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Ärzte Woche

06.03.2023

Verflucht seist du!

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Fluchtafeln waren im alten Rom beliebt und weit verbreitet. Verwünschungen wurden auf Bleibleche niedergeschrieben oder eingeritzt, um Gegner oder Konkurrenten auszuschalten. Ein Ritual, das auch zum Alltag der frühen Christen gehörte. Das zeigt eine Analyse des Neuen Testaments.

Das griechische Wort Apokalypse bedeutet Enthüllung, Offenbarung. Das letzte Buch der Bibel, nämlich die Offenbarung des Johannes, weist Parallelen zu antiken Fluchtafeln und damit verknüpften Ritualen des Schadenzaubers. Und das ist eigentlich auch zu erwarten: Die Fluchtafeln und damit verbundene Rituale verbreiteten sich mit der Ausdehnung des Römischen Reiches und finden sich heute von Ägypten bis Britannien. Sie waren als Alltagsphänomen in einfachen wie auch in gebildeten Kreisen beliebt.

Entzaubertes Ritual

An der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) befassen sich Dr. Michael Hölscher und sein Team mit den Spuren der Fluchtafeln und ihrer Funktion in der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch des Neuen Testaments. „In der Johannesoffenbarung können wir Anklänge an die Inschriften und Praxis der Fluchtafeln erkennen. Dies dürfte indirekt zur Abgrenzung und Selbstversicherung der frühen, oft bedrohten Christen beigetragen haben“, sagt der Wissenschaftler an der Katholisch-Theologischen Fakultät.

Die archäologischen Funde – rund 1.700 Fluchtafeln sind bekannt – stammen aus der Zeit von circa 500 vor bis 500 nach Christus – während 1.000 Jahren wurden die Rituale also vom Mittelmeerraum bis in den Norden Europas vollzogen, um Gegner in einem Gerichtsprozess, Wettbewerber auf der Pferderennbahn oder Konkurrenten in Liebesangelegenheiten auszustechen.

Das Werk des Sehers Johannes wurde im 1. Jh. n. Chr. verfasst und richtete sich an die Christen an der Westküste Kleinasiens. „Wir finden in der Offenbarung sprachliche Formulierungen, die ganz ähnlich schon auf den Fluchtafeln verwendet wurden“, sagt Hölscher. Als Beispiel nennt er die Beschreibung eines Engels, der einen Stein ins Meer wirft mit den Worten: „So wie dieser Stein ins Meer fällt, soll auch Babylon untergehen.“ Die Beschreibung, so der Theologe, lasse sich wie ein Verfluchungsritual lesen. Die Menschen der damaligen Zeit konnten unmittelbar an die Alltagspraxis der Fluchtafeln denken und daran anknüpfen.

Die Johannesoffenbarung schildert in den sieben Sendschreiben die Seite der römischen Herrschaft und den Kaiserkult als die dämonische, satanische Seite – von der sich die christliche Minderheit abgrenzen will. „Die Offenbarung unterstützt den Selbstfindungsprozess, das Bemühen um eine eigene Identität der christlichen Minderheit in einer römischen Mehrheitsgesellschaft, in der nicht nur dem Kaiser, sondern auch den großen römischen Göttern gehuldigt wird.“

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Metadaten
Titel
Verflucht seist du!
Publikationsdatum
06.03.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 10/2023

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Standpunkte

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