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Erschienen in: Journal für Urologie und Urogynäkologie/Österreich 1/2020

Open Access 01.04.2020 | MKÖ

Würdevolles Altern – neue Technologien, Telemedizin und Ethik

verfasst von: Dozent (PD) Univ. Lektor Dr. Andreas Klein

Erschienen in: Journal für Urologie und Urogynäkologie/Österreich | Ausgabe 1/2020

Zusammenfassung

Würdevolles Altern erscheint in einer Hochleistungsgesellschaft als prekäre Formel, da dies zwar von den meisten Menschen gewollt wird, das Alter(n) jedoch weitgehend mit negativen Attributen versehen wird: Defizite, Mängel, Abbauprozesse, Leistungseinbußen und eine Last für andere und die Gesellschaft. Die positiven Faktoren wie etwa zahlreiche Entlastungen oder Erfahrungssättigung treten hingegen in den Hintergrund. Trotz des Lobs der Vielheit, der Differenz, der Buntheit und der Destandardisierung von Lebensentwürfen bleiben hier ganz bestimmte, kulturell grundierte Leitperspektiven prägend, denen man sich nur schwer entziehen kann. Sowohl ethisch als auch gesamtgesellschaftlich wären kulturelle und individuelle Bewertungsperspektiven auf das Alter(n) kritisch zu reflektieren und alternative Deutungsoptionen einzubeziehen, die Neuorientierungen und Neujustierungen von den Verkrustungen der Perspektiven befreien.
Mittlerweile sind sich bereits alternative Konzepte des Selbstverständnisses älterer Menschen etabliert. Selbstbestimmung und Individualisierung werden eigenständig aufgegriffen und sind nicht länger jüngeren Generationen vorbehalten. Überkommene Rollenverständnisse werden dabei einer kritischen Revision unterzogen und umbesetzt. Dabei verliert Alter überhaupt zunehmend an Differenzierungsrelevanz, weil Menschen mit aufgrund ihrer jeweiligen Bedürfnisse und Interessen im Mittelpunkt stehen und nicht alleine wegen ihres Alters. Dies hat auch die Wirtschaft längst erkannt, wodurch ältere Menschen als interessante und finanzkräftige Adressaten in den Fokus rücken. Längst ist von „golden“ oder „silver agern“ die Rede.
In diesem Kontext spielen auch neue Technologien eine entscheidende Rolle, weil sie Menschen im fortgeschrittenen Alter in ihren neu bestimmten Lebenskonzepten erhebliche Unterstützung und Selbstkontrolle bieten können, insbesondere im Gesundheitsbereich. Sie ermöglichen, grundlegende ethische Prinzipien zu unterstützen, wenngleich neben den Vorteilen auch die Risiken und gesellschaftlichen Transformationen kritisch zu bedenken und zu bewerten sind. Ein kurzer Überblick soll diese Aspekte verdeutlichen und vertiefen.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Altern in Würde! Ein Widerspruch?

Würdevolles Altern bzw. Altern in Würde sind mittlerweile ein häufig gehörtes Motto mit einem entsprechend korrelierten Anspruch. Nichtsdestotrotz scheint sich darin ein enormes Problem, um nicht zu sagen ein gefühlter Gegensatz, aufzutun. Man könnte dies mit dem geflügelten Allgemeinspruch wiedergeben: Jeder möchte alt werden, aber niemand möchte alt sein. Insbesondere in modernen Hochleistungsgesellschaften erscheint Alter(n) geradewegs als anachronistisch, als verdichteter Ausdruck von Leistungseinbußen, Einschränkungen, Abbauprozessen und somit insgesamt als Mangelphänomen. Alter(n) wird nur allzu rasch als Last empfunden, und so möchten auch viele Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter niemandem zur Last fallen. Die Alten möchten die Jungen nicht beschweren und auf ihrem steilen und oft auch harten Weg nach oben nicht aufhalten. Insofern assoziieren zahlreiche Menschen in modernen Gesellschaften das Alter(n) mit weitgehend negativen Attributen, die eben mit Beschwerden, physischen, psychischen und kognitiven Leistungseinbußen, mit Sorgen und Ängsten sowie allgemein mit Verlusten und Beschwernissen einhergehen. Da hilft dann auch die rhetorische Beschwichtigung wenig, dass moderne Gesellschaften gerade auch für die älteren Generationen ein würdevolles Leben mit Qualität zu gewährleisten hätten. Vor dem Hintergrund des oben angeführten Zitats müsste man wohl resümieren, dass man eigentlich nur völlig gesund, intakt und glücklich alt werden möchte. Und diese Perspektive des jungen Alten (in Japan spricht man bereits von den „yolds“) ist tatsächlich eine für viele Menschen (wenn nicht gar für alle) attraktive und anzustrebende Perspektive. Dementsprechend überrascht es wenig, dass die wissenschaftliche Forschung mit Hochdruck daran arbeitet, das Altern überhaupt aufzuhalten oder gar zu beseitigen. Visionäre wie Ray Kurzweil prognostizieren bereits die Realisierung der Unsterblichkeit bzw. des ewigen Lebens – beispielsweise als Hologramm (Project 2045). Das Alter sperrt sich offenbar gegen unsere modernen Vorstellungen eines guten Lebens.
Bei dieser Betrachtung bleibt allerdings unbedacht, dass das Alter(n) auch enorm positive Bezüge bereitstellt. Es bietet zahlreiche Entlastungen und damit Freiräume, etwa vom Druck zur Reproduktion oder Familiengründung mit damit einhergehenden Rückwirkungen auf die Bewertung von Sexualität („sex without reproduction“), die Inanspruchnahme unzähliger Lebensoptionen mit entsprechender Experimentierfreudigkeit, Erfahrungssättigung, Reifeoptionen, emotionale Sattelung und Gelassenheit oder was traditionell als Weisheit des Alters bezeichnet wurde. Für manche Menschen mag es gar eine entlastende Aussicht sein, dass dieses Leben nicht unbegrenzt fortgesetzt werden muss, weil es eben auch unausweichlich mit erheblichen Übeln und Leid verbunden ist. Das Leben muss nicht nur enden, es darf auch enden, ehe es vielleicht zur Hölle auf Erden wird.
Diese Übersicht zeigt, dass die Bewertung des Begriffs Alter(n) unweigerlich durch das jeweilige Umfeld beeinflusst wird. Es hängt von den kulturellen (und geistesgeschichtlichen) Rahmenbedingungen ab, ob Alter(n) eher defizitorientiert oder ressourcenorientiert wahrgenommen wird. Dies offenbart ein (historischer oder aktueller) Blick in andere Kulturen, die unterschiedliche Bewertungsparameter für das Alter(n) zur Verfügung stellen, wie dies etwa teilweise in Asien oder in manchen antiken Kulturen der Fall ist. Dabei ist bereits die Frage alles andere als trivial, was man eigentlich unter Alter und Altern verstehen möchte. Klare Definitionen sucht man vergeblich oder sie sind eben nur innerhalb eines vorgegebenen Rahmens sinnvoll. So kann man sich entweder an ihrerseits wieder sehr divers anzusetzenden biologisch-medizinischen Parametern oder aber auch an (ebenso diversen) kulturellen Faktoren orientieren. Das Alter ist jedenfalls kein fixes Datum in einer Biografie, welches, z. B. gewissermaßen über Nacht, mit dem Einsetzen des Ruhestandes stattfinden würde. Die Möglichkeiten der Differenzierung sind derart umfangreich, dass sich letztlich die prinzipielle Frage stellt, wie leistungsfähig der Begriff des Alters überhaupt ist. Eigentlich macht er nur Sinn, wenn man ihn auf eine ganz bestimmte Fragestellung und Perspektive eingrenzt, also innerhalb eines bestimmten Theorierahmens, der vorab definiert werden muss. Unabhängig davon bleibt er schillernd und vage. Alter(n) ist ein Konstrukt, das vielschichtig interpretiert werden kann. Man könnte auch sagen: Alter ist eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen! Diese Geschichte konstruiert Kinos im Kopf vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Bewertungsmuster. Allerdings sind diese Vorstellungen und Muster leider äußerst veränderungsresistent und darum auch nicht auf Zuruf umzugestalten – so wünschenswert dies eventuell wäre. Sie sind nämlich mit emotionalen Bewertungen auf der Grundlage kultureller Setzungen verknüpft, die wiederum enorm beharrlich sind. Unbestritten aber sind Menschen verantwortlich für ihre Bewertungen, ihre Geschichten und Erzählungen sowie für ihre Sprache – somit konsequenterweise auch für ihr Denken über Entwicklungen und Phänomene, die ihre Existenz betreffen. In diesem Sinne tragen sie auch Verantwortung dafür, inwiefern sie den Prozess des Alterns beurteilen und ob sie für veränderte Bewertungen bereit sind. Geschichten lassen sich nämlich auch anders erzählen, und Bewertungen können modifiziert werden. Die Bereitschaft zu Veränderung ließe Raum für die Optionen von Destandardisierung, von Neuerzählungen und Neubewertungen von Alter(n).

Die „silver society“

Alternativ und doch auch kompatibel mit dem bereits beschriebenen Szenario entwickelt sich seit geraumer Zeit ein gesellschaftlicher Trend zu einer Neujustierung der Perspektive auf das Menschsein im fortgeschrittenen Alter. Man kann sogar von einem Megatrend „silver society“ sprechen. Dieser lässt sich u. a. dadurch charakterisieren, dass ältere Menschen selbst bestimmen, wer sie sein wollen, wie sie sich selbst und ihr Leben betrachten, bewerten und gestalten. Man überlässt diese Einschätzung nicht anderen oder der vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft, sondern übernimmt das Recht auf Selbstbestimmung in die eigene Regie. Damit einher gehen neue Weisen der Selbst- und Sinndeutung, der Emanzipation von scheinbar dogmatisch vorgegebenen Rollen und Interpretationen. Damit bricht die alte aristotelische Frage nach dem sog. guten Leben im fortgeschrittenen Alter neu auf, die nun aber nicht mehr mit Rückgriff auf tradierte Deutungsmuster beantwortet wird. Sich selbst etwa ab einer biografischen Station per se als Großeltern einzukapseln, wird zunehmend obsolet. Vielmehr treten Individualisierung und Selbstheit („selfness“) ins Zentrum, durch die man nach neuen Lebensoptionen Ausschau hält. Es erhebt sich für diese Generation also die Frage, wer man sein möchte – und diese lässt sich auch selbstbestimmt nach eigenem Ermessen beantworten. Hinzu kommt der Umstand, dass ältere Menschen häufig finanziell gut abgesichert sind und somit eine gewisse Unabhängigkeit genießen, was wiederum ein durchaus selbstbewusstes Anspruchsverhalten fördert.
Hieraus entwickelt sich nun ein breites Spektrum von Modifikationen. So verliert in vielerlei Hinsicht der Begriff des Alters überhaupt seine kategoriale Relevanz als Differenzierungsmerkmal. Alter wird von den Betroffenen als herabwürdigend wahrgenommen und daher durch spezifische und individuelle Bedürfnisse ersetzt. Folglich geht es auf Dauer nicht mehr darum, in welchem Alter, sondern bei welchen Bedürfnissen man angekommen ist. Ausdrücke wie „ageless consuming“, „universal design“ für das neu einsetzende „mind-changing“ lassen erkennen, dass man sich intensiver mit den Bedürfnissen älterer Menschen auseinandersetzt. Sie alle zielen darauf ab, was Menschen hier und jetzt brauchen (könnten), und nicht darauf, wie alt sie sind. Dementsprechend werden Worthülsen wie Ältere, Pensionist*innen, Senior*innen, 50 Plus usw. und die mit ihnen verbundenen Angebote schlichtweg als inadäquat zurückgewiesen. Vielmehr etablieren sich (Selbst‑)Bezeichnungen für diese Generation(en) wie „silver ager“, „golden ager“, „best ager“, „free ager“ oder „yolds“. Der sog. Ruhestand mutiert zum Unruhestand, bei dem neue Bewegtheit, Aktivität, Experimentierfreudigkeit und Neugierde statt Passivität dominieren. Alter erfährt damit zugleich eine neue Würdigung, was hoch an der Zeit und begrüßenswert ist. Seit einiger Zeit – um nur ein Beispiel zu nennen – geht „voice of seniors“ geradezu durch die Decke und erzeugt ein neues „mind-setting“, also eine Revolution der Wahrnehmung – und dies bei allen Beteiligten – im Blick auf ältere Menschen. Auf diese wird nun nicht mehr primär als Rollatorgeneration geblickt, sondern als Talentwunder und hochmobile und agile Akteure. Damit treten weitere Aspekte der Selbstbestimmung älterer Menschen ins Zentrum, wie etwa die Suche nach (neuer) Lebensqualität in allen Bereichen, ein sichtbares neues Bewusstsein für Gesundheit (Wellness, Fitnessprogramme, Ernährung, Detox usw.) oder auch der Trend zum „lifelong learning“. Man hat wieder Zeit, neue (Lern‑)Erfahrungen zu machen, diese zu erproben und als „golden mentor“ für jüngere Generationen aufzubereiten und an sie weiterzugeben. Damit entstehen zunehmend attraktive und hochkarätige Fortbildungsangebote (etwa an Hochschulen oder Universitäten) sowie für das Experimentieren mit bislang Unbekanntem. Sinnvolle und anspruchsvolle Tätigkeiten lösen gleichsam den Zwang zu eingefahrenen, traditionellen Rollenverständnissen ab. Auch neue Lebens- und Gemeinschaftlichkeitskonzepte entstehen, wie etwa „co-living“, „home-sharing“ oder ein Bewusstsein für „slow culture“ – jenes positive Schlagwort für eine Entschleunigung des eigenen Lebens in Richtung von mehr Muße. Es geht um das sinnvolle Nützen einer von hoher Qualität erfüllten und verdichteten Zeit, also um: „Carpe diem!“ (Horaz).
Dieser (Mega‑)Trend setzt sich fort in Bezeichnungen wie „downaging“ und „forever youngsters“, durch Aktivität und die Inanspruchnahme unzähliger Angebote, jung und schön zu bleiben. Dabei steht auch Schönheitsoperationen, Verjüngungskuren oder der Selbstoptimierung der eigenen Person nichts ernsthaft im Wege. Fraglich bleibt hier allerdings, ob mit diesen Initiativen tatsächlich eine Würdigung des Alters einhergeht oder nicht eher dessen Verdrängung. Man könnte dies auch als Verweigerung des Altwerdens charakterisieren, statt dessen Annahme. Wie dem auch sei: Es ist eben eine Sache der Selbstbestimmung, die man nicht kurzerhand der Kritik von außen aussetzen darf. In Anlehnung an ein politisches Bonmot könnte man auch sagen: Das Beste aus beiden Welten!
Die Inanspruchnahme vielfältigster (multioptionaler) Angebote einer modernen Gesellschaft macht auch vor der Welt der Digitalisierung nicht halt. Insofern überrascht es nicht, dass ältere Menschen auch die Vorzüge digitaler Optionen entdecken und in die Neugestaltung ihres positiven Selbstbildes integrieren. Ob Informationsangebote im Internet, digitale Hilfsmittel und Geräte (Devices), Apps, E‑Health-Technologien, Smartehomelösungen, Kommunikation und Verbindungen mit allen Arten von „communities“ und Foren im Internet (Konnektivität und Vergemeinschaftung) – alles das sind längst nicht länger Privilegien der jüngeren Generationen, zumal die nachrückenden Jahrgänge dies ohnehin als Selbstverständlichkeit ihres Lebensalltags betrachten. In dieser Hinsicht erfreuen sich ältere Menschen einer unschätzbaren Ressource, die es ihnen ermöglicht, neue digitale Technologien intensiv zu erproben und anzuwenden, nämlich: Zeit. Deren reiche Verfügbarkeit können sie nutzen, um in die digitale Multioptionalität einzudringen – sehr zum Vorteil ihrer eigenen Lebenskonzeption.
Abschließend ist an dieser Stelle auch darauf hinzuweisen, dass sich mittlerweile im Blick auf das Alter weitere Lebensphasenkonzepte ausdifferenzieren. Die „silver society“ wird nämlich von den sog. Hochbetagten unterschieden (also 2 Phasen im Segment des Alters), für die sich allerdings besondere Problemlagen ergeben. Hochbetagte partizipieren und profitieren nicht in gleicher Weise von den zahlreichen genannten Vorzügen, wenngleich auch hier allmählich Entwicklungen zur Verbesserung der Lebensqualität beginnen. Dennoch bestehen hier spezifische Herausforderungen wie besondere Ängste, Altersarmut, Übergang in Pflegeeinrichtungen bzw. manifeste Pflegebedürftigkeit. Damit verbunden ist eine zumindest gefühlte (und in Teilen auch reale) Abhängigkeit durch den Verlust von Selbstbestimmung, von Kontrolle über das eigene tägliche Leben, einhergehend mit der Aufgabe von persönlichem Besitz samt damit verbundenen Erinnerungen und Emotionen u. v. m. Zwischen „silver society“ und Hochbetagten entwickelt sich doch ein (wenn auch sukzessiv eintretendes) Auseinanderdriften, dem nicht ohne Weiteres zu begegnen ist. In diesem Zusammenhang soll im Folgenden auf einige technologische Entwicklungen hingewiesen werden, die für ältere und sehr alte Personen zunehmend positive Aspekte beinhalten.

Neue Technologien als Supportoptionen im Alter

Technologische Entwicklungen und Innovationen durchziehen zunehmend sämtliche Bereiche der Gesundheitsversorgung, wovon selbstredend auch ältere Menschen profitieren. Einschränkend sei jedoch vorausgeschickt, dass zwar eine enorme Anzahl interessanter Projekte und Konzepte ausgetüftelt werden, insbesondere in Start-ups, diese jedoch zu selten den Weg in die breite Umsetzung finden. Dies liegt teilweise auch an den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die solche Konzepte in der Anfangsphase oft unterstützen, sich dann jedoch zurückziehen, ehe die Marktpräsenz erreicht ist. Hier besteht somit eine Kluft zwischen erfolgreichen Konzepten einerseits und allgemeiner Verfügbarkeit andererseits, die dringend geschlossen werden sollte.
Ein knapper und sehr selektiver Überblick soll nun ein paar dieser Optionen und Vorteile illustrieren. Längst in der Bevölkerung angekommen sind digitale Möglichkeiten der Medizin im Bereich der Sensorik und des „tracking“, also das Registrieren und Aufzeichnen von oft lebenswichtigen Daten. Dies geschieht beispielsweise mittels Wearables, also tragbaren Geräten. Deren Funktion besteht im Sammeln, Auswerten, Verarbeiten und Kommunizieren (der Information) von Gesundheits- und Vitalparametern. Generell kann man dieses digitale Monitoring dem Bereich Telemedizin oder, präziser formuliert, der Gesundheitstelematik zuordnen. Ein zentraler Faktor dieser Technologien ist die drahtlose Kommunikation der Daten an geeignete Institutionen, unabhängig von Zeit und Ort ihrer Registrierung. Diese Anwendungen sind vorzugsweise an Apps von Smartphones, Fitnessarmbänder oder Smartwatches gebunden, wenngleich gesundheitsrelevante Sensoren in beinahe sämtliche tragbare Utensilien integriert werden können: Schuhsolen, Wäschestücke (z. B. „smart shirts“), Brillen und dergleichen mehr. Damit behalten die User oder auch das Gesundheitspersonal des Vertrauens stets die Kontrolle über wichtige Körperfunktionen und können bei Bedarf adäquate Interventionen einleiten – und zwar auch aus der Ferne. Mit zunehmendem Fortschritt erheben Sensoren immer umfangreichere Daten. Die letzten Entwicklungen orientieren sich an Armbändern („smart wristband“), die aus dem menschlichen Schweiß metabolische Parameter und Hinweise auf den Elektrolythaushalt gewinnen können. Die aktuelle Apple Watch (Apple Inc., Cupertino, CA, USA) wiederum verfügt bereits über einen Sturzsensor und – nicht minder relevant – über ein vollwertiges (wenngleich nicht medizinisch anerkanntes) Elektrokardiogramm (EKG), das etwa Herzrhythmusstörungen anzeigen kann, um dann sicherheitshalber eine ärztliche Diagnose einzuholen. Diese Funktion ist schon recht erfolgreich im Einsatz. Dem Sensorikspektrum sind kaum Grenzen gesetzt; so werden derzeit z. B. kaum sichtbare digitale Hautpflaster (epidermale Elektronik) oder auch subkutane Optionen beforscht. Mit Letzteren werden unterschiedlichste Materialien erprobt, dank derer selbst Vitalparameter aus dem Körperinneren messbar werden, was eine 24/7-Überwachung ermöglicht. Sensoren in Toilettenartikel, Alltagsgegenständen oder WC-Schüsseln sind konsequente Weiterentwicklungen dieser Konzepte.
Permanente Fortschritte ereignen sich ferner in digitalen Brillen oder Hörgeräten, die sukzessive zu Multifunktionsgeräten mutieren und ihren User*innen zahlreiche Unterstützungen im Alltag bieten: hörbare Übersetzungen von Texten in Sprache für Menschen mit Sehschwäche, Vernetzung mit unterschiedlichen (Smart)homegeräten, Sprachsteuerung, Sturzsensoren, Übersetzungen von oder in Fremdsprachen, Puls- und Temperaturmessung usw. Telemedizinische Methoden ermöglichen darüber hinaus, wie erwähnt, eine Versorgung von Personen (Patient*innen) aus der Ferne, etwa via Displays durch Kontaktnahme zu Gesundheitseinrichtungen (24/7-Videokonsultation) oder Wundversorgung aus der Distanz, digitale Pathologie u. v. m. Überzeugend ist dabei der Ansatz, dass nicht der Patient über viele Wege durch das Gesundheitssystem geschleust werden muss, sondern dass eine Versorgung am Ort des Patienten stattfinden kann („move the system, not the patient“). Überhaupt bieten ausgereifte telemedizinische Optionen eine Vielzahl von Verbesserungspotenzialen für sämtliche Player und Systeme im Gesundheitswesen bis hin zu wünschenswerten (volkswirtschaftlichen) Kostendämpfungen bei höherer Qualität.
Erwähnt sei auch der mittlerweile wachsende Markt der Robotik mit zunehmender Unterstützung durch künstliche Intelligenz (KI), Big Data und „content analytics“ (d. h. eine Analyse komplexer Inhalte oder in extrem großen Datenmengen). Diese hilfreichen künstlichen Systeme eröffnen eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten bis hin zur Früherkennung, Diagnostik und Erstellung von Therapiemaßnahmen, Verhaltensempfehlungen oder einfache Unterstützung in Alltagsbelangen. Dabei zeichnen sich aktuelle KI-Systeme durch Wahrscheinlichkeitsbasierung und die Fähigkeit zum Selbstlernen aus, da sie nicht mehr klassisch programmiert, sondern auf Basis großer Datenmengen trainiert werden. Als „deep learning“, „machine learning“ oder neuronale Netze generieren sie Prognosen aus einer Vielzahl von Daten und werden so zu Entscheidungsunterstützern. Dabei überzeugen sie durch hohe Trefferquoten und v. a. durch ihre Geschwindigkeit. In manchen medizinischen Bereichen (z. B. Radiologie, Dermatologie, Onkologie usw.) sind sie längst etabliert und aus dem Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken. Weiters müsste hier über automatische und personalisierte Medikationssysteme mit Gesichtserkennung gesprochen werden oder über (sogar kultursensible) Pflegeavatare, die sich im Alltag als virtuelle holografische Unterstützungsperson bei Bedarf zuschalten lassen. Diese technischen Visionen könnten zunehmend auch dem AAL(„ambient assisted living“)-Bereich zugute kommen, der älteren und v. a. hochbetagten Menschen ein weitgehend selbstständiges und selbstbestimmtes Wohnen und Leben in den eigenen vier Wänden erlauben soll. Die Liste der Entwicklungen ließe sich nahezu unbegrenzt fortsetzen, wobei dann auf 3‑D-Druck, Exoskelette, Bionik, Neuroenhancement, insbesondere auch auf die Gentechnik und vieles mehr einzugehen wäre.
Weitaus schwieriger ist es allerdings, die ethischen und gesamtgesellschaftlichen Fragen zu erörtern, welche künstlichen Systeme mit welchen Kompetenzen und Entscheidungsbefugnissen ausgestattet werden sollen. Hinzu kommen u. a. die Fragen nach Datenschutz und Datensicherheit, nach internationaler Vernetzung von (Bio‑)Datenbanken und welche Intentionen vielleicht in deren Hintergrund stehen. In diesem Kontext wird auch zu klären sein, welche Entwicklungen man in Zukunft implementieren soll und welche Chancen, Risiken und gesellschaftlichen Transformationen damit einhergehen. Insbesondere muss eine überzeugende und zustimmungsfähige Balance der 4 grundlegenden ethischen Prinzipien erreicht werden, so da sind: Selbstbestimmung, Nichtschaden, Fürsorge und Gerechtigkeit. An diesen Prinzipien und ihrer jeweiligen Gewichtung wird sich zu entscheiden haben, was an Innovationen zu welcher Zeit sinnvoll umzusetzen ist und auf welche Machbarkeiten man (vorläufig) besser verzichtet, weil die damit korrelierten Probleme und Nachteile möglicherweise den Nutzen überwiegen. Jedenfalls kommen gerade auch ältere Menschen in den Genuss dieser Entwicklungen, weil bei ihnen naturgemäß in manchen Bereichen ein erhöhtes medizinisches Erfordernis besteht.
Würdevolles Altern wird sich in Zukunft gewiss noch einmal anders darstellen als bislang gewohnt, weil natürliche Prozesse durch technologische Unterstützung immer mehr an Schicksalshaftigkeit und Schrecken verlieren, während die lebensgestaltenden menschlichen Kräfte in den Vordergrund rücken. Jedenfalls bedeutet würdevolles Alter(n) in Einbeziehung ethischer Prinzipien, dass die jedem Menschen zuerkannte Würde und die daraus resultierenden Rechte und Teilhabeoptionen nicht durch ein bestimmtes Alter oder einen bestimmten Gesundheitszustand reduziert werden, sondern ihnen in einer modernen humanen Gesellschaft auch und gerade zugutekommen. Somit hängt die Würde nicht von bestimmten Leistungen ab, zu denen Menschen im fortgeschrittenen Alter nicht mehr in gleicher Weise fähig sind wie in ihrer Jugend, sondern einfach von ihnen als Menschen und Personen, die sie sind. Die Würde ist leistungsunabhängig und insbesondere für vulnerable Gruppen in besonderer Weise zu schützen. An dieser Nahtstelle leisten technologische Innovationen einen wichtigen Beitrag, die Würde des Alter(n)s derart zu unterstützen, dass Menschen dieser Generation von den genannten 4 ethischen Prinzipien in besonderer Weise profitieren. Damit einhergehend bedarf es zweifelsohne neuer Erzählungen, Konstruktionen und Wahrnehmungsmodifikationen in der Gesellschaft, um Alter aus der negativen Umklammerung zu befreien und ihm eine positive Denkungsart beizulegen. Das Alter und der Umgang mit ihm zeigen einer Gesellschaft immer auch etwas über sie selbst. Es ist ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen. Denn letztlich geht es nicht um das Alter oder das Altern, sondern um die Menschen, denen unsere vorbehaltlose Aufmerksamkeit zu gelten hat.

Fazit für die Praxis

  • Gesellschaftlich ebenso wie individuell muss an Neukonstruktionen von Altersbewertungen gearbeitet werden, um die weitgehend negativen Konnotationen auf das Alter zugunsten alternierender Konzepte aufzubrechen.
  • Dies fällt in einer modernen Hochleistungsgesellschaft besonders schwer, weil sich Alter(n) offenbar quer dazu aufstellt.
  • Menschen im fortgeschrittenen Alter bestimmen aber sich und ihr Leben zunehmend selbst, was ein gesellschaftliches „mind-changing“ begünstigen kann.
  • Zusätzlich erlauben neue Technologien zahlreiche Unterstützungen für das Alter und für Einschränkungen, was die Selbstbestimmung erhöhen und ein Umdenken befördern kann.
  • Die Würde kommt jedem Menschen unabhängig von Alter und Leistung zu und sollte insbesondere für vulnerable Menschen besonders geschützt und gestützt werden.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

A. Klein gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Metadaten
Titel
Würdevolles Altern – neue Technologien, Telemedizin und Ethik
verfasst von
Dozent (PD) Univ. Lektor Dr. Andreas Klein
Publikationsdatum
01.04.2020
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Journal für Urologie und Urogynäkologie/Österreich / Ausgabe 1/2020
Print ISSN: 1023-6090
Elektronische ISSN: 1680-9424
DOI
https://doi.org/10.1007/s41972-020-00097-4

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