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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 3/2023

Open Access 08.05.2023 | Psychiatrie

Versorgungswirksamkeit von Psychotherapie aus Patient:innensicht

„Was hilft wem, wann, wie, in welchem Kontext?“ – Informationspflicht gefordert!

verfasst von: Univ. Prof. Dr. Henriette Löffler-Stastka, Simeon Hassemer, Karl Krajic

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Ausgabe 3/2023

Zusammenfassung

Zum Thema der Versorgung mit Psychotherapie sind Informationen über das Ausmaß des Behandlungsbedarfs und des Behandlungserhalts wesentlich. Da oft nur ein Teil der psychisch Kranken die entsprechenden Behandlungen erhält, wurde die Sicht der Betroffenen zum Thema der psychotherapeutischen Versorgung erhoben. Deutlich wurde eine fehlende Transparenz, der aus Behandler:innensicht mit einer adäquaten, patient:innenzentrierten Information und Aufklärung in der tragfähigen Arbeitsbeziehung gegengesteuert werden sollte.
Hinweise
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

In Österreich werden zunehmend dynamisch-kritische Knappheiten in der Versorgung psychisch Erkrankter, Gefährdeter, Genesender und chronisch kranker Personen mit psychotherapeutischen Behandlungen und in deren Zuweisungsmanagement beobachtet.
Die Strukturen und Prozesse des Krankenbehandlungssystems und seiner Umwelten lassen sich in Mikro‑, Meso- und Makro-Ebene unterscheiden. Es ist anzunehmen, dass auf den unterschiedlichen Ebenen auch unterschiedliche Problembeschreibungen und -lösungen prozessiert und kommuniziert werden. Erste Sichtungen von Dokumenten deuten aber auch darauf hin, dass die Qualitäten der Psychotherapieversorgung auch innerhalb der Makro-Ebene vor dem Hintergrund jeweiliger Referenzsysteme unterschiedlich beschrieben und bewertet werden. Diese Kommunikationen betreffen etwa die Gestaltung von Rahmenbedingungen in Form von Gesetzen und Gesetzesreformen, zentralen Vertragswerken, Abrechnungssystemen, Management von Ressourcen bzw. Investitionen in Infrastrukturen, aber auch Berufsbildpolitiken und Öffentlichkeitsarbeiten. Auffällig ist insbesondere die fehlende Patient:innenperspektive.

Relevanz

Der Bedarf an Psychotherapie liegt über 20 %. Psychotherapeutische Hilfe wird aktuell von 3 % der österreichischen Bevölkerung in Anspruch genommen. Davon werden 1,5 % durch Psychotherapeut:innen behandelt und 1,5 % durch Ärzt:innen (mit Ausbildung in psychotherapeutischer Medizin). Psychotherapeut:innen in freier Praxis versorgen zu 26,1 % schwere und zu 43,8 % mittelgradige Störungen. Bekannt ist ebenso, dass ein deutlicher Mangel an Möglichkeiten zur biopsychosozial vernetzten Betreuung in einer geschlossenen Versorgungskette mit individuell abgestimmten Therapien in Dosis und Zeit besteht. Eine gut abgestimmte multiprofessionelle Zusammenarbeit unter Beachtung und Kenntnis der unterschiedlichen Kompetenzen ist erforderlich. Auch hier fehlt immer wieder die Patient:innenperspektive.
Expert:innenperspektiven kommen wenig im Diskurs vor
Psychotherapieversorgung wird in ihrer Funktionserfüllung im Krankenbehandlungssystem zwar thematisiert, ebenso gilt mentale Gesundheit als hohes Gut, jedoch kommen betroffene Expert:innenperspektiven aus dem System und ihren relevanten Umwelten wenig im Diskurs vor.

Gegenmaßnahme

Eine aktuelle Studie und Befragung, i. e. eine qualitative Interviewstudie in zyklischem Forschungsdesign, nimmt dies zum Anlass, eine vergleichende Analyse zur Problem(lösungs-)strukturierung durch verschiedene professionelle und institutionelle Perspektiven, die an der Situationsgestaltung der Versorgung mit Psychotherapie und den betreffenden Strukturen und Prozessen des Krankenbehandlungssystems beteiligt sind, vorzunehmen. Insgesamt interessierte uns die Strukturierung des Expert:innenwissens, das an der Gestaltung von Rahmenbedingungen und Evaluationen der Mikro- und Meso-Ebene beteiligt ist. Die zentralen Forschungsfragen waren dabei, wie Patient:innen die Ausdifferenzierung der Psychotherapieversorgung bewerten, was sie als hinderlich oder förderlich attribuieren, wie sie Konsequenzen etwaiger Probleme bewerten und schließlich, welche Lösungen sie zur Erfüllung des Bedarfs von psychotherapeutischer Versorgung forcieren würden.
Methodisch wurde eine Kombination aus Dokumentenanalysen und Patient:inneninterviews genutzt [1, 3]. Die Auswertung schließt an den Vorschlag einer komparativen Analysestrategie von Meuser und Nagel [2] an. Es besteht insgesamt ein eingeschränkter Generalisierungsanspruch, da die derzeitige Auswertung analytisch auf die Makro-Ebene beschränkt ist.

Ergebnis

Eine Betroffenenperspektive

In der betreffenden Perspektive ist das Thema der Versorgungswirksamkeit unmittelbar mit der Darstellung als Laie bzw. des Nichtwissens als Selbstzuschreibung verknüpft („Da weiß i zu wenig ja“) sowie der Zuweisung des Themas an eine Betroffenenperspektive, die im Kontext des Dachverbands der Betroffenenbewegung verortet wird.
Vor diesem Hintergrund wird in der Perspektive die Frage dramaturgisch, ironisierend eröffnet, ob es einen Bereich gebe, wo die Versorgung nicht mangelhaft sei („gibt’s Bereiche wo sie nicht mangelhaft ist na also also es ist nix bekannt wo es hinhaut so“). Derart wird eine Problemsicht entfaltet, in der eine Situationsbeschreibung der Krankenversorgung durch bereichs- und settingbezogene Versorgungsprobleme als Deutungsschema von Versorgungswirksamkeit inadäquat ist. Die Erscheinung der Inadäquatheit der Problembeschreibung, versorgungswirksam, wird in der Perspektive aber nicht nur expressiv in der Qualität von Versorgungsangeboten („mangelhaft“) thematisiert. Auch der Ausdruck der „Versorgung“ wird in der Perspektive problematisiert, der als Kategorie mit der Pflege von Pensionierten assoziiert wird. Dagegen ist es wichtig, die Veränderbarkeit des Zustands normativ hervorzuheben („die Leute sollen ja selbstständig werden ja und nicht versorgt werden“). Thematisiert werden insofern der richtige Umgang und das richtige Verständnis (im Unterschied zum „Vegetieren“) von chronischen, psychischen Erkrankungen und Erkrankten.
Im Anschluss wird in der Betroffenenperspektive problematisiert, wie schwer es ist, bei Entscheidungsträger:innen Verständnis zu generieren („Die wollen damit nix tuan haben schwierig schwierig schwierig“). Die schwierige Verständnisgenerierung wird in einem Zusammenhang mit der fehlenden Bereitschaft zur Finanzierung eines flächendeckenden Psychotherapieangebotes als Krankenbehandlung und langen Wartezeiten gesehen. Die Betroffenenvertretung ist in diesem Kontext auf einzelne informelle Bekanntschaften mit Entscheidungsträger:innen angewiesen, die vertrauensvoll und „empfänglich für die Belange“ sind, was kleine Erfolge und Handlungsmöglichkeiten schaffen kann. „Durch den Kontakt mit (…) [einer Politikerin] ist es gegangen aber und da war nicht viel drinnen aber man konnt ein bissl jonglieren und kleine Wege finden ja aber ohne des, ohne kennen und vertrauen, da gibt’s nix“.
Zugang zu Angeboten wird im Wesentlichen auf die eigene Krankengeschichte bezogen
Das Thema der Bereitschaft wird in der Betroffenenperspektive mit dem Thema des Lobbyierens verknüpft. Hier sind zwar die Einflussmöglichkeiten gering, aber es besteht für die Betroffenenvertretung ein legitimer Anspruch, Probleme zu äußern. Der legitime Anspruch grenzt sich etwa von demjenigen der Berufsgruppen und ihrer Interessen ab, mit denen Allianzen möglich sind („Die Ärzte die sich dafür einsetzen die stehen ja auch oft an und san Bittsteller fürn größeres Budget, und ja und wir können halt sagn, eigentlich ist Politik für uns da, nicht wir für die, ein Arzt oder Dienstnehmer kann das nicht sagen aber wir“).
Das Lobbyieren als Betroffenenarbeit wird als Langzeitprojekt antizipiert („Steter Tropfen höhlt den Stein“), das mit vielen Frustrationsmomenten verknüpft ist. Im unmittelbaren Gesprächskontext äußern sich diese Frustrationsmomente etwa in der Problemwahrnehmung der Nichttätigkeit hinsichtlich bekannter (etwa mehrfach durch den Rechnungshof beschriebener) Versorgungsprobleme, die von einem Lobbythema zu einem Thema des Beschwerdemanagements fabriziert werden („wir werden uns drum kümmern, aber tatsächlich passiert nix“). Im mittelbaren Gesprächskontext wird dieser Aspekt auch als Belastung gefasst, die in Verknüpfung mit der eigenen Krankengeschichte und der Fremdbeobachtung anderer Betroffener mit der Instabilität als Akteur in der Betroffenenorganisation gesehen wird („Von den Betroffenen die san auch nicht immer stabil und die die nicht mehr instabil sind die san dann weg weil die san froh dass sie da nix mehr zu tun haben“).

Diskussion

Auffällig ist, dass das Thema, wie der Zugang zu Angeboten organisiert ist/sein sollte, nicht im Kontext von Versorgungswirksamkeit thematisiert wird, sondern im Wesentlichen auf die eigene Krankengeschichte bezogen wird, die einen Beurteilungsmaßstab bzgl. des Zugangs entfaltet. Dabei werden im Besonderen Angehörige, finanzielle Selbstständigkeit und der Zugang zur Frühpension als Ressourcen betrachtet, um Versorgungsangebote zu erreichen. Wichtig wären aus der Betroffenenperspektive auch psychosoziale Begleitpersonen, die mit einem Berufsrecht und entsprechender Ausbildung ausgestattet wären.
Ignoranz von Themensetzungen fordert Gestaltung der Beziehung mit Expert:innen heraus
Als Handlungsproblem wird außerdem die Abhängigkeit der Selbsthilfe und Betroffenenvertretung durch Förderungen und partizipative Kontexte (wie etwa Psychiatrieplanung) betrachtet, die einerseits administrative Organisationsaufwände produzieren und andererseits das Risiko der Instrumentalisierung durch andere Interessengruppen (Land, WKO, Berufsgruppe, Bundesministerium) mit sich bringen.
Die Perspektive der Betroffenenvertretung auf das Thema der Versorgungswirksamkeit kann stattdessen als eine beschrieben werden, die die epistemische Asymmetrie problematisiert, die durch den Äußerungszusammenhang „Versorgungswirksamkeit von psychotherapeutischem Angebot“ vollzogen wird. Diese wird als inadäquat bzw. Themaverfehlung antizipiert und durch eine ironische Wendung mit anschließendem Themenwechsel strategisch gewendet.
Die Laienstrategie der Ignoranz von Themensetzungen fordert die Gestaltung der Beziehung mit Expert:innen heraus, ohne durch Ignoranzzuschreibung einen eigenen Expert:innenstatus zu beanspruchen. Zuletzt ermöglicht die Strategie, nicht „vor den Karren von irgendeinem Interesse“ gespannt zu werden.
Obwohl biopsychosoziale Zusammenhänge von Erkrankungen, die entsprechende Diagnostik und Therapie, wie auch die gute wissenschaftliche Praxis bekannt sind, wird die entsprechende Versorgung nicht ausreichend erlebt. Information und Aufklärung über die Wirksamkeit könnten Abhilfe schaffen.

Fazit

  • Für Patient:innen sind die für sie wirksamsten Behandlungsoptionen opak aufgrund nicht transparenter Evidenz.
  • Best Point of Service: Diagnostik, Aufklärung und individuelle Behandlungsplanung sowie bedarfs- und bedürfnisorientierte multiprofessionelle interdisziplinäre Behandlungsvermittlung im biopsychosozialen Spannungsfeld sind zentrale ärztlich-psychotherapeutische Behandlungsplanungskompetenzen.
  • Die Abklärung effizienter Versorgungsoptionen gelingt nachhaltig veränderungswirksam in einer tragfähigen Beratungs- und Behandlungsbeziehung mit verantwortlichen Ärzt:innen (biopsychosoziales Case-Management).
  • Veränderungswirksamkeit wird in reflexionsfördernder Gesprächsgestaltung verbessert, Informationen über evidenzbasierte Psychotherapie an die Patient:innen sind erforderlich.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

H. Löffler-Stastka, S. Hassemer und K. Krajic geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Bogner A, Littig B, Menz W (Hrsg) (2002) Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Leske + Budrich, Opladen Bogner A, Littig B, Menz W (Hrsg) (2002) Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Leske + Budrich, Opladen
2.
Zurück zum Zitat Meuser M, Nagel U (2002) ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Bogner A, Littig B, Menz W (Hrsg) Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Leske + Budrich, Opladen, S 71–93CrossRef Meuser M, Nagel U (2002) ExpertInneninterviews – vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Bogner A, Littig B, Menz W (Hrsg) Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Leske + Budrich, Opladen, S 71–93CrossRef
Metadaten
Titel
Versorgungswirksamkeit von Psychotherapie aus Patient:innensicht
„Was hilft wem, wann, wie, in welchem Kontext?“ – Informationspflicht gefordert!
verfasst von
Univ. Prof. Dr. Henriette Löffler-Stastka
Simeon Hassemer
Karl Krajic
Publikationsdatum
08.05.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-023-00906-z

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