Die Annahme, dass man süchtig nach bestimmten Nahrungsmitteln sein kann, ist in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet. In Studien aus Großbritannien gaben über 90 % der befragten Personen an, der Meinung zu sein, dass manche Menschen süchtig nach Essen sind [1]. Etwa ein Viertel der Befragten gab an, sich selbst als süchtig nach Essen wahrzunehmen [2]. Dabei scheint diese Selbstwahrnehmung leicht durch Medienberichte beeinflussbar zu sein: Wenn die Forscher den Probanden einen angeblichen Zeitungsartikel zu lesen gaben, in dem behauptet wurde, dass manche Nahrungsmittel definitiv süchtig machen können, verdoppelte sich bereits die Zahl – nun gab etwa die Hälfte der Befragten an, sich selbst als süchtig nach Essen wahrzunehmen [3].
Aufgrund der leichten Verfügbarkeit verarbeiteter, hochkalorischer Nahrungsmittel und den hohen Prävalenzraten krankhaften Übergewichts gehen viele Menschen – darunter auch Wissenschaftler – davon aus, dass es sich bei diesem Suchtkonzept übermäßigen Essens um ein Phänomen des 21. Jahrhunderts handelt. Tatsächlich lassen sich aber die ersten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Essen unter dem Suchtaspekt sogar bis auf das Ende des 19. und den Anfang des 20. Jahrhunderts datieren [4]. Nichtsdestotrotz erfährt die wissenschaftliche Beschäftigung mit und mediale Aufmerksamkeit für dieses Thema insbesondere in den letzten Jahren vermehrtes Interesse.
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Die Gründe, warum man sich bereits früher und nun immer noch mit diesem Thema beschäftigt, lassen sich auf mehrere augenscheinliche Parallelen zwischen Substanz- und Nahrungsmittelkonsum zurückführen. Beispielsweise geht Substanzgebrauch häufig ein starkes Verlangen voraus, die Substanz zu konsumieren („craving“). Dieses „craving“ kann sich sowohl auf missbräuchliche Substanzen (z. B. Alkohol, Tabak, Koffein, illegale Drogen) als auch auf Nahrungsmittel beziehe (inklusive nichtalkoholischer Getränke; [5]), wobei sich die verhaltensbezogenen und kognitiven Aspekte sowie neurale Mechanismen über verschiedene Substanzen hinweg sehr ähnlich sind [6, 7]. Weitere Parallelen zwischen Substanz- und Nahrungsmittelkonsum umfassen einen Kontrollverlust über den Konsum sowie erfolglose Versuche den Konsum einzuschränken. Dies sind allerdings nicht die einzigen Symptome von Suchtverhalten. Daher ist die Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Definition von Sucht, die über ein Laienverständnis hinausgeht, unabdingbar.
Definitionen von Suchtverhalten
Nach der American Society of Addiction Medicine ist Sucht definiert als eine primäre, chronische Krankheit, die dysregulierte Schaltkreise im Gehirn bezogen auf Belohnung, Motivation und Gedächtnis beinhaltet. Diese Dysfunktionen führen zu charakteristischen biologischen, psychologischen und sozialen Manifestationen. Dies zeigt sich darin, dass eine Person in pathologischer Art und Weise nach Belohnung oder Erleichterung durch Substanzgebrauch oder andere Verhaltensweisen strebt. Sucht ist charakterisiert durch eine Unfähigkeit, dauerhaft abstinent zu bleiben, beeinträchtige Verhaltenskontrolle, „craving“, vermindertes Erkennen erheblicher Probleme mit dem eigenen Verhalten und mit zwischenmenschlichen Beziehungen und dysfunktionalen, emotionalen Reaktionen. Wie andere chronische Krankheiten umfasst Sucht meist wechselnde Perioden von Remission und Rückfall (www.asam.org/quality-practice/definition-of-addiction).
Ähnlich dieser Definition werden im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5) 11 Symptome einer Substanzkonsumstörung spezifiziert [8]:
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Die Substanz wird häufig in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt konsumiert.
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Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren.
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Hoher Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von ihren Wirkungen zu erholen.
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„Craving“.
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Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen.
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Fortgesetzter Substanzkonsum trotz sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme.
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Einschränkung wichtiger sozialer, beruflicher und Freizeitaktivitäten;
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Wiederholter Substanzkonsum in Situationen, in denen der Konsum zu einer körperlichen Gefährdung führen kann.
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Fortgesetzter Substanzkonsum trotz Kenntnis eines körperlichen oder psychischen Problems.
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Toleranzentwicklung.
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Entzugssymptome.
Schließlich sei noch erwähnt, dass im aktuellen DSM-5 nun auch eine nicht substanzgebundene (also Verhaltens‑)Sucht inkludiert ist, die Störung durch Glücksspielen. Entsprechend finden sich auch Vorschläge, dass bei der Betrachtung der Suchtaspekte übermäßigen Essens die Konzeptualisierung als Esssucht (im Sinn einer Verhaltenssucht) angemessener sein könnte als die Konzeptualisierung als Nahrungsmittelabhängigkeit (im Sinn einer substanzbezogenen Störung; [9]).
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Erfassung von suchtähnlichem Essverhalten
Tiermodelle
Die Vorgehensweisen und Ergebnisse zu suchtähnlichem Essverhalten in Tiermodellen gestalten sich höchst unübersichtlich [10, 11]. Ein häufig angewandtes Paradigma besteht darin, Ratten intermittierenden Zugang zu schmackhafter Nahrung zu geben. In Studien von Avena und Kollegen [12, 13] erhalten Ratten beispielsweise 12 h lang freien Zugang zu einer Zuckerlösung und normalem Futter, gefolgt von 12 h kompletter Nahrungsdeprivation. Nach mehreren Wochen dieses intermittierenden Zugangs zeigen die Ratten suchtähnliche Konsummuster der Zuckerlösung sowie neurochemische Veränderungen. Während relative Einigkeit darüber besteht, dass solche Paradigmen des intermittierenden Zugangs zu schmackhafter Nahrung suchtartige Verhaltensweisen hervorrufen, werden die Ähnlichkeiten von neurochemischen Veränderungen zu denen bei Substanzabhängigkeit jedoch stark angezweifelt [10, 11]. Weiterhin stellt sich die Frage, inwiefern diese Tiermodelle auf den Menschen übertragbar sind. Beispielsweise geht das suchtähnliche Essverhalten der Ratten oftmals nicht mit einer Erhöhung des Körpergewichts einher, was die Relevanz für Übergewicht als Folge möglichen süchtigen Essverhaltens beim Menschen einschränkt [14].
Humanstudien
Wie oben erwähnt kann eine einfache Selbsteinschätzung (z. B. „Denkst Du, dass Du süchtig nach Essen bist?“) aufgrund fehlenden Wissens über die Definition von Suchtverhalten und der Beeinflussbarkeit solch einer Selbsteinschätzung (z. B. durch Medienberichte) zu keinen validen Resultaten führen. Daher wird in der Forschung meist ein standardisierter Fragebogen – die Yale Food Addiction Scale (YFAS) – zur Feststellung des Vorliegens eines suchtähnlichen Nahrungsmittelkonsums verwendet [15]. Dieser orientiert sich an den Diagnosekriterien für Substanzkonsumstörung im DSM-5, wobei die jeweiligen Symptome auf Nahrung und Essverhalten übersetzt werden. Es zeigte sich, dass sich Personen, die eine YFAS-Diagnose erhalten, hinsichtlich verschiedenster Variablen von denjenigen ohne Diagnose differenzieren lassen, beispielsweise hinsichtlich der Häufigkeit des Konsums energiedichter Nahrungsmittel bzw. bestimmter Nährstoffe, neurokognitiver bzw. behavioraler Reaktionen auf diese Nahrungsmittel sowie weiterer Merkmale (gestörtes Essverhalten wie z. B. „binge eating“, generelle Psychopathologie, Impulsivität, u. a.; [16, 17]). Diese Unterschiede finden sich auch unabhängig des Körpergewichts, beispielsweise bei adipösen Menschen mit versus ohne YFAS-Diagnose, die sich nicht in der Körpermasse unterscheiden [18‐20]. Entsprechend erhalten auch fast alle Menschen mit Bulimie eine YFAS-Diagnose, obwohl diese meist normalgewichtig sind [21, 22]. Obwohl unter übergewichtigen Menschen YFAS-Diagnosen häufiger vorkommen als bei nomalgewichtigen, scheint das suchtartige Essverhalten also eher sekundär mit dem Körpergewicht zusammenzuhängen und überschneidet sich primär eher mit Essverhalten, das durch Essanfälle (d. h. „binge eating“) geprägt ist [23].
Trotz dieser ersten Versuche, ein suchtähnliches Essverhalten einheitlich zu definieren und zu erfassen, wird ein solches Vorgehen auch kritisch hinterfragt. Einige Forscher lehnen beispielsweise generell den Ansatz, die Diagnosekriterien der Substanzkonsumstörung auf Nahrung und Essverhalten zu übertragen, konzeptuell ab [9, 24‐28]. Auch die Notwendigkeit des Suchtansatzes übermäßigen Essens oder sogar mögliche negative Auswirkungen für therapeutische Maßnahmen (z. B. Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas) und gesellschaftliche Präventionsmaßnahmen (z. B. Regulation der Nahrungsmittelindustrie) werden diskutiert [29]. Die Validität des Suchtansatzes übermäßigen Konsums von bestimmten Nahrungsmitteln bzw. Nährstoffen (z. B. Zucker) sowie dessen therapeutische bzw. gesellschaftliche Implikationen sind daher nicht konsensuell geklärt.
Effekte von Süßstoffen auf Essverhalten und Körpergewicht
In den Medien werden häufig mögliche negative Effekte von kalorienfreien bzw. -armen Süßstoffen in den Mittelpunkt gestellt. Beispielsweise wurden in Tierstudien metabolische Störungen gefunden [30], wobei die Gültigkeit der Befunde für den Menschen auch kritisiert wird [31]. Eine häufige Annahme ist, dass Süßstoffe dem Gehirn den Konsum von Zucker vorgaukeln, sodass in der Folge das Verlangen nach Zucker steigt. Tatsächlich wurde in einer Studie gefunden, dass Probanden, die Sprite Zero getrunken hatten, sich eher eine Süßigkeit (statt Wasser oder Kaugummi) aussuchten, die sie dann mit nach Hause nehmen durften, verglichen mit Probanden, die zuckerhaltige Sprite oder Wasser getrunken hatten [32].
Im Gegensatz zu diesem Befund zeigen allerdings Studien, die das tatsächliche Essverhalten nach dem Konsum von Süßstoffen untersuchten, keine solchen Kompensationseffekte. Beispielsweise nahmen Probanden, die vor dem Mittag- bzw. Abendessen Süßstoffe konsumierten, bei den Mahlzeiten genauso viele Kalorien zu sich wie Probanden, die vor den Mahlzeiten Zucker konsumierten [33]. In einer anderen Studie wurden Probanden aufgefordert, eine Mahlzeit zu sich zu nehmen und währenddessen ein Getränk zu trinken (entweder Wasser, Milch, Orangensaft, zuckerhaltige Cola oder Cola light). Es zeigte sich, dass die Probanden genau gleich viel aßen, egal welches Getränk sie zum Essen tranken. Diejenigen Probanden, die Wasser oder Cola light tranken, nahmen insgesamt aber sehr viel weniger Kalorien zu sich, da sie die gleiche Essensmenge konsumierten, aber keine Kalorien durch die Getränke zu sich nahmen [34]. Insgesamt scheint es also nicht so zu sein, dass der süße Geschmack kalorienfreier Getränke zu einer kompensatorischen Nahrungsaufnahme führt. Ganz im Gegenteil: zuckerhaltige Getränke sättigen nicht, sodass bei Konsum solcher Getränke mehr Kalorien konsumiert werden und hier zuckerfreie Getränke von Vorteil sind.
Entsprechend wurde inzwischen auch metaanalytisch belegt, dass der Konsum kalorienfreier bzw. -armer Süßstoffe nicht zu einem höheren Körpergewicht führt. Obwohl es querschnittlich einen positiven Zusammenhang gibt (Menschen mit höherem Körpergewicht konsumieren häufiger süßstoffhaltige Getränke), scheint hier keine Kausalität hinsichtlich „Süßstoffe machen dick“ vorzuliegen: Randomisierte, kontrollierte Studien zeigen, dass die Verwendung von Süßstoffen als Zuckerersatz zu einer Verminderung des Körpergewichts führt [35].
Fazit für die Praxis
Ob stark zuckerhaltige Nahrungsmittel süchtig machen können und ob kalorienfreie Süßstoffe eher gesundheitsfördernde oder -schädigende Effekte haben, wird unter Wissenschaftlern kontrovers diskutiert. Viele Menschen können sich mit dem Suchtansatz zur Erklärung übermäßigen Essens stark identifizieren und tatsächlich zeigen sich viele Parallelen zwischen Suchtverhalten und übermäßigem Konsum hochkalorischer Nahrungsmittel. Die Beantwortung der Frage nach einem Suchtpotenzial bestimmter Nahrungsmittel bzw. Nährstoffe hängt letztendlich jedoch wesentlich von der jeweiligen Definition von Suchtverhalten ab, sodass eine Konsensfindung nicht absehbar ist. Auch bezüglich der Auswirkungen von kalorienfreien Süßstoffen als Zuckerersatz divergieren die Meinungen stark. Durch die Verwendung von Süßstoffen kann allerdings eine erhebliche Reduktion der Kalorienaufnahme erreicht und somit ein Gewichtsverlust bei übergewichtigen Menschen unterstützt werden. Daher scheint ein suchtähnlicher Konsum von Süßstoffen (oder eine durch Süßstoffkonsum induzierte Steigerung von Verlangen nach Zucker) eher unwahrscheinlich.
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Acknowledgements
Open access funding provided by Paris Lodron University of Salzburg.
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Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
A. Meule gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.