Daniel Stögerer erzählt in „Luzia – Kindheit zwischen zwei Kriegen“ die Geschichte eines Kindes, das nach einem Zuhause sucht, zwischen Wien, der Buckligen Welt und dem Weißen Rössl am Wolfgangsee. Der südburgenländische Autor schöpfte aus seiner Familienchronik, eigentlich geht es ihm aber um eine Frage: „Was ist Heimat?“
Wien, 1926: Hunderte warten im Schneetreiben vor den Arbeitsämtern, bei Protesten fallen Schüsse, und schwangere Frauen pilgern heimlich zu einem schäbigen Zinshaus in der Troststraße, um die Dienste einer gewissen Frau Tóth in Anspruch zu nehmen. Diese ist Pflegemutter der achtjährigen Luzia, eines schüchternen Mädchens, das inmitten all jener Unruhen anfängt, nach dem Verbleib ihrer leiblichen Mutter zu fragen.
Ärzte Woche: Ihre Geschichte beginnt mit einer Einordnung in Raum und Zeit: Oktober 1926. Wien Favoriten. Dann sieht Luzia einen toten Sandler, dessen Physiognomie beschrieben wird – „drahtige Brauen“. Und auch der letzte Satz endet mit der Beschreibung eines Mannes, dem Luzia begegnet, einem Hotelgast. „Der Schnauzbart säuberlich gestutzt ...“
Stögerer: Ich denke, dass im realen Leben der erste Eindruck von einem Menschen nicht durch das entsteht, was er sagt, sondern durch den ersten Blick bzw. durch das erste Aufeinandertreffen. Beim Schreiben versuche ich das auszulösen, indem der Leser bzw. die Leserin einen optischen oder einen sinnlichen Eindruck vom Gegenüber bekommt. Da ist z.B. eine Figur, die mit O-Beinen herum läuft – und unbewusst glauben wir, dass man aus solchen Merkmalen schon ein bisschen auf den Charakter schließen kann. Deswegen ist mir das auch wichtig, zusätzlich zu dem, was die Leute sagen und tun, einen optischen Eindruck herzustellen.
Ärzte Woche: Was hat Sie zu Ihrer Erzählung inspiriert?
Daniel Stögerer: In diesem Fall war es ein langes Gespräch mit meiner Großtante, die vom Leben meiner Urgroßmutter erzählt hat. Meine Urgroßmutter war ein uneheliches Kind eines Zimmermädchens im Hotel zum Weißen Rössl am Wolfgangsee. Weil sich ihre Mutter nicht um sie kümmern konnte, hat sie die Luzia zur Pflege hergegeben. Ihre ersten sechs Lebensjahre hat sie in Wien bei Zieheltern verbracht. Als Wien im Zuge der Weltwirtschaftskrise zunehmend unsicherer wurde, sie zu Bauern in der Buckligen Welt weitergereicht worden.
Ärzte Woche: Wie ging es danach weiter?
Stögerer: Ihre leibliche Mutter hat sie immer wieder besucht und ihr versprochen, dass sie sie, wenn sie volljährig und mit der Schule fertig ist, nach Sankt Wolfgang holen wird. Das ist aber nie passiert. Aus Gründen, die dann das Buch verrät.
Ich hab die Geschichte gehört und hab mir gedacht, dass das die ideale Dramaturgie für einen Roman ist. Ich habe dann über die Zwischenkriegszeit zu recherchieren begonnen, in Archiven und bei anderen Nachfahren von Zeitzeugen, und bin dabei auf viele Phänomene gestoßen, die heute topaktuell sind.
Ärzte Woche: Welche zum Beispiel?
Stögerer: Luzia wächst bei einer Engelmacherin auf, also bei einer Frau, die illegal Schwangerschaften abbricht. Schwangerschaftsabbruch war damals illegal. Die Abtreibungen waren unsicher und riskant. Im Grunde ist das heute immer noch ein großes Thema, wenn wir nach Polen oder in die USA blicken. Auch die politische Landschaft ist bis zu einem gewissen Grad vergleichbar, es gab eine Spaltung zwischen links und rechts. Die Vertreter der beiden Extreme konnten nicht mehr miteinander vernünftig reden. Auch wenn die Menschen damals vielleicht gewaltbereiter waren, dieser Mangel an Kompromissbereitschaft erinnert mich schon sehr an die aktuelle politische Situation.
Ärzte Woche: Luzia ist dennoch keine Familienchronik, sondern eine fiktive Geschichte. Wer ist die Hauptfigur Luzia?
Stögerer: Sie ist ein Kind, das nach Zugehörigkeit sucht. Und das in einer Zeit, wo jeder das Wort Heimat auf der Zunge trägt und vom Schutz der Heimat redet, gleichzeitig aber nicht wirklich weiß, was das bedeutet. Heimat ist ein Begriff, der sich kaum definieren lässt. Luzia ist die Figur in der Geschichte, die das größte Verständnis von Heimat entwickelt, weil sie eigentlich die ganze Zeit nach einer Form von Heimat sucht, die sie aber nicht findet. Zuerst bei der Frau Tóth in der Troststraße. Dann wird sie kurz zu ihrer Mutter gebracht, die ihre Tochter in die Bucklige Welt abschiebt, eine Region, wo sie noch nie war. Und letztlich bekommt sie die Chance, den Ort zu sehen, von dem sie sich immer vorgestellt hat, dass das ihre Heimat ist, nämlich St. Wolfgang. Aber dort angekommen, kommt sie drauf, dass sie sich diesen Platz ganz anders vorgestellt hat.
Ärzte Woche: Welche Autoren sind für Ihr Schreiben wichtig?
Stögerer: Ich sehe mich nicht in einer bestimmten Erzähltradition. Arno Geiger ist aber stilistisch ein Autor, der mich sehr beeinflusst hat, sowie Christian Lorenz Müller, der ein Freund von mir ist. Ich bin weniger ein erzählender Autor als ein darstellender. Ich versuche, die Szenen so bildlich und plastisch wie möglich zu schildern, sodass sich der Lesende in dieser fremden Welt mühelos wiederfindet und ein sinnliches Erlebnis hat, wie bei einem Film.