Eine Reihe von Autoren hat in der Zeitschrift pädiatrische praxis, Ausgabe 95/2021, eine Serie von Artikeln zum Schütteltraumasyndrom (STS) bzw. zu misshandlungsbedingten Kopfverletzungen publiziert, die in der Summe die Diagnostizierbarkeit des Schütteltraumas anzweifeln [13,14,15].

Dieses Konsensus-Statement der oben genannten Fachgesellschaften bezieht sich daher auf die grundsätzliche Frage der Diagnostizierbarkeit des Schütteltraumas. Weitere, insbesondere auch schwerwiegende fachlich-methodische Kritikpunkte an den Arbeiten werden hier ausdrücklich nicht angesprochenFootnote 1.

Aus Sicht der oben genannten Fachgesellschaften ist grundsätzlich zwischen einer medizinisch-wissenschaftlichen Diskussion und einer Sachverständigentätigkeit bei Gericht zu unterscheiden. In einer fachlichen Diskussion können auch schwache Hypothesen und gelegentlich auch Behauptungen aufgestellt werden. Für derartige unbelegte Äußerungen ist der Strafprozess jedoch nicht der geeignete Ort. Dort werden fachliche Schlussfolgerungen auf wissenschaftlicher Basis vorgetragen und sollen dem Gericht helfen, eine durch medizinische Fakten gestützte Entscheidung zu treffen (z. B. [17]).

Die Artikel der verschiedenen Autoren(gruppen) nehmen bei ihren Ausführungen anscheinend auf einen (gemeinsam?) als Gutachter der Verteidigung bearbeiteten Fall Bezug. Ein derartiger Zusammenhang entspräche einem nichtdeklarierten Interessenkonflikt. Ein solcher wird aber nicht offengelegt.

Die Diagnose des Schütteltraumas wird entweder in einem klinischen oder – bei verstorbenen Kindern – rechtsmedizinischen Zusammenhang gestellt. Hierzu gibt es etablierte Untersuchungsabläufe, die auch in deutschsprachigen Leitlinien festgehalten sind [9, 10]. Des Weiteren gibt es aktuelle Publikationen – auch gemeinsam von Pädiatern und Rechtsmedizinern –, die sich mit der Diagnose des Schütteltraumas befassen (z. B. [2, 3, 6, 7, 16]), internationale Leitlinien und Konsensuspapiere [1, 5] und systematische Reviews [12].

Häufig steht am Beginn der Diagnostik eine (neurologische) Auffälligkeit des Kindes, die dann zu weiteren Untersuchungsschritten führt (u. a. mit der Klärung bekannter Differenzialdiagnosen). Auf diese klinische bzw. postmortale Diagnostik soll in diesem Statement nicht detailliert eingegangen werden. Wir verweisen dazu auf die Literatur (einige Arbeiten s. Literaturverzeichnis) und entsprechende Lehrbücher (z. B. [8, 11]).

Es erfolgt nach international einvernehmlichem fachlichem Standard keine „automatische“ Diagnose eines Schütteltraumas anhand der von den Autoren mehrfach zitierten „diagnostischen Trias“, wenn ein Subduralhämatom in Kombination mit retinalen Blutungen und einer Enzephalopathie festgestellt wird. Die Diagnose beruht auf anamnestischen, klinischen, radiologischen und ophthalmologischen Befunden, unter Berücksichtigung aller relevanten differenzialdiagnostischen Erwägungen. Diese gehören ebenso zur Erörterung jedes Einzelfalls wie weiterführende Untersuchungen, u. a. des Skelettsystems (Röntgenskelettscreening) zur Prüfung evtl. weiterer bestehender Verletzungen. Am Ende des diagnostischen Prozesses wird nach Empfehlung der durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) koordinierten S3+-Kinderschutzleitlinie [9] in einem multiprofessionellen Abwägungsprozess die Diagnose gestellt, und zwar unter Berücksichtigung aller diagnostischen Ergebnisse und der zu diesem Zeitpunkt bekannten Anamnese. Werden neue/andere Anknüpfungstatsachen bekannt (z. B. Berichte über ein Unfallereignis), so muss neu beurteilt werden.

Aber die Diagnose kann – auch postmortal – unter Berücksichtigung der oben genannten Standards verlässlich und sicher gestellt werden. Die von von Voss (2021; [14]) behauptete Kontroverse besteht nicht. Es handelt sich um eine Pseudokontroverse, die teils von schon bekannten Protagonisten (vorwiegend aus den USA), teils von anderen Autoren (das bekannteste Beispiel waren Autoren aus Schweden; [4]) immer wieder versucht wird. Bislang ist keine substanzielle Widerlegung des Konzeptes des Schütteltraumas und des damit verbundenen Pathomechanismus und seinen Folgen gelungen (zusammenfassend [3, 8], zur schwedischen Publikation [4]).

Die von den Autoren Wiederer et al. (2021, [15]) bereits im Titel („Schütteltrauma vs. SIDS …“) gegeneinander gestellten Entitäten Schütteltrauma und plötzlicher Kindstod („sudden infant death syndrome“, SIDS) haben nichts miteinander zu tun. Wenn ein Säugling retinale Blutungen und/oder ein Subduralhämatom aufweist, kann es sich definitionsgemäß nicht um einen plötzlichen Kindstod handeln. Dieser beruht ja u. a. gerade darauf, dass es keine (!) derartigen oder anderweitige Befunde gibt. Die Frage „Schütteltrauma vs. SIDS“ können die Autoren nur aufwerfen, da sie eine Entstehung von Subduralhämatomen und retinalen Blutungen allein durch eine Hypoxie unterstellen. Diese Unterstellung ist schon längst widerlegt. Daher kann bei diesen Befunden kein plötzlicher Kindstod vorliegen.

Umgang mit der gestellten Diagnose

Ist ein Kind lebensbedrohlich verletzt, so kommt – unabhängig von der bestehenden Schweigepflicht – eine Meldung an die Polizei und die Staatsanwaltschaft oder auch nach § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) an das Jugendamt in Betracht. Üblicherweise werden derartige Entscheidungen in einer Kinderschutzgruppe getroffen, in der alle beteiligten Berufsgruppen und medizinische Fachrichtungen vertrauensvoll zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit hat sich in den zurückliegenden Jahren intensiv entwickelt und wird entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) und der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) in mittlerweile über 180 Kinderschutzgruppen bundesweit praktiziert. Dabei gibt es aufgrund der unterschiedlichen Tätigkeiten verschiedene Herangehensweisen, aber keinen fachlichen Dissens zwischen z. B. Pädiatrie und Rechtsmedizin.

Es ist uns als wissenschaftlichen Fachgesellschaften wichtig zu betonen, dass eine fundierte (Differenzial‑)Diagnostik in allen Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung die Basis einer weitergehenden, auch rechtlichen Beurteilung ist. Die Eltern und ihre Kinder haben einen Anspruch darauf, dass nicht persönliche Interessen und wissenschaftlich unseriöse Diskussionen die medizinische Beurteilung prägen. Falsch-positive und falsch-negative Diagnosestellungen haben in diesem Themenfeld dramatische Konsequenzen. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, für eine angemessene Beurteilung von Verdachtsfällen einzustehen – jeder mit seiner Fachkompetenz und in einem wissenschaftlich fundierten Abwägungsprozess.

Beteiligte Fachgesellschaften und ihre Vertreter

Deutsche Gesellschaft Kinderschutz in der Medizin (DGKiM), Dr. B. Herrmann (Vorsitzender), Klinikum Kassel, Kassel

Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin (DGRM), Prof. S. Ritz-Timme (Präsidentin), Universitätsklinikum Düsseldorf

Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Prof. I. Krägeloh-Mann, (Vizepräsidentin), Universitätsklinik Tübingen

Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), Prof. U. Thyen (Präsidentin), Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Lübeck

Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP), Prof. Dr. U. Schara (Präsidentin), Universitätsklinikum Essen, und Prof. Dr. M. Kieslich (Vizepräsident), Universitätsklinikum Frankfurt/Main

Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), Prof. Dr. M. Kölch (Präsident), Universitätsmedizin Rostock

Gesellschaft für Pädiatrische Radiologie (GPR), Prof. Dr. H.-J. Mentzel (Präsident), Universitätsklinikum Jena und

Medizinische Kinderschutzhotline Prof. J. Fegert, Universitätsklinikum Ulm