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Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 3/2020

Open Access 01.10.2020 | Leitthema

Zukunftsperspektiven des Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen

verfasst von: Assoc.-Prof. PD Dr. Till Voigtländer

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Sonderheft 3/2020

Zusammenfassung

Im Jahr 2008 wurde das Projekt Nationaler Aktionsplan für seltene Erkrankungen (NAP.se) mit einer Petition an das Gesundheitsministerium gestartet. Im Jahr 2020, 12 Jahre später, befinden wir uns mitten in der Umsetzung dieses Plans, der mittlerweile seinen Charakter hin zu einer längerfristigen Strategie gewechselt hat. Einen zentralen Schwerpunkt bildet dabei die Umsetzung des auf die besonderen Anforderungen Österreichs zugeschnittenen Drei-Stufen-Modells für spezialisierte Zentren für seltene Erkrankungen und der damit verbundene Anschluss an die 24 Europäischen Referenznetzwerke. Der nachfolgende Beitrag referiert zunächst den aktuellen Umsetzungsstand und skizziert dann in 3 Abschnitten die kurzfristigen, gesundheitspolitisch bereits abgesicherten, die mittelfristigen, in einer ersten politischen Diskussion befindlichen, und die langfristigen, teils noch vagen bzw. visionären und nicht politisch diskutierten, aber interessanten und in einzelnen europäischen Nachbarländern exemplarisch umgesetzten Zukunftsperspektiven bei der weiteren Umsetzung des NAP.se.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Die Crux mit den Zukunftsperspektiven

Über die Zukunftsperspektiven des Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen (NAP.se) – wie im allgemeinen jedes anderen nationalen Aktionsplans auch – zu reden oder zu schreiben, ist in mehrerlei Hinsicht ein schwieriges und riskantes Unterfangen. Ein schwieriges, da ein nationaler Aktionsplan mit seinen zahlreichen Maßnahmen einen Umfang besitzt, der in einem einzigen Beitrag nicht annähernd reflektiert werden kann. Schwierig auch, weil er die Lebens- und Arbeitsbereiche vieler Menschen mit ihren individuellen Vorstellungen und Wünschen betrifft und so ein breit gefächertes Spektrum an Erwartungshaltungen kreiert. Wenn diese Erwartungshaltungen dann mit den Rahmenbedingungen und Realitäten bei der Umsetzung der Maßnahmen in Konflikt geraten und ein Vortragender oder Verfasser dies auch so zur Kenntnis bringen muss, sind Enttäuschungen bei der Zuhörer- und Leserschaft vorprogrammiert. Riskant ist das Unterfangen, da der Begriff Zukunftsperspektiven per se nicht nur kurzfristige Überlegungen zu den nächsten Wochen und Monaten umfasst, sondern eine weiter in die Zukunft reichende Projektion beinhaltet, die in zeitliche Gefilde reicht, für die auf politischer Ebene – auch zum Erhalt einer notwendigen Handlungsflexibilität – häufig noch keine konkreten Planungen erstellt werden (der konkrete Planungshorizont beim NAP.se bewegt sich derzeit in Zeiträumen von 1 bis 2 Jahren). Die aktuell über uns hereingebrochene Corona-Pandemie mit ihren manifesten Auswirkungen schon auf kurzfristige Vorhaben hat dies auf eine drastische und paradigmatische Weise offengelegt wie wenige Ereignisse zuvor. Ein Teil der im nachfolgenden Beitrag ausgeführten Zukunftsperspektiven besteht daher auch aus Szenarien, die aus den ursprünglichen Zielsetzungen und dem bisherigen Entwicklungsverlauf bei der Umsetzung des NAP.se sowie aus begleitenden europäischen Entwicklungen abgeleitet wurden, aber auf gesundheitspolitischer Ebene bislang weder diskutiert noch beschlossen wurden. Man kann diese Elemente als Visionen sehen, deren Umsetzung aus Sicht der seltenen Erkrankungen mittel- oder längerfristig sehr erstrebenswert erscheint. Aber auch eine gute Vision garantiert noch keine Umsetzung, denn die politische Entscheidungsebene mag – und sei es geleitet von anderen Sachzwängen – die Relevanz einer Umsetzung anders bewerten. Auch ist es möglich, dass zukünftige Entwicklungen die ursprüngliche Idee überholen und sie dadurch überflüssig machen. Das Schlusskapitel dieses Beitrags, das nach den vorangehenden Abschnitten mit einer kurzen Einleitung in den nationalen Aktionsplan und einer auf die Zentrenthematik fokussierten Darstellung seines aktuellen Umsetzungsstands den weiteren Zukunftsperspektiven gewidmet ist, wird gezielt auf diese Gradwanderung eingehen.

Der NAP.se im Kurzportrait

Die Geschichte des österreichischen NAP.se begann 2007/2008 als akademische Initiative mit einer vom österreichischen Orphanet-Team1 verfassten und von zahlreichen Selbsthilfegruppen unterstützten und letztlich erfolgreichen Petition für einen entsprechenden Aktionsplan. Diese wurde der damaligen Gesundheitsministerin am 29.02.2008 am ersten in ganz Europa gefeierten Tag der seltenen Erkrankungen (symbolisch bewusst auf einen seltenen Schalttag gelegt) überreicht. Nach weiteren, und politisch natürlich schwergewichtigeren, Initiativen und Entwicklungen auf europäischer Ebene einschließlich der Verabschiedung einer entsprechenden Mitteilung und einer Empfehlung [1, 2] folgten 5 Jahre (2009–2013), in denen der Aktionsplan zunächst weiter als akademisches Projekt und ab 2011 in der Nationalen Koordinationsstelle für seltene Erkrankungen (einem Kooperationsprojekt von Medizinischer Universität Wien und der Gesundheit Österreich GmbH) in Zusammenarbeit mit einer zunehmenden Zahl an Akteuren aus letztlich allen relevanten Gesundheitsbereichen entwickelt und erarbeitet wurde [3]. Nach vielen weiteren Konsultationen und Feedbackrunden mit allen involvierten Akteuren und Institutionen wurde er schließlich am 28.02.2015 als interministerielle Publikation von den Bundesministerien für Gesundheit, für Arbeit und Soziales und für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft veröffentlicht [4].
Der NAP.se umfasst 9 Handlungsfelder, in denen 46 Ziele definiert werden, die durch die Implementierung von 82 Maßnahmen erreicht werden sollen (für eine gekürzte Zusammenfassung s. Tab. 1). Die Umsetzung, die zu Beginn in zentralen Bereichen viele Vorbereitungen auf gesundheitsplanerischer Ebene erforderte, wurde zunächst von 2015–2018 von der bereits erwähnten Nationalen Koordinationsstelle im Auftrag des Gesundheitsministeriums in Angriff genommen. Nachdem allerdings die planerischen und verfahrenstechnischen Voraussetzungen geschaffen waren, verschob sich der Arbeitsschwerpunkt zunehmend in den medizinisch-akademischen Expertisebereich, sodass das weitere Roll-out des Aktionsplans nun seit 2019 über eine neue Einrichtung, das Nationale Büro für die Umsetzung und Weiterentwicklung des NAP.se (kurz NB-NAP.se) getragen wird. Hierbei handelt es sich wieder um ein universitäres Projekt, das bislang über einjährige Projektverträge vom Gesundheitsministerium finanziert wird.
Tab. 1
Handlungsfelder des Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen mit Auflistung ausgewählter, teils bereits umgesetzter, teils in Umsetzung befindlicher und teils noch umzusetzender Maßnahmen
Handlungsfeld
Titel des Handlungsfelds mit Auflistung ausgewählter Maßnahmen
1
Abbildung der seltenen Erkrankungen im Gesundheits- und Sozialsystem
Entwicklung eines Kodierungssystems für SE und Implementierung in Typ A-, Typ B- und Typ C-Zentren
Prüfung der derzeitigen Abrechnungs- und Honorierungskataloge im Hinblick auf das Leistungsgeschehen im Zusammenhang mit SE
Erstellen eines Konzepts zur Einführung einer Patienteninformationskarte
2
Verbesserung der medizinisch-klinischen Versorgung der von SE Betroffenen
Ausarbeitung von spezifischen Leistungs- und Qualitätskriterien für Typ A-, Typ B- und Typ C-Zentren
Entwicklung und Durchführung von Designationsverfahren für Typ A-, Typ B- und Typ C-Zentren
Entwicklung eines Evaluationsverfahrens für Typ A- und Typ B-Zentren; Abstimmung mit korrespondierenden Verfahren auf EU-Ebene
Unterstützung der horizontalen und transsektoralen Vernetzung der Typ A-, Typ B- und Typ C-Zentren mit den anderen Versorgungsstufen
Unterstützung bei der europäischen Vernetzung mit ERN
3
Verbesserung der Diagnostik von SE
Definition von Leistungs- und Qualitätskriterien für medizinische Laboratorien im Bereich der SE
Entwicklung eines Bewerbungs‑, Begutachtungs- und Designationsverfahrens für mit der Diagnostik von SE befasste medizinische Laboratorien
Ausarbeitung von Kompetenzkriterien für Expertinnen und Experten, die mit der apparativen Diagnostik von SE befasst sind
Einrichtung eines ständigen wissenschaftlichen Beirats für das österreichische Neugeborenenscreening
4
Verbesserung der Therapie und des Zugangs zu Therapien für von SE Betroffene
Teilnahme an europäischen Kooperationsprojekten zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierung von „orphan drugs“ (z. B. MoCA-OMP)
Preiserhebung von ausgewählten „orphan drugs“ im intramuralen sowie niedergelassenen Bereich
Etablieren optimierter Versorgungsabläufe am Best Point of Service
Etablieren eines regelmäßigen Austauschs zwischen Chefärztinnen bzw. Chefärzten, der sozialen Krankenversicherung und der Patientenschaft
5
Förderung der Forschung im Bereich SE
Designation von Expertisezentren mit einem Schwerpunkt auf Forschung
Teilnahme Österreichs an ERN bezüglich Forschungsaspekten
6
Verbesserung des Wissens über und des Bewusstseins zu SE
Vermitteln von Basiswissen zu SE und von damit verbundenen möglichen Behandlungsoptionen
Spezifische qualitätsgesicherte Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für Ärztinnen und Ärzte sowie weitere Gesundheitsberufe
Ergänzen eines Schwerpunkts zu SE im Gesundheitsportal und Bereitstellen qualitätsgesicherter Informationen zu SE über Orphanet Austria
7
Verbesserung der epidemiologischen Kenntnisse im Kontext SE
Bestandsaufnahme bestehender Patientenregister für SE
Definition und Abstimmung (datenschutz-)rechtlicher, struktureller und finanzieller Rahmenbedingungen sowie von Bestimmungen zur Qualitätssicherung
Sicherstellen der Interoperabilität mit bestehenden relevanten nationalen und internationalen Patientenregistern und Datenerfassungssystemen
Entwickeln eines minimalen Datensatzes unter Berücksichtigung internationaler Entwicklungen
8
Einrichtung ständiger Beratungsgremien für SE beim BMG
Konstituieren des „Beirats für seltene Erkrankungen“ als Beirat gemäß § 8 Bundesministeriengesetz
Beibehalten der „Strategischen Plattform für SE“
Fortsetzung der regelmäßigen Sitzungen und Arbeiten beider Gremien
9
Anerkennung der Leistungen der Selbsthilfe
Gründung einer österreichweiten Dachorganisation der Selbsthilfegruppen von Personen mit SE
Schaffung von Rahmenbedingungen für die Sicherstellung einer langfristigen Finanzierung
Vertretung der Selbsthilfe in Entscheidungsgremien und Einbeziehen in Entscheidungsprozesse
BMG Bundesministerium für Gesundheit, ERN Europäisches Referenznetzwerk, MoCA-OMP Mechanisms of Coordinated Access to Orphan Medicinal Products in Europe, SE seltene Erkrankungen
Ein wichtiger Punkt sei noch hervorgehoben: der NAP.se war ursprünglich – ganz im Sinn eines Aktionsplans, wie ihn die EU sich wünschte [2] – als Plan mit einem definierten Zeitrahmen von 2014 bis 2018 versehen. Doch bereits in der Phase der Ausarbeitung des NAP.se zeigte sich, dass aufgrund der teils raschen Entwicklungen im Bereich der seltenen Erkrankungen ein einfacher Plan einen zu starren Rahmen bilden könnte, dessen mangelnde Flexibilität zukünftigen Anforderungen nicht gerecht zu werden drohte. So wurde bereits damals festgelegt, den Aktionsplan als eine Kombination aus Plan und Strategie anzulegen, offen für eine rasche Adaptierung an neue Entwicklungen durch Abwandlung entsprechender oder Einführung neuer Maßnahmen – und offen für eine Weiterentwicklung nach 2018. Dieser Grundcharakter spiegelt sich auch in der Namensgebung des NB-NAP.se wider – und er zeigt sich im kontinuierlichen Commitment des Gesundheitsministeriums, zu einer erfolgreichen Umsetzung des NAP.se im Rahmen des finanziell Möglichen beizutragen.

Bisherige Umsetzung des NAP.se – der Stand bis Ende 2019

Mit Stand Ende 2019 waren 46 Maßnahmen des NAP.se, die sich auf alle 9 Handlungsfelder verteilen, teilweise oder vollständig umgesetzt. Einen zentralen Schwerpunkt hierbei bildeten die Arbeiten zum 3‑stufigen Zentrenmodell in Österreich. Dieses Modell umfasst mit den Begriffen Typ A-Zentrum/Expertisecluster, Typ B-Zentrum/Expertisezentrum und Typ C-Zentrum/Assoziiertes Zentrum 3 Differenzierungsstufen für hochspezialisierte Versorgungseinrichtungen für Patientinnen und Patienten mit einer seltenen Erkrankung, die einerseits die vorhandene Spezialexpertise für seltene Erkrankungen in vielen medizinischen Bereichen in Österreich unter Berücksichtigung der jeweils zur Verfügung stehenden personellen und strukturellen Rahmenbedingungen abbilden sollen und andererseits im Einklang mit den hierfür auch auf europäischer Ebene entwickelten relevanten Qualitätsstandards und -definitionen stehen [3, 4]. Das Expertisezentrum oder Typ B-Zentrum steht dabei im Mittelpunkt des österreichischen Modells und entspricht dem auf europäischer Ebene definierten „Center of Expertise“ des European Committee of Experts on Rare Diseases (EUCERD2; [5]). Zu seinen zentralen Leistungs- und Qualitätskriterien gehören die durch detaillierte Fallzahlen aus den letzten 3 Jahren dokumentierte Leuchtturm-Expertise für eine definierte Gruppe seltener Erkrankungen aus dem Fachgebiet der jeweiligen Einrichtung, die Existenz eines multiprofessionellen Versorgungsansatzes für diese Krankheitsbilder, der dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens und entsprechenden Vorgaben auf EU-Ebene entspricht, und die Verfügbarkeit von mindestens 2 Fachärztinnen bzw. Fachärzten mit vergleichbarer Spezialexpertise für diese Erkrankungen, die zusammen mindestens 75 % ihrer Arbeitszeit ausschließlich diesem Bereich widmen. Mit Spezialexpertise ist dabei ein klinisches Wissens- und Erfahrungsniveau gemeint, dass sich oberhalb jenes grundsätzlichen Wissens- und Kenntnisniveaus bewegt, das für tertiäre Einrichtungen wie Universitätskliniken charakteristisch ist (daher der Begriff des Leuchtturms). Und die Dupli- bis Multiplikation der fachärztlichen Spezialexpertise (es können auch mehr als 2 Spezialistinnen bzw. Spezialisten in diesem Bereich am Zentrum arbeiten) dient nicht nur der ausreichenden Absicherung der ärztlichen zeitlichen Ressourcen (speziell in Urlaubs- und Krankheitszeiten), sondern der langfristigen und nachhaltigen Absicherung des Standorts als solchen.
Assoziierte Zentren oder Typ C-Zentren verfügen ebenfalls über eine derartige Leuchtturm-Expertise für eine definierte Gruppe seltener Erkrankungen, die über entsprechende Fallzahlen belegt ist. Im Unterschied zu Expertisezentren reicht für ein Assoziiertes Zentrum aber das Vorhandensein einer Fachärztin bzw. eines Facharztes aus, die bzw. der nachweislich über die erforderliche Spezialexpertise verfügt. Zudem darf auch das multiprofessionelle Team, das in die Versorgung der Patientinnen und Patienten involviert ist, kleiner dimensioniert sein [3, 4]. Der wesentliche Unterschied liegt also in den personellen und strukturellen Ressourcen, nicht in der Expertise. Allerdings führen diese Abstriche bei den Ressourcen auch dazu, dass Assoziierte Zentren auf gesundheitspolitischer und Versorgungsebene nicht als nachhaltig angesehen und definiert werden. Geht der Experte bzw. die Expertin weg oder scheiden er oder sie aus dem Dienst aus, hört das Zentrum ohne geeignete Nachfolge auf zu existieren.
Expertisecluster oder Typ A-Zentren schließlich bestehen aus einem Zusammenschluss von mindestens 3, besser mehr Expertisezentren (Typ B-Zentren) aus unterschiedlichen medizinischen Fachgebieten – sowie fakultativ weiteren Assoziierten Zentren (Typ C-Zentren) – an einem Ort. Die einzelnen Mitgliedszentren müssen dann 2 Aufgaben erfüllen. Zum einen fungieren sie weiterhin für ihre jeweilige spezifische Gruppe seltener Erkrankungen mit all ihrer Expertise und ihren Strukturen als reguläres Typ B- oder Typ C-Zentrum. Zum anderen sollen sie ihre Expertise in eine übergeordnete Struktur einbringen, die nicht mehr die einzelnen Krankheitsgruppen betrachtet (das geschieht ja bereits auf der Ebene der Einzelzentren), sondern eine neue Dimension der Integration von Expertise über die medizinischen Fachgrenzen hinweg anstrebt und durch den fachgebietsübergreifenden Zusammenschluss des Spezialwissens eine Plattform für die Diskussion und Lösung komplexester Fälle im Bereich der seltenen Erkrankungen, insbesondere jener von Patienten bzw. Patientinnen mit unklarer oder noch völlig fehlender Diagnose, bietet [3, 4]. Kernelemente dieser neuen Plattform könnten beispielsweise die gezielte, personell abgesicherte Einrichtung einer Koordinations- bzw. Anlaufstelle für Patienten und Patientinnen oder betreuende Fachärztinnen und Fachärzte, die Etablierung regelmäßiger gemeinsamer interdisziplinäre Fallkonferenzen (sogenannte SE-Boards) und die Einrichtung gemeinsam genutzter aufwendiger und/oder innovativer Spezialdiagnostiken sein.

Von der Theorie in die Praxis – das Designationsverfahren für Expertisezentren

Die Umsetzung dieses Zentrenmodells startete aus mehreren Gründen bewusst mit der Etablierung eines Designationsverfahrens für Expertisezentren (Typ B-Zentren). Die wichtigsten Gründe hierfür waren folgende: Erstens steht das Konzept des Typ B-Zentrums im Mittelpunkt des Modells. Es ist die einzige Grundkomponente, bei der ein langfristiger Bestand der Einrichtung mit nachhaltiger Finanzierung angestrebt und – soweit dies aus heutiger Sicht möglich ist – gesichert wird. Zweitens stellen Typ B-Zentren auch das zentrale Grundelement zur Bildung von Typ A-Zentren dar – ohne ausreichende Zahl von Typ B-Zentren an einem Standort kann es einen Expertisecluster gar nicht geben. Drittens stellt ein vollständig ausgereiftes und etabliertes Designationsverfahren für Typ B-Zentren anschließend auch eine ideale Matrize für ein analoges, hinsichtlich bestimmter Kriterien abgespecktes und vereinfachtes Verfahren für die Designation von Typ C-Zentren dar; die wesentlichen Ausarbeitungsschritte wären damit schon erledigt und es bedürfte nur noch gezielter Adaptierungen bei den Kriterien wie dem eigentlichen Verfahrensablauf. Und viertens waren Typ B-Zentren seitens der gesundheitspolitischen Ebene schon früh als ein zentrales Bindeglied zwischen der in Österreich vorhandenen Expertise und derjenigen in den Europäischen Referenznetzwerken (ERN)3 vorgesehen [6]. Auf dieser Entscheidung beruht auch die strikte Verknüpfung der nationalen Designation als Expertisezentrum mit der formalen Unterstützung einer Einrichtung durch das Gesundheitsministerium bei seiner Bewerbung um eine Vollmitgliedschaft in einem ERN. Letztere erfolgt nur, wenn eine Einrichtung zuvor national als Typ B-Zentrum designiert wurde bzw. alle wesentlichen Teile des Verfahrens bereits positiv durchlaufen hat.
Die Ausarbeitung des Designationsprozesses erfolgte in 4 in ihrer zeitlichen Umsetzung teilweise überlappenden Phasen und schloss Pilotprozesse und anschließende Adaptierungen und Optimierungen auf Basis der gewonnenen Erfahrungen mit ein. Diese Phasen umfassen erstens die rechtliche Verankerung der seltenen Erkrankungen und des österreichischen Zentrenmodells in der nationaler Gesundheitsplanung durch Integration in den Österreichischen Strukturplan Gesundheit, zweitens die Identifikation interessierter Einrichtungen über ein landesweites, systematisches Mapping-Verfahren mit Information aller Spitalseinrichtungen, drittens die Ausarbeitung sämtlicher Unterlagen für das Designationsverfahren und viertens die Ausarbeitung des konkreten Verfahrensablaufs einer Designation von der Auswahl der Kandidaten für eine Designationsrunde über die Beauftragung eines Verfahrens bis hin zur Gesamtbegutachtung und finalen Beschlussfassung im höchsten Entscheidungs- und Steuerungsgremium im Gesundheitsbereich, der Bundeszielsteuerungskommission. Eine Auswahl der detaillierten Handlungsschritte und der beteiligten Akteure findet sich in Tab. 2.
Tab. 2
Darstellung der zentralen Phasen und wesentlichen Elemente mit den jeweils zugehörigen Handlungsschritten und Akteuren bei der Entwicklung und Implementierung eines nationalen Designationsprozesses für Expertisezentren (Typ B-Zentren) einschließlich seiner Integration in einen nationalen gesundheitsplanerischen Rechtsrahmen
Phasen
Handlungen
Akteur bzw. Akteure
Verankerung von SE in nationaler Gesundheitsplanung
Ausarbeitung eines Entwurfs zur textlichen Integration der SE und des österreichischen Zentrenmodells in das nationale Planungsinstrument ÖSG
NKSE, GÖG, Planungsgremiena
Beschluss der textlichen Integration der SE und des österreichischen Zentrenmodells in den ÖSG
Planungsgremiena, BZK
Identifikation von Kandidaten
Umfassendes Mapping der Expertise für SE in Österreich (Bottom-up-Komponente)
Orphanet Austria (2015)
Einholung und Auswertung von Interessenbekundungen für Designationsverfahren (Bottom-up-Komponente)
Kandidaten, NKSE (2016)
Entwicklung einer Priorisierungsstrategie und erste Reihung von Kandidaten für nachfolgende Designationsrunden
BMG, STP, NKSE (2017 ff.)
Einholung detaillierter Leistungsinformationen von den Einrichtungen mit Interessenbekundung sowie einzelnen weiteren Einrichtungen im Rahmen des Bewerbungsverfahrens für ANZ für ERN
Kandidaten, NKSE (2018/2019)
Zweite Reihung von Kandidaten für nachfolgende Designationsrunden
BMG, STP, NKSE (2019)
Erstellen der Unterlagen für die Designation
Ausarbeitung der spezifischen Leistungskriterien (operationale Kriterien) für Pilotdesignationen (Fragebogen)
NKSE (2016)
Ausarbeitung der Unterlagen für externe Fachgutachter bzw. Fachgutachterinnen (Gutachterbogen)
NKSE (2016)
Ausarbeitung der Unterlagen für die interne Begutachtung durch NKSE
NKSE (2016)
Überarbeitung des Fragebogens nach Durchführung der Pilotdesignationen
NKSE (2017)
Ablauf des Designationsverfahrens
Konsensuelle Vorauswahl von Einrichtungen für die Einleitung eines Designationsverfahrens
BMG, STP, NKSEb
Einholung der Zustimmung der betroffenen Bundesländer (Top-down-Komponente)
NKSEb
Vorstellung in den Gremien der Gesundheitsplanunga (Top-down-Komponente)
NKSEb, Planungsgremiena
Nach Zustimmung der Planungsgremien Einholung der weiteren Zustimmungserklärungenc
NKSEb, Kandidaten
Beschluss zur Einleitung eines Designationsverfahrens, Beauftragung NKSE/NB-NAP.se (Top-down-Komponente)
BZK
Koordination und Durchführung des Designationsverfahrens
NKSE/NB-NAP.se
– Versand und Einholung der Bewerbungsunterlagen (Fragebogen plus Anlagen) einschließlich Feedbackrunden
NKSE/NB-NAP.se mit Kandidaten
– Identifikation, Auswahl und Kontaktaufnahme externe Gutachter bzw. Gutachterinnen
NKSE/NB-NAP.se mit BMG, STP
– Aussendung Bewerbungs- und Gutachterunterlagen an externe Gutachter bzw. Gutachterinnen
NKSE/NB-NAP.se
– Durchführung interne Vor-Ort-Visite mit Erstellung von Teilgutachten
NKSE/NB-NAP.se
– Einholung und Auswertung externer Fachgutachten (inklusive externer Vor-Ort-Visite)
NKSE/NB-NAP.se
– Erstellung eines zusammenfassenden Gesamtgutachtens
NKSE/NB-NAP.se
– Weiterleitung des Gesamtgutachtens an BMG/Planungsgremiena
NKSE/NB-NAP.se
Entscheidungsfindung auf Ebene Planungsgremien, bei Zustimmung Beschluss zur Designation durch BZK (Top-down-Komponente)
Planungsgremiena, BZK
Ausstellung eines Designationsbescheids an die jeweilige Einrichtung
BMG
ANZ Assoziierte Nationale Zentren, BMG Bundesministerium für Gesundheit, BZK Bundeszielsteuerungskommission, ERN Europäische Referenznetzwerke, GÖG Gesundheit Österreich GmbH, NB-NAP.se Nationales Büro für die Umsetzung und Weiterentwicklung des NAP.se, NKSE Nationale Koordinationsstelle für seltene Erkrankungen, ÖSG Österreichischer Strukturplan Gesundheit, SE seltene Erkrankungen, STP Strategische Plattform
aDie Gremien der Gesundheitsplanung, kurz Planungsgremien, stellen eine aus 3–4 Ebenen bestehende, hierarchisch aufsteigende Kaskade von Beratungs- und (Vor‑)Entscheidungsgremien im Bereich der Gesundheitsplanung dar, die mit Vertretern bzw. Vertreterinnen der Bundesländer, der Sozialversicherungsträger und des Gesundheitsministeriums besetzt sind. Höchste und letzte Entscheidungsebene für nationale Belange ist dann die BZK
bAb 2019 ersetzt durch das NB-NAP.se
cZu den weiteren Zustimmungserklärungen gehören diejenigen des Krankenanstaltenträgers, des Kostenträgers (falls abweichend vom Krankenanstaltenträger), der Kollegialen Führung, der Geschäftsführung und, falls es um eine universitäre Einrichtung geht, des Rektorats
Mithilfe dieses in 2 Pilotdurchgängen schrittweise verfeinerten Verfahrens wurden bis Anfang 2020 2 vollständige Designationsrunden, die erste mit 2, die zweite mit 7 Einrichtungen, durchgeführt und abgeschlossen, eine dritte Designationsrunde wurde Ende 2019 mit 9 neuen Kandidaten eingeleitet. Österreich verfügt damit aktuell über 9 Expertisezentren (Typ B-Zentren) für definierte Gruppen seltener Erkrankungen, die 8 medizinische Fachbereiche abdecken4, mit der Aussicht auf 9 weitere Expertisezentren in naher Zukunft, die 2 weitere Fachbereiche hinzufügen werden.
Acht Fachbereiche mit Expertisezentren als Kontakt- und Knotenpunkte in nur 8 der seit 2017 existierenden 24 verschiedenen ERN hätte allerdings eine unzureichende Integration Österreichs in die europäischen Netzwerke dargestellt, ein Problem, das in unterschiedlichem Umfang nahezu alle Mitgliedstaaten mit Österreich teilten. Unter gemeinsamer Führung von Griechenland und Österreich wurde daher in dem den ERN-Prozess begleitenden und mitsteuernden Gremium aller EU- und EEA-Mitgliedstaaten, dem Board of Member States on European Reference Networks (BoMS), von 2017 bis 2018 ein ergänzendes Erweiterungsszenario für ERN erarbeitet und beschlossen, das es den Mitgliedstaaten erlaubt, in ERN, in denen sie nicht mit einem oder mehreren Expertisezentren als Vollmitglieder vertreten sind, eine zweite Ebene der Mitgliedschaft durch sogenannte Assoziierte Nationale Zentren (ANZ) und/oder Coordination Hubs zu eröffnen. Österreich hat bereits 2018 mit der nationalen Umsetzung dieser Möglichkeit begonnen und mithilfe eines aus dem Designationsverfahren für Typ B-Zentren abgeleiteten vereinfachten Verfahrens bis Herbst 2019 42 Einrichtungen als ANZ designiert und der EU-Kommission gemeldet, sodass es jetzt seit Ende 2019 mit insgesamt 49 Einrichtungen in allen ERN vertreten ist (Tab. 3).
Tab. 3
Zusammenstellung aller 24 Europäischen Referenznetzwerke mit Angabe der an den jeweiligen Netzwerken teilnehmenden österreichischen Einrichtungen (linke Spalte) und ihres Designationsstatus in Österreich (rechte Spalte; modifiziert nach Unterberger [7])
Europäische Referenznetzwerke (ERN) und Mitglieder aus Österreich
Designationsstatus in Österreich
ERN BOND (ERN für seltene Knochenerkrankungen)
Expertisezentrum für Knochenerkrankungen, Störungen des Mineralhaushaltes und Wachstumsstörungen (AKH Wien, Orthopädisches Spital Speising, Hanusch Krankenhaus Wien)
EZ
ERN CRANIO (ERN für seltene und komplexe kraniofaziale Anomalien und Hals‑, Nasen‑, Ohrenkrankheiten)
Expertisezentrum für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und kraniofaziale Anomalien (PMU Salzburg)
EZ
Endo-ERN (ERN für seltene endokrinologische Erkrankungen)
Zentrum für pädiatrische Endokrinologie (Klinikum Wels-Grieskirchen)
ANZ
Zentrum für seltene endokrine Erkrankungen (AKH Wien)
ANZ
Zentrum für seltenen Diabetes und kongenitalen Hyperinsulinismus (AKH Wien)
ANZ
Zentrum für Varianten der Geschlechtsentwicklung (AKH Wien)
ANZ
ERN EpiCARE (ERN für Epilepsien)
Expertisezentrum für seltene und komplexe Epilepsien (PMU Salzburg)
EZ
Pädiatrisches Epilepsie-Zentrum Wien (AKH Wien)
ANZa
ERKNet (ERN für seltene Nierenerkrankungen)
Zentrum für seltene Nierenerkrankungen des Kindes- und Erwachsenenalters (Medizinische Universität Innsbruck)
ANZ
Zentrum für Pädiatrische Dialyse und Nierentransplantation/Komplementerkrankungen (AKH Wien)
ANZ
ERN-RND (ERN für seltene neurologische Erkrankungen)
Expertisezentrum für seltene Bewegungsstörungen Innsbruck (Medizinische Universität Innsbruck)
EZ
Zentrum für pädiatrische seltene neurologische Erkrankungen (AKH Wien)
ANZ
ERNICA (ERN für seltene hereditäre und kongenitale Erkrankungen des Verdauungstraktes)
Zentrum für angeborene intestinale Malformationen (Medizinische Universität Graz)
ANZ
Pädiatrisch colorectales Zentrum Linz (Kepler Universitätsklinikum Linz)
ANZ
Zentrum für seltene kolorektale Erkrankungen, Inkontinenz-Erkrankungen und Erkrankungen des Beckenbodens im Kindesalter (AKH Wien)
ANZ
Abteilung für Kinder- und Jugendchirurgie (Sozialmedizinisches Zentrum Ost Wien)
ANZ
ERN-LUNG (ERN für Atemwegserkrankungen)
Zentrum für Pulmonale Arterielle Hypertonie (Medizinische Universität Graz)
ANZa
Cystische Fibrose Zentrum der Medizinischen Universität Innsbruck (Medizinische Universität Innsbruck)
ANZa
Zentrum für pulmonale Hypertension (AKH Wien)
ANZa
Zentrum für seltene Lungenerkrankungen im Kindesalter (AKH Wien)
ANZa
ERN-Skin (ERN seltene und undiagnostizierte Hauterkrankungen)
Expertisezentrum für Genodermatosen mit Schwerpunkt Epidermolysis bullosa (EB-Haus Salzburg)
EZ
ERN EURACAN (seltene solide Tumore des Erwachsenenalters)
Expertisezentrum für Knochen- und Weichteiltumore (Medizinische Universität Graz)
EZ
EuroBloodNet (ERN für hämatologische Erkrankungen)
Zentrum für histiozytäre Erkrankungen für Erwachsene (Ordensklinikum Elisabethinen Linz)
ANZ
Interdisziplinäres Amyloidose-Zentrum der Medizinischen Universität Wien (AKH Wien)
ANZ
eUROGEN (ERN für seltene und komplexe urogenitale Erkrankungen)
Expertisezentrum für seltene kinderurologische Erkrankungen (Barmherzige Schwestern Linz)
EZ
ERN EURO-NMD (ERN für neuromuskuläre Erkrankungen)
Zentrum für neuromuskuläre Erkrankungen Innsbruck (Medizinische Universität Innsbruck)
ANZ
Zentrum für neuromuskuläre Erkrankungen (Preyer’sches Kinderspital Wien)
ANZ
ERN-EYE (ERN für seltene Augenkrankheiten)
Zentrum für Neuro-Ophthalmologie (Medizinische Universität Graz)
ANZ
Klinik für Augenheilkunde und Optometrie (Kepler Universitätsklinikum Linz)
ANZ
Zentrum für erbliche Netzhauterkrankungen (AKH Wien)
ANZ
ERN GENTURIS (ERN für genetisch bedingte Tumor-Risiko-Syndrome)
Zentrum für erbliche Tumorerkrankungen Innsbruck (Medizinische Universität Innsbruck)
ANZ
Zentrum für Neurofibromatose (AKH Wien)
ANZ
ERN GUARD-HEART (ERN für seltene und komplexe Herzerkrankungen)
Kardiomyopathieprogramm Innsbruck (Medizinische Universität Innsbruck)
ANZ
Kinderherzzentrum Wien (AKH Wien)
ANZ
ERN ITHACA (ERN für kongenitale Fehlbildungen und seltene geistige Beeinträchtigungen)
Zentrum für seltene angeborene Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen (Medizinische Universität Innsbruck)
ANZ
MetabERN (ERN für erbliche Stoffwechselstörungen)
Stoffwechselambulanz der Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde Graz (Medizinische Universität Graz)
ANZa
Zentrum für Angeborene Stoffwechselstörungen mit Schwerpunkt Organazidämien, Harnstoffzyklus- und Fettsäureoxidationsstörungen (Medizinische Universität Innsbruck)
ANZa
Zentrum für angeborene Stoffwechselstörungen mit Schwerpunkt Mitochondriopathien (Mitocenter) und lysosomale Speicherkrankheiten (PMU Salzburg)
ANZa
Zentrum für angeborene Stoffwechselerkrankungen (AKH Wien)
ANZa
ERN PaedCan (ERN für pädiatrische Onkologie)
Expertisezentrum für pädiatrische Onkologie (St. Anna Kinderspital Wien)
EZ
ERN RARE-LIVER (ERN für seltene hepatologische Erkrankungen)
Zentrum für seltene Lebererkrankungen (AKH Wien)
ANZ
ERN ReCONNET (ERN für seltene und komplexe Bindegewebs- und muskuloskelettale Erkrankungen)
Zentrum für erbliche und autoimmune Bindegewebserkrankungen Innsbruck (Medizinische Universität Innsbruck)
ANZ
ERN RITA (ERN für Immundefizienzen, autoinflammatorische und Autoimmunkrankheiten)
Universitätsklinik für Neurologie Graz (Medizinische Universität Graz)
ANZ
Zentrum für autoinflammatorische Erkrankungen und Autoimmunopathien (Medizinische Universität Innsbruck)
ANZ
Zentrum für Immundefekterkrankungen (AKH Wien/St. Anna Kinderspital Wien)
ANZ
ERN TRANSPLANT-CHILD (ERN für Transplantation im Kindesalter)
Zentrum für pädiatrische Lungentransplantation (AKH Wien)
ANZ
VASCERN (ERN für seltene vaskuläre Erkrankungen)
Zentrum für vaskuläre Anomalien im Kindesalter (Medizinische Universität Graz)
ANZ
Zentrum für genetische Aortopathien (Medizinische Universität Innsbruck)
ANZ
Abteilung für Kinder- und Jugendchirurgie (Sozialmedizinisches Zentrum Ost Wien)
ANZ
EZ Expertisezentrum (Typ B-Zentrum), ANZ Assoziiertes Nationales Zentrum
aANZ, die sich aktuell in einem laufenden nationalen Designationsverfahren zu einem Expertisezentrum befinden

Die weitere Umsetzung des NAP.se – die Zukunftsperspektiven

Schon eingangs des Beitrags wurde auf das problematische Verhältnis zwischen Zukunftsperspektiven und (politischer) Umsetzungsrealität verwiesen, das umso risikobehafteter ist, je weiter die Perspektive in der Zukunft liegt. Um also beim Blick in die Glaskugel – und nichts anderes sind Zukunftsperspektiven gerade jetzt in Zeiten einer Corona-Pandemie – einerseits die erforderliche Vorsicht walten zu lassen und so keine falschen Hoffnungen und Erwartungshaltungen zu wecken und andererseits dennoch einen Ausblick auf die längerfristigen Perspektiven in der weiteren Umsetzung des NAP.se bieten zu können, untergliedert sich der nachfolgende Abschnitt in 3 Teile: (1) Die kurzfristigen, nahezu gesicherten Perspektiven der nächsten 2 Jahre, (2) die ergänzenden, mittelfristigen Optionen, abgeleitet aus der bisherigen Logik der nationalen und europäischen Entwicklungen, aber noch ohne umfassende Abstimmung mit der Ebene der Gesundheitsplanung, und (3) die langfristigen, noch vagen Optionen, in welche Richtungen eine Weiterentwicklung des NAP.se sinnvoll erscheint, ohne dass es hierzu bislang konzeptionelle Vorgespräche mit den betroffenen gesundheits- und sozialpolitischen Akteuren gegeben hätte.

Zukunftsperspektiven 1 – Die nächsten Schritte auf Basis konkreter Planungen

Handlungsfeld 2 – Medizinisch-klinische Versorgung

Diese konkreten Planungen betreffen die nächsten Schritte in den Handlungsfeldern HF 2, HF 1 und HF 3 (Tab. 1). In HF 2 geht es dabei um die weitere Umsetzung des Zentrenmodells und hier zunächst – mit politischerseits höchster Priorität – um die Fortsetzung und den Abschluss der Designation von Expertisezentren (Typ B-Zentren), basierend auf dem Bewerberkreis, der in den damaligen Mapping-Runden durch Orphanet Austria sein dezidiertes Interesse an einer Zentrumsdesignation bekundet hat (Tab. 2). Der politischen Leitlinie folgend, dass diese Designationsverfahren vor dem nächsten Call für neue Vollmitglieder in existierenden ERN abgeschlossen sein sollen, wurde Ende des vergangenen und Anfang dieses Jahres bereits ein detailliertes Konzept mit konkreten Zeitplanungen für 2 weitere Designationsrunden mit jeweils 10 Zentren erstellt, dessen für März/April vorgesehener Start durch die Corona-Krise ausgebremst wurde. Zu diesem Konzept gehörte – und gehört weiterhin – die Durchführung vorbereitender Diskussionsrunden (intern Roundtables getauft) mit jeweils allen Interessenten für ein definiertes ERN. Denn für diese vierte und fünfte Designationsrunde stellen sich neue Herausforderungen. Es existieren nämlich in praktisch allen Fällen nicht nur mehrere Bewerber pro ERN – dies ist schon in der derzeit laufenden dritten Designationsrunde der Fall –, sondern die Bewerber differieren untereinander in ihrem Leistungsportfolio (gemäß den Angaben aus den ANZ-Bewerbungsbögen und bezogen auf die Basisanforderungen des jeweiligen ERN) in einem Ausmaß, das in vielen, vermutlich sogar in allen Fällen eine Selektion derjenigen Einrichtungen erforderlich machen wird, die ein nachfolgendes Designationsverfahren erfolgreich bestehen können. Diese Entscheidungsfindung kann für betroffene engagierte Spezialisten und Einrichtungen schwierig sein, daher soll sie in einem gemeinsamen, transparenten und offenen Diskussionsprozess wie an einem Runden Tisch (daher Roundtable) unter Berücksichtigung aller Daten und Anforderungen erfolgen.
Die Roundtables sollen darüber hinaus auch als Anstoß dienen, in dieser nicht einfachen Situation die themen- und fachgebietsbezogene Vernetzung der jeweiligen Einrichtungen in Österreich voranzutreiben und auf ein völlig neues Kooperations- und Integrationsniveau zu heben, sodass am Ende, dem Vorbild der französischen „Filières de santé maladies rares“ folgend, innerösterreichische Referenznetzwerke für die einzelnen Fachbereiche entstehen, die wirklich gelebt werden. So könnte auch gewährleistet werden, dass, wenn beispielsweise aufgrund einer mangelnden Erfolgsaussicht auf eine erfolgreiche nationale Designation oder aufgrund neuer Entwicklungen auf EU-Ebene nicht alle Mitglieder eines innerösterreichischen Referenznetzwerks auch Vollmitglieder im zugehörigen ERN werden können, dennoch alle Zentren eine strukturelle Anbindung an und indirekte Integration in das ERN haben. Denn in diesem Fall könnten jenes Partnerzentrum oder jene Partnerzentren, die Mitglieder in diesem ERN sind oder werden, als Brücke zwischen ERN und nationalem Referenznetzwerk fungieren, über die alle Inhalte des ERN an alle inländischen Partnerzentren weitergeleitet und umgekehrt auch die Interessen aller inländischen Partnerzentren im ERN vertreten werden. Dieses Gedankenkonzept folgt dem zentralen Credo bei der Konzeption der ERN, das bisherige System aus Konkurrenz und manchmal auch Konfrontation, von dem kein Patient und keine Patientin je profitierte, abzulösen durch ein System der Koordination und Kooperation.
Die Umstellung des derzeitigen ERN-Konzepts auf ein Modell nationaler Themen- bzw. Fachgebiets-bezogener Referenznetzwerke mit ausgewählten Knotenpunkten in das jeweilige ERN wird angesichts völlig ausufernder Antragszahlen für neue Mitglieder in ERN inzwischen in allen europäischen Mitgliedstaaten auf breiter Ebene diskutiert. Und wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass Europa, will es funktionsfähige ERN erhalten, nicht um diesen Transformationsschritt herumkommen wird. Je früher wir uns in Österreich also mit diesem Thema befassen, desto besser.
Ergänzt werden soll diese Designationsoffensive, so ist der aktuelle Plan, durch die Entwicklung und Ausarbeitung österreichweiter Informations- und Disseminationsstrategien – zum Zentrenmodell im Allgemeinen und zu den konkreten Expertisezentren, den ANZ sowie den ERN im Speziellen. Denn jetzt, nachdem Österreich mit 49 Zentren in allen Netzwerken vertreten ist und über bislang 9 und bald 18 Expertisezentren (Typ B-Zentren) verfügen wird, ist der ideale Zeitpunkt gekommen, um all diese Zentren und ihre Expertiseschwerpunkte landesweit bekannt zu machen und zu bewerben und sie so möglichst nahtlos in die bestehende österreichische Versorgungslandschaft bis hinunter in den niedergelassenen Bereich der Haus- und Fachärztinnen und -ärzte zu integrieren (Abb. 1). Diese Informationsoffensive wird, um sie möglichst effektiv gestalten zu können, über verschiedene Kanäle laufen müssen und ist letztlich eine Aufgabe aller Akteure in diesem Feld.

Handlungsfeld 1 – Abbildung seltener Erkrankungen im Gesundheitssystem

Nachdem die Umsetzung des Zentrenkonzepts in vollem Gange ist, kann nun in HF 1 (Tab. 1) jenes Maßnahmenpaket wieder aufgegriffen werden, dessen Umsetzung eine möglichst umfassende Kodierung von seltenen Erkrankungen in Österreich zum Ziel hat. Hierbei ist vorgesehen, in einem schrittweisen Prozess – zunächst in Expertisezentren (Typ B-Zentren) und anschließend in ANZ – die ergänzende Verwendung der sogenannten Orpha-Codes (eines für die Orphanet-Datenbank entwickelten, sehr differenzierten und praktisch alle Krankheitsbilder im Bereich der seltenen Erkrankungen abdeckenden Kodierungssystems) in der Diagnosen- und Leistungsdokumentation der Kliniken (parallel zum System der ICD-10-Kodierung) einzuführen. Die inhaltlichen Vorarbeiten hierzu, insbesondere die passende Synchronisierung der ICD-10- und Orpha-Codes in einem beide Kodierungsebenen verbindenden elektronischen Masterfile, wurden auf europäischer Ebene im Rahmen eines EU-Projekts (Joint Action „RD-Action“) bereits 2018 abgeschlossen. In Österreich wäre es jetzt erforderlich, die Inhalte dieses Masterfiles in einer nutzerfreundlichen und einfach anzuwendenden Form, ohne signifikanten Mehraufwand für das Klinikpersonal, in die jeweiligen Krankenhausinformationssysteme jener Spitäler und Kliniken zu integrieren, in deren Wirkungskreis Expertisezentren und ANZ angesiedelt sind. Diese Arbeiten sollen schrittweise per Standort erfolgen, beginnend mit ein oder zwei Expertisezentren, die sich freiwillig als Piloteinrichtungen zur Verfügung stellen.

Handlungsfeld 3 – Verbesserung der Diagnostik von seltenen Erkrankungen

In HF 3 (Tab. 1) sollen die bereits begonnenen und weit fortgeschrittenen Arbeiten im Zusammenhang mit einer Verbesserung der Qualitätssicherung in der Labordiagnostik fortgesetzt und zu einem ersten Abschluss gebracht werden. Konkret geht es dabei um die Wiederaufnahme und Fortsetzung der Arbeiten am Konzept der Expertiselabors, in dem – analog zum Modell der Typ A-, Typ B- und Typ C-Zentren in Anhang 3 des NAP.se – ein Leistungs- und Qualitätsstandard für jene hochspezialisierten Laboreinrichtungen definiert werden soll, die spezielle diagnostische Untersuchungen für seltene Erkrankungen anbieten. Im Unterschied zu den klinischen Einrichtungen, für die derartige Standards aus den diversen europäischen Quellen erst zusammengestellt und definiert werden mussten, existiert im Laborbereich mit der medizinisch ausgerichteten Akkreditierungsnorm ISO 15189 bereits ein international etabliertes Qualitätssystem und Prüfverfahren, das mit wenigen Ergänzungen für ein Designationsverfahren für Expertiselabors verwendet werden kann, sodass es hierfür keiner völligen Neuentwicklung in Österreich bedarf. Nachdem es 2018 zunächst einzelne politische Bedenken hinsichtlich des Kosten-Nutzen-Verhältnisses dieser Maßnahme gab, steht der Anwendung der ISO-15189-Norm für ein Designationsverfahren für Expertiselabors inzwischen nichts mehr im Weg, da die Republik Österreich im Rahmen der Umsetzung der In-vitro-Diagnostika-Richtlinie [8] ohnedies verpflichtet ist, alle Laboreinrichtungen gemäß ISO 15189 oder einer vergleichbaren Akkreditierungsnorm zu akkreditieren.

Zukunftsperspektiven 2 – Gedankenspiele auf Basis bisheriger nationaler Überlegungen und rezenter europäischer Entwicklungen

Handlungsfeld 2 – Medizinisch-klinische Versorgung

Mögliche mittelfristige Zukunftsperspektiven im Bereich von HF 2 umfassen 3 Aktivitäten. Zwei davon besitzen eine sehr hohe Umsetzungswahrscheinlichkeit, da sie eine Fortschreibung der Umsetzung des Zentrenmodells und damit einen zentralen Inhalt des NAP.se darstellen. Gemeint sind hier – nach Abschluss der ersten, umfassenden Welle der Expertisezentren (Typ B-Zentren) – die Designation von Assoziierten Zentren (Typ C-Zentren) und die Entwicklung konkreter operationaler Kriterien und eines darauf zugeschnittenen Designationsverfahrens für Expertisecluster (Typ A-Zentren). Denn während für das weitere Vorgehen bei Typ C-Zentren schon viele Dokumente und Verfahrensschritte durch die Entwicklung und Ausarbeitung des Designationsverfahrens für Typ B-Zentren – und die erste Adaptierung dieser Unterlagen für den nationalen Bewerbungsprozess zur Teilnahme als ANZ an dem zugehörigen ERN – vorbereitet sind und nur an die etwas anders gelagerten inhaltlichen, strukturellen und organisatorischen Anforderungen des Typ C-Zentrums angepasst werden müssen, existieren für Typ A-Zentren bislang nur die in Anhang 3 des NAP.se beschriebenen allgemeinen Leistungs- und Qualitätskriterien [4]. In ersten, noch vorläufigen Planungsüberlegungen ist angedacht, bei der Ausarbeitung der konkreten operationalen Kriterien für Expertisecluster möglichst viele der bis dahin gewonnenen Erfahrungen mit existierenden, zumeist selbsternannten, multidisziplinären SE-Zentren in Österreich, aber beispielsweise auch in Deutschland, zu berücksichtigen.
Neben diesem Typ A- und Typ C-Schwerpunkt wird es bei Bedarf und entsprechender Beschlusslage auf der politischen Planungsebene auch weitere Designationsverfahren für Expertisezentren (Typ B-Zentren) für jene Einrichtungen geben, die ihr Interesse an einem Designationsverfahren erst später, d. h. nach der eingangs geschilderten ersten Runde der Interessenbekundungen (Tab. 2), angemeldet haben.
Die dritte mögliche Aktivität im Bereich von HF 2 ist ein neuer Gedanke, der nicht im NAP.se verankert ist, sondern aus Entwicklungen auf europäischer Ebene geboren wurde. Dort wurde mit Etablierung der ersten 24 ERN im März 2017 auch ein Gremium der Netzwerkkoordinatoren (die sogenannte ERN Coordinators Group) eingerichtet, das seither erfolgreich in verschiedenen Arbeitsgruppen gemeinsame Aktivitäten vorantreibt, die für alle ERN gleichermaßen relevant sind. Nach diesem Vorbild wäre die Einrichtung eines primär virtuell operierenden Nationalen Gremiums der Zentrumskoordinatoren anzudenken, das sich initial aus den Koordinatorinnen bzw. Koordinatoren der aktuellen Typ B-Zentren und ANZ (und später dann aus denjenigen der dann designierten Typ B- und Typ C-Zentren) zusammensetzt, ergänzt um jene Patientinnen- und Patientenvertreter aus Österreich, die als sogenannte ePAG’s aktiv an der Arbeit der jeweiligen ERN teilnehmen. Auch die Einbeziehung weiterer zentraler Systempartner könnte angedacht werden. Dieses Gremium, das unter dem Vorsitz des Gesundheitsministeriums stünde, würde nicht nur allen Zentrumskoordinatoren eine Plattform für den regelmäßigen strukturierten Austausch mit den Gesundheitsbehörden bieten und somit auch ihre Leistungen im Feld der seltenen Erkrankungen hervorheben, es wäre auch eine ideale Plattform, um übergeordnete Fragestellungen im Kontext der ERN-Arbeit wie auch im Kontext der nationalen Zentrenarbeit zu diskutieren und so die gesundheitspolitische Ebene mit Informationen zu versorgen, die dann in den Diskussionsprozess mit den anderen Mitgliedstaaten eingebracht werden könnten. Natürlich sind auch weitere Funktionen denkbar, und anlassbezogen könnten und sollten weitere Akteure einbezogen werden. Erste informelle Vorgespräche zur Einrichtung eines derartigen Gremiums hat es auf politischer Ebene bereits gegeben, weiter ist diese Perspektive aber bislang noch nicht gereift.

Handlungsfeld 1 – Abbildung seltener Erkrankungen im Sozialsystem

In HF 1 wäre als mittelfristige Zukunftsperspektive an eine Maßnahme zu denken, die der NAP.se bislang nur sehr kursorisch anspricht, und zwar die Überbrückung der unterschiedlichen Klassifikationssysteme im Gesundheits- und Sozialbereich. Während der Gesundheitsbereich nämlich ein krankheitsorientiertes Klassifikationssystem verwendet (aktuell die ICD 10 [International Classification of Diseases, Version 10] in der letzten Fassung von 2019), kommt im Sozialbereich ein funktionsorientiertes Klassifikationssystem (die ICF [International Classification of Functioning, Disability and Health] in der letzten Fassung von 2005) zur Anwendung. Ohne Bindeglied sind diese beiden Systeme nicht interoperabel, ein Problem, dass sich besonders im Bereich der seltenen Erkrankungen stellt, da hier – aufgrund der häufig multisystemischen und damit viele Funktionsbereiche gleichzeitig betreffenden Erkrankungen – funktionelle Defizite in einem Bereich meist eine gravierendere Auswirkung haben, da sie durch zusätzliche parallele Einschränkungen in anderen Bereichen weniger abgemildert werden können als es bei Patientinnen und Patienten der Fall wäre, die nur unter einem Defizit leiden. Eine mögliche und relativ einfach für Österreich zu adaptierende Brücke würde hier das seit mehreren Jahren von der Datenbank Orphanet gestaltete Projekt „Orphanet disability project“ bieten, in dem für inzwischen 857 seltene Erkrankungen (Stand Ende 2019) spezifische Behinderungsdatensätze und begleitende, medizinisch validierte Erläuterungen entwickelt wurden, die von der ICF-Klassifikation abgeleitet wurden und damit vollständig kompatibel zu dieser Klassifikation sind [9]. Diese Datensätze und begleitenden Erläuterungen müssten in einem ersten Schritt auf ihre Verwendbarkeit im österreichischen System hin analysiert werden. Sollte diese Prüfung erfolgreich verlaufen, sodass keine oder keine umfangreichen Anpassungen erforderlich wären, könnte diese Maßnahme im Prinzip sehr einfach und rasch durch eine entsprechend adaptierte Übersetzung der bereits existierenden Informationen und Datensätze vorangetrieben werden.

Zukunftsperspektiven 3 – Eine Wunschliste für weitere, längerfristige Entwicklungsziele des NAP.se

Die im Folgenden kurz angerissenen, länger- bis langfristigen möglichen Zukunftsperspektiven bei der Umsetzung und Weiterentwicklung des NAP.se fallen in den Bereich der HF 1, HF 2 und HF 4 sowie neu zu definierender HF. Sie stellen ausgewählte präliminäre Vorschläge ohne Anspruch auf Vollständigkeit dar. Angeregt wurden sie entweder durch die Beobachtung sehr überzeugender Aktivitäten und Konzepte in anderen europäischen Ländern oder durch im NAP.se festgelegte Maßnahmen, deren Umsetzung erst in der Endphase der Gesamtimplementierung des Aktionsplans vorgesehen ist. Ob bzw. wann es zu einer Verwirklichung dieser Gedanken kommt, wurde auf der gesundheitspolitischen Ebene noch nicht diskutiert und entschieden.

Einführung eines holistischen Case-Management-Systems in Österreich

Österreich gehört zu jenen Ländern, in denen der Begriff eines Case Managers bzw. einer Case Managerin bislang noch nicht klar definiert wurde, geschweige denn als eigenes Berufsbild festgelegt und anerkannt wäre. Folgerichtig findet sich in den bislang vom NB-NAP.se bearbeiteten Anträgen auf Anerkennung als Expertisezentrum eine Vielzahl unterschiedlich strukturierter und detaillierter Konzepte unter Einbeziehung verschiedenster Personalebenen, wobei nicht selten wertvolle Zeitressourcen bei Ärztinnen und Ärzten gebunden werden. Und ungeachtet des unbestrittenen Engagements all der Kolleginnen und Kollegen kommt diese Koordinationstätigkeit an ihre Grenzen, sobald der rein medizinische Bereich verlassen wird. So wandert die Koordinationsverantwortung fast immer von einem Bereich zum anderen, was zwangsläufig zu Verzögerungen, Ineffizienzen und gegebenenfalls einem „Verlust“ des Patienten bzw. der Patientin führt, der bzw. die sich im System verloren fühlt und aufgibt – alles zusammengenommen das Gegenteil einer vorbildhaften, umfassenden und effizienten Fallkoordination, die die Betroffenen auch in ihrer Eigenverantwortung und ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten unterstützen und stärken soll.
Nun kann man die durchaus berechtigte Frage stellen, ob ein Expertisezentrum wirklich der beste Ort für diesen holistischen Begleitansatz für Patienten und Patientinnen und allfällige Familienangehörige ist, so wie es die Empfehlungen des EUCERD vorsahen [5]. Die zwangsläufige Gegenfrage wäre allerdings: Welcher Ort wäre es dann – und hier lohnt ein Blick über den österreichischen Gartenzaun hinweg nach Norwegen, auf das Konzept der sogenannten Resource Centres [10], die einen ganz anderen, dennoch exemplarischen Lösungsansatz bieten. Denn in einem Resource Centre kommen Patientinnen und Patienten und Familienangehörige mit Erkrankungen, die der gleichen oder von den Anforderungen her einer vergleichbaren Krankheitsgruppe angehören, einmal über einen Zeitraum von 14 Tagen in einer für die verschiedensten medizinischen Anforderungen ausgestatteten Einrichtung zusammen, die alle erforderlichen pflegerischen, therapeutischen und rehabilitativen Möglichkeiten bietet, um sich vollumfassend zu allen gesundheitlichen, sozialen und familiären Aspekten ihrer Erkrankung sowie den dafür verfügbaren staatlichen und anderen Unterstützungsmöglichkeiten zu informieren und zu verstehen bzw. zu lernen, welche eigenen Schritte zur Erlangung all dieser Unterstützungen erforderlich sind und wie man sie in Angriff nimmt. Diese Form des Empowerment der Patientinnen, Patienten und Familien im Umgang mit ihrer Erkrankung – in konzentrierter Form zu einem Zeitpunkt an einem Ort im Sinn des One-Stop-Shop-Modells vermittelt – mag zunächst aufwendig erscheinen, führt aber, wie Ergebnisse u. a. des EU-Projekts „InnovCare“ nahelegen [11], letztlich zu einem besseren Umgang der Betroffenen mit ihrer Erkrankung und zu einer teils deutlich positiveren Bewertung ihrer Lebenssituation und -unterstützung, was ihnen wiederum mehr Kraft zur Bewältigung der vielen Anforderungen verleiht [12].
Eine De-novo-Einrichtung derartiger Resource Centres in Österreich wäre illusorisch, ist aber vielleicht auch gar nicht nötig. Stattdessen sollte man z. B. über die Möglichkeiten zu einer engen, strukturellen Kooperation von geeigneten Reha-Zentren und Expertisezentren (deren Zahl ja weiter steigen wird) nachdenken, die beide jeweils für ihren Bereich große Teile der notwendigen Kernexpertise mitbringen, die derartige Resource Centres auszeichnet. Und Reha-Zentren wären auch die idealen Einrichtungen, um Betroffene und Familienangehörige für 2‑wöchige Intensivschulungen mit begleitender hochspezialisierter Betreuung aufnehmen zu können. Natürlich müssten dann noch entsprechende Expertisen für den sozialen und den (familien-)psychologischen Bereich hinzukommen, doch auch dafür ließen sich sicher geeignete Institutionen und Formen finden.

Evaluationskonzept für designierte österreichische Zentren

Der NAP.se sieht eine Evaluation designierter Zentren, seien es Expertisezentren (Typ B-Zentren), Assoziierte Zentren (Typ C-Zentren) oder Expertisecluster (Typ A-Zentren), 5 Jahre nach ihrer Designation vor, um bei einem positiven Evaluationsergebnis die jeweilige Designation um weitere 5 Jahre zu verlängern. Nachdem das nationale Designationsverfahren zunächst mit Typ B-Zentren begonnen hat, ist es auch dieser Zentrumstyp, für den in wenigen Jahren pilotmäßig ein Evaluationskonzept erarbeitet und umgesetzt werden muss. Um dieses Verfahren so wenig aufwendig und zugleich so evidenzbasiert wie möglich zu gestalten, wird es u. a. darauf ankommen, geeignete, d. h. für die Funktion des jeweiligen Zentrums aussagekräftige, und relativ einfach messbare Indikatoren zu entwickeln, wobei parallele Prozesse auf internationaler Ebene, wie beispielsweise die Entwicklung geeigneter Indikatoren auf EU-Ebene, die ein kontinuierliches Monitoring und eine anschließende Evaluation der Arbeiten und Leistungen der ERN ermöglichen sollen, unbedingt berücksichtigt werden sollten.

Fazit für die Praxis

Wie in vielen anderen Lebensbereichen auch, mahlen die Mühlen bei der Umsetzung des NAP.se langsam. Aber so manchen Unkenrufen zum Trotz, die keine Fortschritte sehen wollen, ist bereits einiges geschehen. Was vor wenigen Jahren noch weitgehend undenkbar schien – eine klar gegliederte und gut sichtbare Versorgungslandschaft geprüfter spezialisierter Zentren für seltene Erkrankungen – ist aktuell schon weit gediehen und wird in den kommenden 2‑3 Jahren seinen vollen Umfang erreichen und damit sein volles Potenzial entfalten. Dann kann auch die Einrichtung der Expertisecluster (Typ A-Zentren) als nächste Stufe der Integration von Expertise in ein übergeordnetes Gesamtkonzept in Angriff genommen werden.
Essenziell wird darüber hinaus die weiter zu optimierende, gelebte Einbindung all dieser Zentren in die existierende österreichische Versorgungslandschaft sein, ein Vorhaben, dessen Erfolg nicht nur von der im Beitrag angesprochenen, über diverse Kanäle zu lancierenden Informationsoffensive abhängen wird, sondern auch von der ebenfalls oben angesprochenen erfolgreichen Einrichtung fach- bzw. themengebietsbezogener nationaler Referenznetzwerke aller spezialisierten Einrichtungen innerhalb eines übergeordneten Themen- oder Fachbereichs.
Und während aktuell die erste Umsetzungsphase des Zentrenmodells noch in vollem Gange ist, öffnen sich jetzt für viele weitere Maßnahmen im NAP.se, die zunächst zurückgestellt worden waren, da sie von einer vorangehenden Zentren-Designation abhängig waren, die Aussichten auf eine zeitnahe, wenn auch weiterhin in kleinen Schritten erfolgende Realisierung.
Der NAP.se, speziell in seiner Kombination aus Plan und Strategie, hat sein Potenzial noch bei Weitem nicht ausgeschöpft und bietet sich – ungeachtet aller nach wie vor bestehenden Probleme im Bereich der seltenen Erkrankungen – auch weiterhin als das geeignetste Instrument an, weitere Lösungsansätze zu entwickeln und umzusetzen. Allerdings ist hierfür die Unterstützung aller Akteure essenziell – es kommt auf jeden einzelnen von uns an.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

T. Voigtländer ist Leiter des Leiter des Nationalen Büros für die Umsetzung und Weiterentwicklung des NAP.se (NB-NAP.se) an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien, das vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz mit der Koordination und Umsetzung sowie Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans für Seltene Erkrankungen (NAP.se) beauftragt ist.
Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Fußnoten
1
Orphanet (www.​orpha.​net), ein Gemeinschaftsprojekt der Europäischen Kommission und zahlreicher europäischer sowie einzelner außereuropäischer Länder, ist die weltweit umfangreichste Referenzdatenbank für praktisch alle Themenbereiche der seltenen Erkrankungen. Der Stammsitz befindet sich am INSERM in Frankreich, während in den Partnerländern nationale Länderteams die lokale Datenerhebung übernehmen.
 
2
EUCERD, ein aus Expertinnen und Experten der verschiedensten Bereiche sowie Vertretern aller Mitgliedstaaten zusammengesetztes Beratungsgremium der EU-Kommission in den Jahren 2011–2013.
 
3
Bei ERN handelt es sich um Zusammenschlüsse von hochspezialisierten Einrichtungen für definierte Gruppen seltener Erkrankungen aus ganz Europa in Netzwerken, die die von ihnen betreuten seltenen Erkrankungen entweder in einem übergeordneten medizinischen Fachgebiet (z. B. ein Netzwerk für seltene Hauterkrankungen), in einem funktionellen Organsystem (z. B. ein Netzwerk für seltene Lebererkrankungen) oder in einer definierten Krankheitspathologie (z. B. ein Netzwerk für seltene Tumorerkrankungen) zusammenfassen.
 
4
Im Fachbereich der seltenen Hauterkrankungen wurden bereits 2 Zentren designiert [7].
 
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Kommission der europäischen Gemeinschaften (2008) Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über seltene Krankheiten – eine Herausforderung für Europa. KOM(2008) 679 endgültig. Kommission der europäischen Gemeinschaften, Brüssel, S 2–12 Kommission der europäischen Gemeinschaften (2008) Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über seltene Krankheiten – eine Herausforderung für Europa. KOM(2008) 679 endgültig. Kommission der europäischen Gemeinschaften, Brüssel, S 2–12
2.
Zurück zum Zitat Rat der Europäischen Union (2009f) Empfehlung des Rates vom 8. Juni 2009 für eine Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten (2009/C 151/02). Amtsblatt der Europäischen Union C 151, S 7–10 Rat der Europäischen Union (2009f) Empfehlung des Rates vom 8. Juni 2009 für eine Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten (2009/C 151/02). Amtsblatt der Europäischen Union C 151, S 7–10
3.
Zurück zum Zitat Ladurner J, Voigtländer T (2015) Nationale und europäische Konzepte zur Bündelung der Expertise für seltene Erkrankungen. Teil 1: Der Nationale Aktionsplan für seltene Erkrankungen (NAP.se). Paediatr Paedolog 50(Suppl 2):66–73CrossRef Ladurner J, Voigtländer T (2015) Nationale und europäische Konzepte zur Bündelung der Expertise für seltene Erkrankungen. Teil 1: Der Nationale Aktionsplan für seltene Erkrankungen (NAP.se). Paediatr Paedolog 50(Suppl 2):66–73CrossRef
4.
Zurück zum Zitat Bundesministerium für Gesundheit (2015) Nationaler Aktionsplan für seltene Erkrankungen NAP.se/2014–2018. Erstellt von der Nationalen Koordinationsstelle für seltene Erkrankungen (NKSE) im Auftrag des Bundesministerium für Gesundheit. Bundesministerium für Gesundheit, Wien, S 1–111 Bundesministerium für Gesundheit (2015) Nationaler Aktionsplan für seltene Erkrankungen NAP.se/2014–2018. Erstellt von der Nationalen Koordinationsstelle für seltene Erkrankungen (NKSE) im Auftrag des Bundesministerium für Gesundheit. Bundesministerium für Gesundheit, Wien, S 1–111
5.
Zurück zum Zitat European Union Committee of Experts on Rare Diseases (2011) EUCERD recommendations—quality criteria for centres of expertise for rare diseases in member states. European Union Committee of Experts on Rare Diseases, Luxembourg, S 2–12 European Union Committee of Experts on Rare Diseases (2011) EUCERD recommendations—quality criteria for centres of expertise for rare diseases in member states. European Union Committee of Experts on Rare Diseases, Luxembourg, S 2–12
6.
Zurück zum Zitat Voigtländer T, Ladurner J (2015) Nationale und europäische Konzepte zur Bündelung der Expertise für seltene Erkrankungen. Teil 2: Konzentration und Vernetzung in Europa: Expertisezentren und Referenznetzwerke. Paediatr Paedolog 50(Suppl 2):74–80CrossRef Voigtländer T, Ladurner J (2015) Nationale und europäische Konzepte zur Bündelung der Expertise für seltene Erkrankungen. Teil 2: Konzentration und Vernetzung in Europa: Expertisezentren und Referenznetzwerke. Paediatr Paedolog 50(Suppl 2):74–80CrossRef
8.
Zurück zum Zitat Europäische Kommission (2017) Verordnung (EU) 2017/746 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über In-vitro-Diagnostika und zur Aufhebung der Richtlinie 98/79/EG und des Beschlusses 2010/227/EU der Kommission. Amtsblatt der Europäischen Union L 117, S 176–332 Europäische Kommission (2017) Verordnung (EU) 2017/746 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über In-vitro-Diagnostika und zur Aufhebung der Richtlinie 98/79/EG und des Beschlusses 2010/227/EU der Kommission. Amtsblatt der Europäischen Union L 117, S 176–332
Metadaten
Titel
Zukunftsperspektiven des Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen
verfasst von
Assoc.-Prof. PD Dr. Till Voigtländer
Publikationsdatum
01.10.2020
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe Sonderheft 3/2020
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-020-00818-w

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