Pathophysiologie und klinische Bedeutung
Das Von Hippel-Lindau-Syndrom (VHL), vormals auch als familiäre retinozerebelläre Angiomatose oder zerebelloretinale Hämangioblastomatose bezeichnet, ist eine erbliche Erkrankung, die durch Defekte des VHL-Gens, das als Tumorsuppressor-Gen fungiert, verursacht wird.
Benannt ist die Erkrankung nach dem Göttinger Ophthalmologen Eugen von Hippel (1867–1939) und dem schwedischen Pathologen Arvid Lindau (1892–1958), die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals Angiome des Auges und des Rückenmarks beschrieben.
Die Ausprägung der Erkrankung ist zwischen Frauen und Männern nicht unterschiedlich, wird aber in Abhängigkeit von den durch die jeweiligen pathogenen VHL-Varianten (Mutationen) bedingten Effekten determiniert und weist daher eine hohe Variabilität auf. Im Laufe der Erkrankung (meist erst ab dem 6. Lebensjahr) entwickeln sich benigne wie auch maligne Tumoren, zum Beispiel Hämangioblastome des Gehirns, des Rückenmarks und der Retina, ebenso Zysten in Nieren, Pankreas und breiten Mutterbändern, klarzellige Nierenzellkarzinome, Phäochromozytome und/oder Paragangliome, neuroendokrine Tumoren oder endolymphatische Sack-(Felsenbein‑)Tumoren des Innenohrs. Die richtige klinische Diagnose wird daher oft erst nach der Entwicklung mehrerer Symptome nach einem längeren Zeitraum gestellt.
Eine molekulargenetische Analyse kann daher betreffend frühzeitiger Bestätigung/Ausschluss der Erkrankung sehr hilfreich sein, insbesondere bei Anverwandten von Indexpatienten, wenn bei Letzteren bereits eine mit der Erkrankung assoziierte pathogene
VHL-Variante nachgewiesen wurde [
1‐
6].
Symptomatik, klinische Diagnostik und Klassifizierung verschiedener VHL-Typen
Von zentraler Bedeutung ist die interdisziplinäre Betreuung der Patienten, wobei bereits die Durchführung eines umfassenden Untersuchungsprogramms als Voraussetzung einer rechtzeitigen und erfolgreichen Therapie eine Herausforderung darstellt.
In Tab.
1 ist die Häufigkeit verschiedener Tumoren bei VHL angegeben [
5,
6], aus der ersichtlich ist, dass eine große Schwankungsbreite vorliegt, wobei zudem Anzahl, Größe und genaue Lokalisation der Tumoren, die die Schwere der Erkrankung maßgeblich beeinflussen, nicht berücksichtigt sind.
Tab. 1
Häufigkeit von Tumormanifestationen bei VHL
Auge | Netzhaut-Angiome | 15–73 |
Großhirn | Hämangioblastome | 1–7 |
Kleinhirn | Hämangioblastome | 35–79 |
Hirnstamm | Hämangioblastome | 4–22 |
Rückenmark | Hämangioblastome | 7–53 |
Niere | Nierenzellkarzinom | 5–86 |
Nierenzysten | 10–89 |
Nebenniere/Paraganglien | Phäochromozytome | 0–32 |
Pankreas | Zysten | 15–35 |
Neuroendokrine Tumore | 1–17 |
Innenohr | Tumoren des Endolymphsacks | 3–16 |
Nebenhoden/breite Mutterbänder | Zystadenome | 3–32 |
Bei VHL von einer typischen klinischen Symptomatik zu sprechen, ist schwierig, da Letztere durch die jeweiligen Tumormanifestationen geprägt ist. Hämangioblastome können je nach Lokalisation mit Kopfschmerz, Ataxie und Gangunsicherheit (ZNS, Kleinhirn, Hirnstamm und Rückenmark) oder beispielsweise mit Einschränkungen des Sehvermögens, Netzhautablösung, Makulaödem oder Glaukom (Auge, Retina) einhergehen.
Phäochromozytome können durch Blutdruckspitzen charakterisiert sein, die seltener zu beobachtenden endolymphatischen Sacktumoren mit Einschränkungen des Hörvermögens verbunden sein.
Historisch/Traditionell wurde auch zwischen folgenden VHL-Typen unterschieden:
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Typ 1: VHL (Familien) mit weitestgehendem Fehlen von Phäochromozytomen
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Typ 2: VHL (Familien) mit dominierendem Vorkommen von Phäochromozytomen
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Typ 2A: VHL (Familien) wie Typ 2 mit weitestgehendem Fehlen von Nierenkarzinomen
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Typ 2B: VHL (Familien) wie Typ 2 mit häufigem Auftreten von Nierenkarzinomen
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Typ 2C: VHL (Familien) mit dominierendem Auftreten von Phäochromozytomen, aber Fehlen aller anderen Organmanifestationen
Differenzialdiagnostisch abzuklären sind
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Multiple endokrine Neoplasie
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Neurofibromatose
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Polyzystische Nierenerkrankung
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Tuberöse Sklerose
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Birt-Hogg-Dube-Syndrom
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Hereditäre Phäochromozytom-Paragangliom-Syndrome
Diagnostische Kriterien für eine VHL-Verdachtsdiagnose [1‐6]
Genetische Diagnostik [2, 7‐14]
Ist die VHL-Diagnose klinisch gesichert, können in mehr als 95 % der Patienten pathogene
VHL-Varianten gefunden werden, die zu ca. 50–60 % Missense- und 7–11 % Nonsense-Mutationen, zu 12–20 % Mikrodeletionen und Insertionen und zu 20–30 % große Deletionen darstellen [
6‐
9]. Die Genotyp-Phänotyp-Korrelation bezieht sich hauptsächlich auf das Vorhandensein/Fehlen von Phäochromozytomen, hat aber derzeit für die Diagnostik und Therapie keine Relevanz.
Von besonderer Bedeutung ist eine molekulargenetische Diagnostik in frühen Stadien der Erkrankung, in denen die Symptomatik noch nicht so stark ausgeprägt ist, bzw. wenn bei geringer Symptomatik eine positive Familienanamnese vorliegt bzw. eine mit der Erkrankung assoziierte pathogene VHL-Variante in anderen Familienmitgliedern bereits nachgewiesen wurde. Ab welchem Alter eine prädiktive Diagnostik sinnvoll ist, wird unterschiedlich diskutiert.
Von Bedeutung hierbei ist, dass Anlageträger in ein entsprechendes, natürlich auch dem Alter angepasstes (bereits ab dem 5.–6. Lebensjahr) regelmäßiges Screening eingebunden werden, das biochemische wie auch bildgebende Verfahren beinhaltet. Damit soll gewährleistet werden, dass die mit der Krankheit assoziierten Tumoren bereits in einem sehr frühen bzw. noch asymptomatischen Stadium erkannt werden und entsprechend behandelt werden können.
Vererbung und Häufigkeit
Das 1993 erstmals klonierte und auf Chromosom 3p25.3 lokalisierte und drei Exone aufweisende VHL-Gen kodiert für das VHL-Protein, das als Teil eines Ubiquitin-Ligase-Aktivität besitzenden Proteinkomplexes für die Degradation bestimmter Transkriptionsfaktoren verantwortlich zeichnet.
VHL (OMIM 193300; ORPHA:892) tritt mit einer Häufigkeit von ca. 1:36.000 auf und kommt typischerweise familiär gehäuft vor. Der Erbgang ist autosomal dominant, sodass für direkte Nachkommen eines VHL-Patienten eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit besteht, die auch beim Indexpatienten detektierte für VHL kausale pathogene Genvariante zu erben.
Da die Penetranz sehr hoch ist, entwickeln beinahe alle Träger pathogener VHL-Varianten bis zu ihrem 65. Lebensjahr eine einschlägige Symptomatik.
Bislang sind bereits um die 1000 verschiedene
VHL-Mutationen bekannt und aus Datenbanken abrufbar. 20 % der VHL-Patienten weisen die pathogenen
VHL-Varianten
de novo auf, 80 % der Patienten haben die pathogene Variante von einem Elternteil geerbt. Letztere sind entweder ebenfalls von der Krankheitssymptomatik betroffen oder können aufgrund von Keimbahnmosaiken auch ohne klinische Symptomatik sein [
6‐
9].
Indikationen für eine molekulargenetische Diagnostik
Eine molekulargenetische Diagnostik kann helfen, eine Verdachtsdiagnose zu bestätigen oder sie auszuschließen bzw. ist auch für die Differenzialdiagnostik von Bedeutung.
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Verwandte 1. Grades eines Familienmitglieds mit nachgewiesener pathogener Variante
Genetische Beratung und Implikationen bei genetischer VHL-Diagnostik
Bevor eine humangenetische Analyse durch einen Facharzt für Humangenetik oder einen für das Indikationsgebiet zuständigen Facharzt veranlasst und im Labor durchgeführt wird, ist der Patient entsprechend aufzuklären und zu beraten. Diese Beratung muss dokumentiert werden, und der Patient hat der Analyse schriftlich zuzustimmen. Das Ergebnis der genetischen Analyse muss in schriftlicher Form mitgeteilt und mit einer genetischen Beratung abgeschlossen werden. Der Patient kann die Zustimmung zur Durchführung der Analyse bzw. zur Mitteilung des Ergebnisses zu jedem Zeitpunkt und ohne Angabe von Gründen widerrufen. Bei humangenetischen Analysen des Typs 2 und 3 darf die Dokumentation der humangenetischen Befunde in der Krankenakte nur mit Zustimmung des Patienten erfolgen.
Methodik und Interpretation genetischer Befunde
Methodik
Liegt ein entsprechender klinischer Verdacht auf einen bestimmten Typ von VHL vor oder soll eine prädiktive Analyse durchgeführt werden, sind betreffend Methodik verschiedene Vorgehensweisen möglich:
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„Gene-targeted testing“ (Einzelgen- oder Multigen-Panel-Analyse)
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„Comprehensive genomic testing“ (Exom‑, Genomsequenzierung)
Die Einzelgenanalyse beruht meist auf einer PCR-basierten Sequenzanalyse zur Detektion von einzelnen Nukleotidsubstitutionen (Missense‑, Nonsense‑, Frameshift-Mutationen), die Panel-Analyse erfasst eine Reihe bestimmter verschiedener Kandidatengene (meist vom Anbieter der Analysen vorgegeben), während bei der Exom- bzw. Genomsequenzierung alle Protein-kodierenden Bereiche oder das gesamte Genom sequenziert werden.
In Abhängigkeit von der klinischen Symptomatik kann es sinnvoll sein, den möglichen Gendefekt im Rahmen einer Einzelgenanalyse (Sanger-Sequenzierung) abzuklären. Bei negativem Ergebnis können auch weitere Einzelgenanalysen für andere in Betracht kommende Gene vorgenommen werden oder eine Multigen-Panel-Analyse, eine Exom- oder Genomsequenzierung durchgeführt werden [
15]. Für die Erfassung von größeren Deletionen wird üblicherweise eine MLPA-Analyse (Multiplex Ligation-dependent Probe Amplification) vorgenommen.
Die Information über Art und Menge des für die Analyse notwendigen Probenmaterials ist bei den jeweiligen Laboratorien einzuholen.
Interpretation – genetische Beratung
Bei der molekulargenetischen VHL-Diagnostik muss in Betracht gezogen werden, dass das Ergebnis der genetischen Analyse, insbesondere wenn Gen-Panel-Untersuchungen, Exom- oder Genomsequenzierungen durchgeführt werden, auch mit Zusatzbefunden (pathogene Varianten in mehreren Genen) und unerwarteten zusätzlichen Diagnosen verbunden sein kann.
Ebenso können im Rahmen der oben angeführten Analysen vermehrt Genvarianten detektiert werden, die nicht eindeutig als pathogene oder benigne Varianten klassifiziert werden können, sondern als Varianten unbekannter Signifikanz (VUS) eingestuft werden müssen. Letztere Varianten sind daher betreffend klinischer Relevanz nicht interpretierbar. Weiters ist es auch möglich, dass sich die Klassifizierung einiger Varianten mit Fortschreiten des Wissens und der Weiterentwicklung der Methodik ändert [
15,
16].
VHL mittels Exom- oder Whole-Genome-Sequenzierung zu testen, ist daher für die Interpretation der Analysenergebnisse und die nachfolgende genetische Beratung der Patienten durchaus immer noch herausfordernd und bedarf einer guten Kenntnis der komplexen molekulargenetischen Begriffe und Zusammenhänge.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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