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Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 5/2020

Open Access 09.07.2020 | Originalien

Wer schützt Österreichs Kinder und Jugendliche vor Tabakindustrie und -handel?

verfasst von: J. Berger, Prof. Dr. M. Neuberger

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Ausgabe 5/2020

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Zusammenfassung

Zum Weltnichtrauchertag 2020 ruft die WHO dazu auf, die Jugend vor der Manipulation durch die Tabak- bzw. Nikotinindustrie zu schützen. Bei der Tabakprävention haben Mittel- und Osteuropa Nachholbedarf. In Österreich wurde das Schutzalter erst 2019 auf 18 Jahre angehoben. Danach erhoben wir bei 13- bis 16-jährigen Schülern in 5 Bundesländern (Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Steiermark, Wien) Konsum und Bezugsquellen von Tabak- und Nikotinprodukten. Von 95 % der Stichprobe erhielten wir auswertbare Antworten. Von 1029 Jugendliche gaben 38,4 % zu, schon mit Rauchwaren Erfahrung zu haben (41,6 % der Mädchen und 34,9 % der Jungen), wobei Tabakzigaretten am häufigsten konsumiert wurden, gefolgt von Shisha und E‑Zigaretten. Bezugsquellen sind meist Freunde, aber Mädchen benutzen häufiger auch Automaten (11,6 %), meist zum Bezug normaler Zigaretten, während Jungen verschiedene Tabak- und Nikotinprodukte und das zu 30,2 % in der Trafik kaufen. Im Vergleich zu früheren Studien ist der Anteil täglicher Raucher zwar auf 3,3 % (2,4–4,3 %) gesunken, aber der Anteil der Gelegenheitsraucher ist auf 10,1 % (8,4–12,0 %) gestiegen. Die Raucherprävalenz bei Jugendlichen liegt in Österreich noch immer über dem EU-Schnitt. Dringend nötig wären Testkäufe zur Alterskontrolle in Trafiken, die Abschaffung der Zigarettenautomaten und die Förderung des Nichtrauchens.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
In Teilen Europas beginnen noch immer untragbar viele Jugendliche mit dem Rauchen, und die Rauchanfänger werden immer jünger, weil das Marketing der Tabakindustrie erfolgreicher ist als die Tabakkontrolle. In Österreich gelang es erst am 1. November 2019 die rauchfreie Gastronomie einzuführen, die in Nord- und Westeuropa schon seit 2004 von einer Reduktion der Frühgeburten sowie von einer Abnahme der Hospitalisierungen von Kindern und Jugendlichen wegen Asthma gefolgt war. Das Bewusstsein der Eltern und Erzieher zur Gefährlichkeit des Passivrauchens hatte in diesen Ländern zugenommen und in der Folge nahm Passiv- und Aktivrauchen von Kindern ab. Österreich hinkt dieser internationalen Entwicklung noch hinterher. Statistik Austria fand bei Jugendlichen hohe Raten von Passivrauchern und insgesamt einen deutlich höheren Raucheranteil als im OECD- oder EU-Schnitt.
In der ESPAD-Studie gaben 28 % der befragten 15-jährigen österreichischen Schüler im Februar bis Juni 2019 an, in den vorangegangenen 30 Tagen entweder Tabakzigaretten, Wasserpfeife oder E‑Zigaretten konsumiert zu haben, während die Monatsprävalenz von Tabakzigaretten bei 22 % lag und 12 % angaben, täglich Tabakzigaretten zu rauchen. Die Lebenszeitprävalenz des Konsums von Tabakzigaretten betrug 44 %, von Wasserpfeifen 47 % und von E‑Zigaretten 38 % [1].
Der internationale Trend zur E‑Zigarette als neuer Einstieg in die Nikotinsucht bekam einen Rückschlag, nachdem in der zweiten Jahreshälfte in den USA eine akute Dampferkrankheit (EVALI) zu über 2000 Hospitalisierungen geführt hatte, von denen drei Viertel jünger als 35 Jahre waren. Bis Februar 2020 starben 68 Erkrankte, meist mit bilateralen Pneumonien und ADHS. Nikotin, THC und Vitamin-E-Acetat bzw. das bei der Pyrolyse daraus entstehende Keten scheinen in vielen (allerdings nicht allen) Fällen beteiligt gewesen zu sein, was daran erinnert, dass auch bei uns im Internet Anleitungen zu finden sind, wie man durch „dripping“ illegale Drogen wie Cannabis mittels E‑Zigaretten konsumieren kann.
Gemessen an der Kaufkraft sind Tabaksteuern und Zigarettenpreise in Österreich geringer als in Nachbarländern und es wird für Zigaretten in unzähligen Verkaufsstellen hemmungslos geworben, auch in deren Auslagen und auf Tausenden Automaten, die gern auf Schulwegen platziert werden. Schüler werden mit Waren für Kinder (Hefte, Sticker, Sweets, Softdrinks, sogar Spielzeug) in Trafiken gelockt und sind dort Tabakrauch und Werbung ausgesetzt. Für die Zielgruppe der Kinder werden Trafikanten von ihrer Branche auch über Süßwaren- und Spielzeugmessen informiert. Gratiszigaretten dürfen bei jeder neuen Sorte verteilt werden und die Alterskontrolle beim Zigarettenkauf wird durch keine unabhängige Stelle überwacht (wie das Glücksspiel), sondern durch die Monopolverwaltung, die nur am Umsatz der Trafiken interessiert ist. Zwar haben die Länder seit 01.01.2019 endlich das Schutzalter auf 18 Jahre angehoben, aber die Erkenntnis der Suchtforscher hat sich noch nicht herumgesprochen, dass man die Dealer bei Gesetzesverletzungen bestrafen und ihren jugendlichen Opfern helfen muss. In 4 Bundesländern wurden noch nicht einmal die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, um Testkäufe durch Minderjährige in Trafiken, Supermärkten und bei Tankstellen durchführen zu können, was in westlichen Ländern längst Standard ist, mit Verdoppelung des Bußgelds bei Wiederholung der Gesetzesübertretung und schließlich Lizenzentzug, um Jugendliche vor Nikotinhändlern wirksam zu schützen [2].
Ziel unserer Studie (in Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Steiermark und Wien) war die Erfassung von Einstellung zum Rauchen und Raucherstatus von 13- bis 16-jährigen Schülern nach der Anhebung des gesetzlichen Schutzalters am 01.01.2019. Derzeit werden noch familiäre Einflüsse, schulische Einflüsse und Beziehungen zu Ernährung und Sport analysiert, die in 3 separaten Diplomarbeiten der Medizinischen Universität Wien bearbeitet werden. Die nachfolgenden Ergebnisse sind im Detail in der Diplomarbeit von Julia Berger dargestellt.

Methoden

In 9 Schultypen wurden im Herbst 2019 in zufällig ausgewählten Klassen für 13- bis 16-Jährige zu Beginn einer Unterrichtsstunde Fragebögen an alle anwesenden Schüler verteilt. Von den 1082 durch Medizinstudenten ausgeteilten und anonym von den Schülern ausgefüllten Fragebögen mussten 53 (4,9 %) ausgeschieden werden, weil die Schüler jünger als 13 oder älter als 16 Jahre waren oder das Alter bzw. Geschlecht nicht ausgefüllt hatten. Von 1029 Schülern entfielen auf Neue Mittelschulen (NMS) 15,4 %, Polytechnische Schulen (PTS) 14,9 %, Handelsschulen 5,9 %, Berufsschulen 4,4 %, Handelsakademien 29,6 %, Allgemeinbildende höhere Schulen (AHS) 9,2 %, Höhere Technische Lehranstalten (HTL) 7,9 %, Handelsakademien 29,6 %, Höhere Lehranstalten für wirtschaftliche Berufe 9,5 % und eine Höhere Lehranstalt für Mode und Bekleidungstechnik 3,3 % [3].
Nach Antworten auf 2 Fragen zum Rauchverhalten wurden 4 Gruppen gebildet (Tab. 1).
Tab. 1
Klassifizierung des Rauchverhaltens 13- bis 16-jähriger Schüler und Schülerinnen
 
Jemals Tabak geraucht?
Wie oft rauchst du derzeit?
Nie-Raucher
Nein
Probier-Raucher
Ja
Ich rauche nicht (mehr)
Gelegenheitsraucher
Ja
≤ mehrmals pro Woche
Raucher
Ja
Täglich

Ergebnisse

Die Abb. 1 zeigt, dass 58,4 % der Mädchen und 65,1 % der Jungen (noch) keine Erfahrung mit Tabak hatten. Vom 13. bis zum 16. Lebensjahr nahmen die Nie-Raucher von 66 auf 58 % ab.
Von 395 Fällen mit Tabakerfahrung gaben 381 (96,5 %) ihr Alter beim Erstkonsum an: 4, 5 und 6 Jahre wurden je einmal angegeben; 5,0 % hatten mit 11 Jahren, 11,8 % mit 12, 21,0 % mit 13, 27,6 % mit 14, 22,3 % mit 15 und 4,5 % mit 16 Jahren erstmals Tabak geraucht. Der Mittelwert lag bei 13,3 ± 1,9 Jahren. Mädchen hatten mit 41,6 % schon häufiger (p = 0,028) Rauchwaren probiert als Jungen (34,9 %), aber ihr Rauchbeginnalter unterschied sich nicht signifikant.
Am häufigsten wurden normale Tabakzigaretten konsumiert, besonders von Mädchen (Abb. 2). An zweiter Stelle folgt die Wasserpfeife (Shisha). Jungen konsumieren signifikant häufiger selbstgedrehte Zigaretten, E‑Zigaretten und Lutschtabak und weniger traditionelle Zigaretten als Mädchen.
Ebenfalls mit Mehrfachangaben wurden die in Abb. 3 dargestellten Bezugsorte für Tabak- und Nikotinprodukte genannt. Am häufigsten bekamen die minderjährigen Raucher ihre Rauchwaren von Freunden, besonders die Mädchen. Schon an 2. Stelle stand die Trafik, wo 30,2 % der rauchenden Jungen ihre Rauchwaren kauften. Bei Mädchen waren Familie, Trafik und Zigarettenautomat von gleicher Bedeutung und die zweitwichtigsten Bezugsquellen. Die genannten Geschlechtsunterschiede waren signifikant. Internetkäufe spielen derzeit in Österreich noch eine geringe Rolle, doch ist bemerkenswert, dass 12 von 14 Schülern, die Zigaretten im Internet kaufen, auch einen Konsum von E‑Zigaretten angeben. Die dramatische Zunahme von E‑Zigaretten wie in Nordamerika ist gottlob bei Jugendlichen in Österreich nicht zu sehen, aber mit Aromen versetzte Produkte, die auf den Geschmack von Kindern und Jugendlichen abgestimmt sind, könnten trotzdem noch ein Nikotinproblem der Zukunft werden [4]. Wünschenswert wäre die Streichung von Ausnahmen für Aromen und Verpackungen, die für Kinder und Jugendliche attraktiv sind. Nach den Ergebnissen der vorliegenden Studie am dringendsten wären aber Testkäufe zur Alterskontrolle in Trafiken, die Abschaffung der Zigarettenautomaten, Verbote für Promotion, Sponsoring und Werbung, die auch den Verkaufsort einschließen, eine Erhöhung der Tabaksteuer mit Zweckbindung für Tabakprävention, die Denormalisierung des Rauchens in der Öffentlichkeit und die Förderung des Nichtrauchens. Rauchenden Kindern sollte geholfen und nur die Händler sollten bestraft werden. Seit 20. Mai 2019 lässt sich von jeder Zigarettenpackung (die man Minderjährigen abnimmt) ablesen, aus welcher Trafik sie stammt [5].

Fazit für die Praxis

Erfreulich ist ein leicht abnehmender Trend bei täglich rauchenden Jugendlichen, aber im Vergleich zu früheren Studien war bei Gelegenheitsrauchern eine Zunahme zu beobachten. Dieses Partyrauchen bereitet häufig den Einstieg ins regelmäßige Rauchen vor. Seit 01.11.2019 kann unsere Jugend zwar nicht mehr in Lokalen zum Rauchen und Shisha-Konsum verführt werden und auch Kinder bekommen dort keinen Anschauungsunterricht mehr im Rauchen und Dampfen; trotz Anhebung des Schutzalters von 16 auf 18 Jahre seit 01.01.2019 ist der Jugendschutz vor dem Tabakhandel in Österreich jedoch noch unbefriedigend. Bestraft werden sollten Händler, die Minderjährigen Nikotinprodukte verkaufen und den rauchenden Kindern sollte geholfen werden. Von Zigarettenpackungen, die man ihnen abnimmt, kann schon seit 20.05.2019 abgelesen werden, aus welcher Trafik sie stammen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

J. Berger und M. Neuberger geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diese Studie wurden von den Autoren Prüfungen und Bewilligungen der Bildungsdirektionen aller 5 Bundesländer sowie der Ethikkommission der Medizinischen Universität Wien (EK Nr: 1736/2019) eingeholt.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
Metadaten
Titel
Wer schützt Österreichs Kinder und Jugendliche vor Tabakindustrie und -handel?
verfasst von
J. Berger
Prof. Dr. M. Neuberger
Publikationsdatum
09.07.2020
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe 5/2020
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-020-00813-1

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