintergrund wird dann der Zusammenhang von Diskriminierung mit den Strukturen moderner Gesellschaften in den Blick genommen. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf Theorien und Konzepten soziologischer Diskriminierungsforschung; auf Ergebnisse der umfangreichen empirischen Forschung kann nur exemplarisch eingegangen werden.
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Notes
- 1.
Forderungen nach Anerkennung der Gleichberechtigung von Frauen wurden bekanntlich bereits in der Entstehungsphase bürgerlich-demokratischer Gesellschaften formuliert und motivierten die Frauenbewegungen, die sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Neuere sozialhistorische Forschungen haben aufgezeigt, dass der Sklavenaufstand auf Haiti Ende des 18. Jahrhunderts von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung des modernen Kapitalismus war (s. Buck-Morss 2005; Beckert 2014; Hazareesingh 2022).
- 2.
- 3.
Vgl. zum Begriff soziale Klassifikationen die zusammenfassende Darstellung bei Neckel und Sutterlüty 2010, S. 219 ff. Auf die zentrale Bedeutung von Klassifikationssystemen – als ein „Begriffssystem von Unterscheidungen, die hierarchisch geordnet sind“ (Neckel und Sutterlüty 2010, S. 210) bzw. in hierarchische Ordnungen umgewandelt werden können, haben auch Dumont (1980) und Douglas (1991) in grundlegenden Studien hingewiesen.
- 4.
Dies wird exemplarisch z. B. in Untersuchungen deutlich, die den Zusammenhang zwischen der Herausbildung und Verfestigung weltgesellschaftlicher Ungleichheiten mit rassistischen Ideologien und Praktiken (s. etwa Balibar und Wallerstein 1990) oder die das Zusammenwirken von Geschlechterideologien mit der vergeschlechtlichten Trennung und Hierarchisierung von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit (s. etwa Becker-Schmidt 2004) aufgezeigt haben.
- 5.
In der 6. Auflage des Lexikons zur Soziologie (Klimke et al. 2021) findet sich inzwischen jedoch ein einschlägiger Hinweis auf soziologische Diskriminierungsforschung.
- 6.
In der umfangreichen neueren Darstellung von Konzepten der Sozialstrukturanalyse von Weischer (2011) werden unter dem Stichwort Intersektionalität Analysen zum Zusammenhang von Geschlechterverhältnissen, Ethnisierung und Rassismus mit sozialen Ungleichheiten jedoch erwähnt und knapp skizziert.
- 7.
In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass W. E. B. Du Bois in den USA inzwischen als „one [of] the most important American-born sociologist ever“ diskutiert wird (Wright und Morris 2021, S. 203), während er in der deutschen Soziologie nach wie vor kaum zur Kenntnis genommen wird, obwohl seine Arbeiten zur Rassismusforschung von erheblicher Bedeutung auch für Max Webers dezidierte Ablehnung der Etablierung von Rasse als soziologischer Kategorie waren (Morris 2015, S. 149 ff.).
- 8.
Die frühere Rassismus- und Ethnisierungskritik Max Webers ist auch Folge seiner Korrespondenz mit W. E. B. Du Bois, die zur Veröffentlichung eines der Texte von Du Bois im Archiv für Sozialwissenschaften geführt hat (s. Du Bois 1906).
- 9.
Z. B. entspricht der Sparsamkeit der Eigengruppen der Geiz der Außengruppe, dem Durchsetzungsvermögen in der Eigengruppe der Egoismus in der Außengruppe, usw.
- 10.
Bourdieu (1985, S. 17) greift dies auf, wenn er von einem „Sinn für die eigene Stellung im sozialen Raum“ spricht und diesem eine zentrale Bedeutung als unbewusstes Regulativ sozialer Praktiken zuspricht; er verweist in diesem Zusammenhang ohne nähere Quellenangabe auf „Goffmans ‚sense of one’s place“, möglicherweise Goffman mit Blumer verwechselnd.
- 11.
Das Verhältnis unterschiedlicher Teilungsprinzipien des sozialen Raums zueinander, insbesondere von Klassenstrukturen, Geschlechterverhältnissen, Ethnisierung und Rassismus, wird gegenwärtig unter dem Leitbegriff Intersektionalität kontrovers diskutiert; s. dazu u. a. die im Portal Intersektionalität veröffentlichten Grundlagen (http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/schluesseltexte/) und die Beiträge in Klinger et al. 2007.
- 12.
Lerner (1995) zeigt in überzeugender Weise auf, dass patriarchalische Ordnungen historisch der Herausbildung von Klassenstrukturen vorausgehen, also nicht als deren indirekte Folge verstanden werden können.
- 13.
Tilly verwendet den Begriff „‚organization‘“ (1998, S. 9) nicht im Sinne der Organisationssoziologie, sondern weiter gefasst als Bezeichnung für Ordnungsstrukturen, die durch Zugangsregulierungen und interne Hierarchien gekennzeichnet sind.
- 14.
Wright (2000) kritisiert Tillys Theorie mit dem Argument, dass diese einer letztlich marxistischen Denkweise unterliegt und ihre Abgrenzung gegen essenzialistische Positionen sowie den methodologischen Individualismus nicht überzeugend sei. Auf diese Debatte kann hier nicht weiter eingegangen werden; s. zu Tilly auch Emmerich und Hormel 2013, S. 52 ff.
- 15.
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Scherr, A. (2023). Soziologische Diskriminierungsforschung. In: Scherr, A., Reinhardt, A.C., El-Mafaalani, A. (eds) Handbuch Diskriminierung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-42800-6_3
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