Psychiatr Prax 2004; 31(6): 321
DOI: 10.1055/s-2004-832271
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vom "strafrechtlich belangvollen Krankheitsbild" zur Entpathologisierung: Die Geschichte der männlichen Homosexualität in Psychiatrie und Forensik

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Publication Date:
25 August 2004 (online)

 

Die Habilitationsschrift Mildenbergers dürfte der erste weiter ausholende chronologische Abriss über die Geschichte der Theorien zur Ätiologie der männlichen Homosexualität sowie ihrer Therapie und strafrechtlichen Begutachtung in der deutschsprachigen Psychiatrie sein. Das Spektrum der Arbeit reicht von Johann Ludwig Casper, dem Erstbeschreiber dieses "strafrechtlich belangvollen Krankheitsbildes", bis hin zum Eindringen der Soziologie in die Psychiatrie und Sexualforschung und damit zur Infragestellung der klassischen Begriffsinhalte von Männlichkeit und Familie, die die Entpathologisierung und Entkriminalisierung dieser Sexualvariante zur Folge hatte. Der Schwerpunkt wird vom Umfang her auf die NS-Jahre (150 Seiten) gelegt. Aber auch die Zeit vor 1933 (120 Seiten) und die Entwicklung nach 1945 (35 Seiten) werden im relationalen Kontext zur NS-Zeit verstanden. Dabei wäre trotz der Sensibilität, mit der dieser Komplex ohne jeden Zweifel zu behandeln ist, eine Kürzung gerade hier angebracht gewesen. So ermüden viele Redundanzen und das Kapitel "Wehrmachtspsychiatrie" bringt nichts, was nicht schon von Günter Grau, dem Berliner Medizin- und Sexualwissenschaftshistoriker, diskutiert worden wäre. Das Buch Mildenbergers ist daher eher eine höchsten Respekt verdienende Literaturübersichtsarbeit als ein mit archivalischen Aktenstücken glänzendes Werk. Erste Archivalien werden erst bei der Analyse der NS-Psychiatrie einbezogen, wobei jedoch unklar bleibt, ob dem Autor selbst das Verdienst gebührt, sich auf die Suche nach diesen gemacht zu haben. Das bekannte Bedauern, dass zu DDR-Zeiten wesentliche Fundstätten unzugänglich blieben, wirkt mit Blick auf die Liste der genutzten Einrichtungen wenig überzeugend.

Dem Leser wird ohnedies schnell klar, dass als lokale Schwerpunkte Süddeutschland und Österreich gewählt wurden. Diese werden nur verlassen, um auf Berliner Entwicklungen in der Sexualwissenschaft sowie der Psychotherapie und Psychoanalyse - die undifferenziert vermengt werden - oder auf Hans Bürger-Prinz und Hans Giese in Hamburg hinzuweisen. West- und ostdeutsche Entwicklungen scheinen somit nicht von besonderem Belang gewesen zu sein? Davon abgesehen lässt der Autor jedoch alle Größen des Fachs einschließlich der bisher weniger exponierten, aber in diesem Zusammenhang wichtigen Protagonisten mithilfe ihrer einschlägigen Publikationen sprechen. So wird der Leser anschaulich und eindrücklich bekannt gemacht mit den Theorien und praktischen Empfehlungen von Carl Westphal, Eugen Steinach und Magnus Hirschfeld (letzterer in seiner Widersprüchlichkeit fast einzigartig spürbar), Richard von Krafft-Ebing und Emil Kraepelin (beide sehr gut im Wandel ihrer Einstellungen dargestellt), Gustav Aschaffenburg, Oswald Bumke, Paul Näcke, Theodor Viernstein, Ernst Rüdin, Theobald Lang, Ernst Kretschmer, Kurt Kolle, Manfred Bleuler und vielen anderen mehr. Detailliert geht der Autor auch einzelnen wissenschaftlichen Disputen nach, z.B. denen zwischen Krafft-Ebing, Kraepelin und Hirschfeld. Sigmund Freud allerdings spielt keine so zentrale Rolle, wie man annehmen sollte. Überraschenderweise bleibt auch seine 1911 aufgrund des berühmten Falls von Paul Daniel Schreber aufgestellte These vom Zusammenhang zwischen Schizophrenie und männlicher Homosexualität unberücksichtigt, obgleich ein solcher Hinweis sich wiederholt als klärend erwiesen hätte.

Positiv hervorzuheben ist, dass der Autor es vermag, die historischen Ansätze zur "Behandlung" der Homosexualität sowie die Überlegungen zu ihrer Ätiologie anhand ausgewählter Zitate differenziert und nachhaltig zu erörtern. Dabei wird die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht überfrachtet durch pauschale "Opfer"- und "Täter"vorführungen. Die Untersuchung bleibt historisch nüchtern, im Zeitkontext und unter weit gehender Außerachtlassung emotionaler Konnotationen.

Das Buch, das ein bedenkenswertes Kapitel der eigenen Wissenschaftsgeschichte vermittelt, sollte - trotz der dargestellten kleineren Mängel - unter den heutigen Nervenärzten eine reiche und nachdenkliche Leserschaft finden.

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