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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 6/2022

Open Access 28.10.2022 | Psychiatrie

Zur Akzeptanz der Begrenzung

verfasst von: Henriette Löffler-Stastka

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Ausgabe 6/2022

Zusammenfassung

Unbewusste affektiv-kognitive Phänomene beeinflussen Entscheidungsfindung, Entwicklung von Einstellungen, Problemlösung und Kreativität. In chronischen Belastungssituationen kann durch das Akzeptieren des Nichtwissens die Handlungsfreiheit wiedergefunden werden.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

Biomedizinische Aspekte und Stressoren von Patient*innen mit chronischen Erkrankungen und Belastungen, so wie die aktuelle Pandemie beispielhaft als existenzielle bedrohliche Veränderungskrise erlebt und aufgefasst werden kann, sind gut erfassbar und ausgebildet. Das Verständnis des komplexen Spannungsfelds der psychologischen, sozialen und kulturellen Dimensionen von Krankheit und Gesundheit ist jedoch oft vage, opak und prozesshafte Geschehnisse können oft nicht individuell veränderungswirksam mentalisiert werden.
Ein Grund für die Non-Adhärenz bei Menschen mit chronischen Erkrankungen ist, dass Betroffene ihre Krankheit, ihre Behandlung und ihre Rolle im Behandlungsplan sehr unterschiedlich auffassen. Krankheitsverarbeitungsprozesse sind von persönlichen Überzeugungen oder den Auswirkungen auf das tägliche Leben abhängig [7]. Darüber hinaus besteht ein enger Zusammenhang zwischen Krankheitswahrnehmung und affektiv-kognitiven Parametern [2].
Aktive Wahrnehmung des affektiven Verhaltens korreliert stark mit Adhärenz und Behandlungserfolg
Unbewusste affektiv-kognitive Phänomene beeinflussen die Entscheidungsfindung, Entwicklung von Einstellungen, Problemlösung und Kreativität. Unbewusste Prozesse äußern sich nonverbal (z. B. Mimik) und in Verhaltensweisen/Körpersprache [5]. Um eine Reihe komplexer Aspekte der Behandlungsbeziehung zu verstehen, müssen verschiedene Interaktionsvariablen (Affektregulation, Objektbeziehungsqualität, psychische Struktur, Therapeut*innenaktivität, Gegenübertragung etc.) berücksichtigt werden. Das beziehungsgenerierende Zusammenspiel und die aktive Wahrnehmung des mimisch-affektiven Verhaltens der Patient*innen durch Ärzt*innen/Therapeut*innen in der Erstkonsultation korrelieren stark mit Adhärenz und Behandlungserfolg [3]. Der Erfolg therapeutischer Interventionen hängt stark von der Fähigkeit des Behandlers ab, kongruent zu reagieren, indem er subliminale Mikroausdrücke anspricht [4].

Beispiele aus der aktuellen Forschung

In Videoaufzeichnungen 22 psychiatrischer Erstinterviews in einer psychiatrischen Routine‑/Akutstation wurde die Mikromimik von Kliniker*innen und Patient*innen in Verbindung mit verbalen Interaktionen untersucht [4]. Interpretation, Konfrontation und das Durcharbeiten verächtlicher Mikroausdrücke zeigten sich als wesentliche Faktoren für die adäquate Kontrolle der wichtigsten pathoplastischen Elemente. Konfrontative Interventionen waren auf Behandler*innenseite und Patient*innenseite mit Verachtung verbunden, interessanterweise korrelierte Verachtung aber mit höheren Werten in der Arbeitsallianzskala (Working Alliance Inventory – WAI). Dies weist auf die komplexe Funktion der Affekte und des Zusammenspiels von primären und sekundären Emotionen mit dem Interventionstyp hin.

Therapeutische Überlegungen

Unbewusste affektive Prozesse und die damit in Zusammenhang stehende Krankheitswahrnehmung sind stark subjektiv geprägte Parameter, verbunden mit Existenzängsten, dysfunktionalen Glaubenssätzen, die auch adressiert werden müssen, beispielsweise durch Stärkung/Etablierung ausgereifter Bewältigungsmechanismen (z. B. Sublimierung).
Die Pandemiesituation hat uns die überwältigende Macht der Natur, die Gebrechlichkeit unseres eigenen Körpers und Unzulänglichkeiten der Institutionen, die die Beziehungen zwischen den Menschen in Familie, Gesellschaft und Staat regeln, bewusst gemacht [6]. Einerseits nährt die Angst vor der überwältigenden Macht des Schicksals das Bedürfnis nach Wiederherstellung eines (fantasierten) uneingeschränkten Narzissmus (Omnipotenz), abgeleitet aus der Sehnsucht nach väterlichem Schutz aufgrund einer infantilen Hilflosigkeit. Andererseits können Ängste zu weiteren regressiven Phänomenen führen. Die Pandemiesituation zeigte bekannte Gruppenphänomene in der Krise, wie Fragmentierung, Spaltung, also grundsätzlich Regression auf bekannte frühere Funktionen, wenn die normale adaptive mentale affektiv-kognitive Verarbeitung überfordert ist. Sublimierung scheitert beispielsweise, wenn der eigene Körper zur Quelle des Leidens wird.
Akzeptanz der Begrenzung kann Selbstbewusstsein und Selbstreflexion verändern
Es ist zu beobachten, dass das Vertrauen in ein stützendes Über-Ich und das Vertrauen in gesellschaftliche, demokratisch etablierte politische Errungenschaften, in die Wissenschaften mit ihren bewährten Methoden, schwinden. Verachtung, destruktive Momente dominieren zeitweise auch kollektiv. Aus der klinischen Erfahrung mit individuellen Erkrankungsprozessen, wie auch aus der psychoanalytischen Theorie lässt sich ableiten, dass diese Phänomene von der Nichtakzeptanz von Grenzen und Begrenzungen abhängen können. Erst die Akzeptanz des unerreichbaren „O“ (des Eigentlichen, Absoluten), der „Wahrheit an sich“, und der Gewissheit allerdings, sie nie erreichen zu können [1], lässt Verarbeitungsschritte möglich werden.
Die Akzeptanz der Begrenzung kann die Verinnerlichung der Funktionen im Über-Ich (Gewissen) verstärken und kann Selbstbewusstsein und Selbstreflexion verändern. Somit wird auch die Mentalisierung unterstützt, die zu einem besseren Verständnis der eigenen Person und einer höheren Selbstregulierung (einschließlich emotionaler Regulierung) zu besseren Urteilen (Anwendung formaler Logik und abstraktem Denken) und Verhalten führen kann.

Fallvignette

Frau X war in ihrem 14. Lebensjahr „von der Medizin aufgegeben worden“. Eine bösartige Erkrankung, die fortschreiten würde, „man habe nichts, womit man helfen könne“, so die Erinnerungen. Nach Markierung der Verzweiflung und interessiertem Nachfragen bezüglich des weiteren Verlaufs schildert die nun in die 40er gekommene Frau: „Als ich die Aussichtslosigkeit akzeptiert habe, hörte ich plötzlich Musik“. Frau X ist heute eine erfolgreiche Komponistin. In ihrer Musik ist die Akzeptanz der Begrenzung hörbar.

Diskussion

Kreativität, Lebenslust, die Gesundheit können in schwierigen Situationen, bei chronischen Leiden oder Belastungsfaktoren bedroht sein. Auch bergen Krisen und Unsicherheit die Gefahr einer Fragmentierung oder einer persönlichen, kurzgeschlossenen, individuellen Realitätsbildung und verstärken damit Unsicherheiten, die – psychoanalytisch betrachtet – reflektiert, durchdacht, manchmal affektiv metabolisiert, verarbeitet werden müssen und aufgrund der Komplexität gerade für die Ärzt*in-Patient*in-Beziehung herausfordernd sind.
Stehen Spaltungs- und Fragmentierungsmechanismen im Vordergrund, dominieren folglich unreife Über-Ich-Anteile, und es kommt zur Abnahme jener Über-Ich-Anteile, die in ihrer wohlwollend stützenden Funktion identitätsgebend, grenzziehend und sicherheitsgebend sind. Die wesentlichen legierenden affektiv-kognitiven Entwicklungsschritte in der Identitätsbildung fehlen, die zur Lösung des Ödipuskonflikts und somit zu einer Etablierung einer stützenden Über-Ich-Funktion beitragen könnten. Dazu braucht es aber auch tragfeste soziale Beziehungen.
Beziehungswissen ist implizites Wissen und im prozeduralen Gedächtnis gespeichert
Der Transport von individuellen, nicht eingeordneten Erfahrungen mit zwischenmenschlicher, sozialer Auseinandersetzung zu einem allgemein geteilten Wissen kann als Gegenentwurf zur „Einsamkeit“ gedacht werden. Beziehungswissen ist implizites Wissen und im prozeduralen Gedächtnis gespeichert geht dieses „Knowing“ weit über semantische oder episodische Gedächtnisinhalte hinaus.
Implizites Wissen ist die Basis therapeutischer Kompetenz, es ist jedoch oft unzureichend verbalisierbar und nicht eindeutig kommunizierbar: Es gibt verschiedene Arten, wie man etwas wissen kann. Beziehungsmuster und Beziehungswissen sind implizites Wissen und können auch unter dem Begriff „embodied knowledge“ subsummiert werden, „information that is uniquely and integrally embodied in the person’s personality, creativity, intelligence, perceptions, experiences, and relationships. Embodied knowledge is the essence of expertise“. Implizites Wissen inkludiert auch die Akzeptanz von „O“ [1], also die Anerkennung dessen, etwas nicht zu wissen. Die Anerkennung von Grenzen, die reife Lösung des Ödipuskonflikts und das Vertrauen auf die Lösungskompetenz des Unbewussten sind für einen gelingenden Umgang mit den Unsicherheiten essenziell.

Fazit für die Praxis

  • Die Bewältigung von Unsicherheiten kann durch die Akzeptanz der Begrenzung möglich werden.
  • Im Rahmen einer Psychotherapie bietet sich die Möglichkeit einer Beziehungserfahrung, welche in einem sicheren Rahmen die Chance bietet, eine emotional (re)konsolidierende Erfahrung zu machen.
  • Übertragung/Gegenübertragungsreaktionen sind wichtige Ansatzpunkte für Therapeut*innen.
  • Die Wahrnehmung affektiv-mimisch unbewusster interaktiver Prozesse ist für gelingende Interventionen erforderlich.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

H. Löffler-Stastka gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Bion WR (1984) Second thoughts: selected papers on psychoanalysis. Karnac Books, London (1967) Bion WR (1984) Second thoughts: selected papers on psychoanalysis. Karnac Books, London (1967)
6.
Zurück zum Zitat Freud S (1930) Das Unbehagen in der Kultur. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien (Erstdruck) Freud S (1930) Das Unbehagen in der Kultur. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien (Erstdruck)
Metadaten
Titel
Zur Akzeptanz der Begrenzung
verfasst von
Henriette Löffler-Stastka
Publikationsdatum
28.10.2022
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe 6/2022
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-022-00858-w

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Herausgeberbrief

Editorial