Zusammenfassung
Der Hauptgrund, warum Vera, eine damals 26 jährige Assistenzärztin, zur Analyse kam, war ihr verzweifeltes Dilemma in ihrem Liebesleben: Sie fühlte sich tief einem Manne verbunden, mit dem sie in allen Beziehungen ideal zusammenzupassen schien, außer in der Sexualität — sie fühlte sich mehr und mehr von ihm körperlich abgestoßen; während des Verkehrs war ihre untere Körperhälfte wie betäubt. Dieser Freund und Verlobte, Felix, den sie sehr gerne geheiratet hätte und mit dem auch beide Elternpaare die eheliche Verbindung herbeiwünschten, war ein feinsinniger, kluger und großzügiger Mann. Sein einziger Fehler war, daß sie mit ihm nicht „die Wand, von der ich abprallen könnte (the wall I could bounce off)“ zu erleben vermochte. Solche Wände fand sie dann in einer Reihe von zunehmend gröberen, kalten, egoistischen Kollegen, die in jeder Hinsicht weit unter ihr standen. Es waren rohe, unfühlende, weit weniger intelligente Figuren, die alle aber die gleichen hervorstechenden Merkmale besaßen: Sie mußten sehr muskulös sein und waren auch gewöhnlich massiv, groß und schwer, sogar fett, langsam in Bewegungen und Denken. Mehrere dieser Olympier hatten auch ernsthafte Probleme mit Alkohol und mißhandelten die Patientin körperlich wie seelisch. Sie ließ sich mehrfach in sehr leidenschaftliche Liaisons mit ihnen ein; auch ihre sexuelle Ansprechbarkeit war dabei sehr intensiv. Einer dieser Erwählten war gewöhnlich, dick, betrunken und stank nach Knoblauch, ein anderer war ungebildet, ein dritter ließ sie sitzen, wann immer sie auf ihn wartete.
„Die ‚Sünde‘ — denn so lautet die priesterliche Umdeutung des tierischen ‚schlechten Gewissens‘ (der rückwärts gewendeten Grausamkeit) — ist bisher das größte Ereignis in der Geschichte der kranken Seele gewesen: in ihr haben wir das gefährlichste und verhängnisvollste Kunststück der religiösen Interpretation.“
(Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 3.20, S.387)
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Wurmser, L. (1987). „Bestellt, uns selbst zu richten“ Ressentiment und Agieren. In: Flucht vor dem Gewissen. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-97016-0_3
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