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Erschienen in: Journal für Klinische Endokrinologie und Stoffwechsel 1/2023

Open Access 01.04.2023 | Mitteilungen der APED

Transition und Transfer bei seltenen chronischen Erkrankungen

Umsetzung bekannter Konzepte von der Theorie zur Praxis

verfasst von: Ao. Univ.-Prof. Dr. Gabriele Hartmann, Marianne König, Sophie-Helene Hemberger, Sanja Seferagic, Marion Herle

Erschienen in: Journal für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel | Ausgabe 1/2023

Zusammenfassung

Es liegen umfassende Empfehlungen zur Transition chronisch kranker Kinder in die Erwachsenenmedizin vor, vor allem bei Jugendlichen mit seltenen Erkrankungen sind jedoch weiterhin strukturelle Verbesserungen nötig. In diesem Artikel stellen wir rezente internationale Empfehlungen vor und schlagen auf deren Basis einen Versorgungspfad vor, welcher auch koordinierende Teammitglieder einschließt.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Infobox Begriffe (aus [1])
Transition (engl. Transition) im engeren Sinne: healthcare transition (HCT) = Prozess des Wechsels von pädiatrischer zu adulter Gesundheitsversorgung mit oder ohne Transfer zu einem neuen Arzt/Ärztin. Für HCT existieren umfassende Konzepte, die prinzipiell für alle chronisch kranken Jugendlichen anwendbar sind [2].
Transfer (englisch transfer): Faktischer Wechsel, Momentaufnahme der Übergabe oder Überweisung.

Einleitung

„Lost in transition“ ist bedauerlicherweise ein häufig attestierter Befund im Zusammenhang mit dem Wechsel von jungen Patient:innen mit chronischen Erkrankungen von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin, insbesondere, wenn es sich um seltene Erkrankungen (SE) handelt (siehe Infobox). Zahlreiche Studien zum Thema Transition aus den letzten 10–20 Jahren belegen das teilweise Scheitern, zeigen Hindernisse auf, skizzieren Lösungsvorschläge und schlagen Modelle des Gelingens der HCT vor. Nun ist es an der Zeit, konkrete Verbesserungen auf den Weg zu bringen – spezifisch für die jeweilige Erkrankung wie auch zugeschnitten auf die nationalen und institutionellen Gegebenheiten – und Hindernisse geduldig und konsequent, aber auch entschlossen – zum Wohl von Betroffenen wie auch der betreuenden Teams – zu beseitigen.
Als Grundlage werden drei Publikationen vorgestellt und zusammengefasst,
1.
die Empfehlungen der American Academy of Pediatrics (AAP) 2018 [1],
 
2.
S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Transitionsmedizin [2, 3],
 
3.
der strukturierte Versorgungspfad innerhalb des Projekts TRANSLATE NAMSE [4],
 
und ein auf diesen Publikationen basierendes Modell für SE Endokrinologie und Stoffwechsel zur Weiterentwicklung gemeinsam mit der Erwachsenenmedizin innerhalb unserer Institutionen skizziert.

1. Internationale Vorbilder – Empfehlungen der AAP 2011, 2018 [1]

Dr. White und die Transitions Clinical Report Authoring Group geben in dieser 2018 publizierten Empfehlung einen überaus detaillierten Überblick über vorhandene Literatur (230 Referenzen), zentrale Begriffe, Hürden und gesundheitspolitische Aspekte der HCT.
Es wird ein Modell von sechs Kernelementen der HCT vorgeschlagen, mit deren Umsetzung im frühen Adoleszenzalter (12–14 Jahre) begonnen wird und das mit 18–24 Jahren endet.

2. Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Transitionsmedizin 2021 [2, 3]

Diese Leitlinie wurde von Pape & Ernst in Kooperation mit 22 deutschen Fachgesellschaften und Verbänden gemäß AWMF-Regelwerk (angewandte Methoden PRISMA, GRADE) erstellt und wurde mittlerweile (2022) auch auf Englisch publiziert [2, 3].
Die Leitlinie enthält elf evidenzbasierte und sieben expert:innenbasierte Empfehlungen.

3. Versorgungspfad von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin aus dem Projekt TRANSLATE NAMSE 2022 [4]

Diese Expertenempfehlung ist von Grasemann und Koll:innen des deutschen Nationalen Aktionsbündnisses für Seltene Erkrankungen (NAMSE) erstellt worden, geht also speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit SE ein und umfasst ein Ablaufschema zur Prozessbeschreibung, ebenso wie zusätzliche Materialien (Fragebogen zur Gesundheitskompetenz, Transitionsepikrise).
Unser Vorschlag ist eine Kombination dieser wichtigen Publikationen in Form eines praktisch umsetzbaren Modells (Abb. 1), welches hinsichtlich Zuständigkeit in verschiedenen Gesundheitseinrichtungen an die jeweiligen Teamzusammensetzungen angepasst werden kann. Wir bringen zudem die Funktion von Transitionskoordinatorinnen in diese Konzepte ein, eine Entwicklung, die vor Kurzem an unserer Institution durch eine personelle Erweiterung in den multidisziplinären Teams möglich wurde.

Details zu den publizierten Empfehlungen

1. Empfehlungen der AAP

Die AAP definiert in einer Zeitachse folgende Schwerpunkte [1]:
  • Alter 12–14 Jahre: erste Information zur Transition und der üblichen Vorgehensweise der jeweiligen Gesundheitseinrichtung (persönliches Gespräch mit Jugendlichen und Eltern/Erziehungsberechtigten und schriftliche Unterlagen)
  • Alter 14–16 Jahre: Überprüfung des aktuellen Standes der Umsetzung von Maßnahmen zur Förderung der Transitionsbereitschaft
  • Alter 14–18 Jahre: Schulung und Überprüfung von Kenntnissen zur eigenen Erkrankung und zur Gesundheitskompetenz
  • Alter 14–18 Jahre: Entwurf eines individuellen Transitionsplans, Vorbereitung eines zusammenfassenden medizinischen Befundberichts
  • Alter 18–21 Jahre: Transfer und/oder Integration in erwachsenenmedizinische Versorgung
  • Alter 18–26 Jahre: Überprüfung des Abschlusses der Transition, Patient:innenzufriedenheit
Für diese sechs Kernelemente steht (englischsprachiges) Informationsmaterial zur Verfügung, die Agenden werden zunehmend zwischen Kinder- und Erwachsenenmedizin aufgeteilt bzw. von beiden Seiten wahrgenommen, Informationen zu den Inhalten finden sich auf den Websites relevanter amerikanischer Fachgesellschaften. Weiters finden sich detaillierte Hilfestellungen zur Motivation, aber auch Auflistungen der bekannten Hindernisse einer erfolgreichen Transition und Empfehlungen zur Ausbildung/Training von Pädiatern und Erwachsenenmedizinern in HCT, zur benötigten Infrastruktur und Finanzierung in dieser Publikation.

2a. Die evidenzbasierten Empfehlungen in der Leitlinie zur Transition der Deutschen Gesellschaft für Transitionsmedizin [2, 3]

1.
Erstellen eines detaillierten und individualisierten Transitionsplans (zeitlich, inhaltlich).
 
2.
Beurteilung der Bereitschaft und Befähigung zur Transition der/des Jugendlichen zu definierten Zeitpunkten.
 
3.
Der optimale Zeitpunkt des Transfers wird durch krankheitsspezifische Erfordernisse und die Bedürfnisse des:der Patient:in mitbestimmt und sollte nicht rigide mit der Vollendung des 18. Lebensjahres festgesetzt werden.
 
4.
Während des Transitionsprozesses werden Krankheits- und Behandlungswissen und Fertigkeiten dem jeweiligen Alter/Entwicklungsstand der/des Jugendlichen entsprechend aufgefrischt und ggf. erweitert – dabei werden Eltern/Erziehungsberechtigte nötigenfalls miteinbezogen.
 
5.
Am Transitionsprozess wirken die unterschiedlichen Berufsgruppen mit, die in die Behandlung/Betreuung involviert sind.
 
6.
Ein strukturierter medizinischer Bericht, übersichtlich und geeignet zum Mitführen, wird abgefasst, dieser beinhaltet auch die Therapieempfehlungen zum Zeitpunkt des Transfers.
 
7.
Ein/e in der Transition kompetenter Mitarbeiter:in (Koordinator:in) begleitet den Jugendlichen/jungen Erwachsenen während Transition und Transfer.
 
8.
Es werden niedrigschwellige Informations- und Kontaktmöglichkeiten angeboten (Telefonat, E‑Mail, SMS, Webseiten), sofern verfügbar.
 
9.
Eltern/Erziehungsberechtigte werden in den ersten Jahren des Transitionsprozesses eingebunden – bei kognitiven Defiziten auch bis über den Transfer hinaus.
 
10.
Gemeinsame Visiten (Kinder/Jugend- und Erwachsenenmedizin) und/oder Fallkonferenzen werden ermöglicht.
 
11.
Für eine gelungene Transition sollen die oben angeführten Maßnahmen nicht isoliert, sondern kombiniert/gemeinsam verankert werden.
 

2b. Die Expertenempfehlungen in der obigen Leitlinie [2]

1.
Die Transitionsvorbereitung soll früh beginnen, spätestens zum 16. Geburtstag.
 
2.
Das behandelnde Team spricht auch für das Jugendlichenalter relevante Themen wie Sexualität/Familienplanung, Alkohol/Drogenkonsum, Schlaf-Wach-Rhythmus während der Ambulanztermine an und weist auf besondere Zusammenhänge mit der individuellen Erkrankung und Medikation hin.
 
3.
Es erfolgen spezifische Überprüfungen der psychischen Belastung des:r Jugendlichen (und deren Familie) durch die chronische Erkrankung im multidisziplinären Team.
 
4.
Es steht ausreichend Zeit für Transitionsgespräche zur Verfügung, sowohl beim:bei der behandelnden Pädiater:in wie auch beim:bei der Erwachsenenmediziner:in.
 
5.
Die Verantwortung für gesundheitsrelevante Maßnahmen wird schrittweise von Eltern/Erziehungsberechtigten an den:die Jugendlichen/jungen Erwachsenen übergeben.
 
6.
Die Betreuung während der Transition beinhaltet auch Beratung zu krankheitsbedingten Besonderheiten hinsichtlich Ausbildung, Berufstätigkeit und zu sozialen Aspekten.
 
7.
Die Jugendlichen/jungen Erwachsenen werden auf Patientenvertretungen/Selbsthilfegruppen für ihre Erkrankung hingewiesen.
 

3. Der strukturierte Versorgungspfad von der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin für Jugendliche mit Seltenen Erkrankungen – Projekt TRANSLATE NAMSE [4]

In diesem Projekt, gefördert durch den deutschen Innovationsfonds des gemeinsamen Bundesausschusses, wird ein Modell zum qualitätsgesicherten Informations- und Kompetenztransfer vom Betreuungsteam der Pädiatrie zum:zur Patient:in und zum:zur Weiterbehandler:in in der Erwachsenenmedizin dargestellt.
In dieser Publikation findet sich eine Grundlage zur Erarbeitung einer Standard Operation Procedure (SOP) sowie ein eigens entwickelter Fragebogen zur Gesundheitskompetenz (in deutscher Sprache) (Abb. 2), welcher auch Raum bietet für individuelle Unterstützungs- und Informationsbedürfnisse des Jugendlichen, die vom Behandlungsteam berücksichtigt werden sollen. Das Modell sieht die Erhebung der Gesundheitskompetenz und darauf aufbauend die Durchführung bedarfsgerechter Schulungen (z. B. zur Verbesserung von Krankheits- und Behandlungswissen und Fertigkeiten, Berufswahl im Kontext der Erkrankung, sozialrechtlichen Aspekten usw.) vor. Als letzter Schritt im Versorgungspfad erfolgt der Transfer des:der Patient:in sowie der gesammelten Informationen und Dokumente zum:zur Weiterbehandler:in.
Die Autoren weisen darauf hin, dass geplant ist, weitere Daten aus dem Projekt auszuwerten, um Kosten und zeitlichen Aufwand einer strukturierten Transition gemäß dem konzipierten Versorgungspfad zu kalkulieren.

Resümee

Durch die in diesem Artikel zusammengefassten oft schon jahrzehntelangen [1] Bemühungen, evidenzbasierten Leitlinien [2] und den definierten Versorgungspfad mit geeigneten Erhebungsinstrumenten [3] sind der Bedarf nach Verbesserungen sowie Strategien zur Umsetzung hinreichend dokumentiert.
Die Autorinnen schlagen vor, die in diesem Artikel zusammengefassten internationalen Empfehlungen heranzuziehen, um für die jeweiligen Institutionen geeignete und an das jeweilige multidisziplinäre Team angepasste SOPs zu entwickeln, ein Vorschlag hierzu für die Anwendung an unserer Institution wurde erstellt (Abb. 1), ein rezent publiziertes Instrument zur Erfassung der Gesundheitskompetenz in deutscher Sprache (Abb. 2; [4]) wird vorgestellt. Besonders zu betonen ist, dass gerade auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen in vielen Ländern noch Versorgungslücken in der Erwachsenenmedizin bestehen, bei Erkrankungen, die sich meist oder ausschließlich im Kindesalter manifestieren.
Für die aktuell im Rahmen der Expertisezentren relevanten Vergleiche zwischen renommierten internationalen Krankenanstalten (European Hospital Alliance) wird aktuell ein geeigneter Benchmarking-Parameter diskutiert, um auch für gesundheitspolitisch relevante Parameter standardisierte und validierte Messinstrumente einheitlich anwenden zu können.
Leitungsgremien in der Gesundheitspolitik wie auch Planer der Versorgungsstruktur werden damit in der Lage sein, eine „gelungene Transition“ als eines der Exzellenzmerkmale von renommierten Krankenanstalten und Verbünden aufzuzeigen und hierfür notwendige Investitionen in Zeitressourcen der multidisziplinären Teams bei den jeweiligen Kostenträgern zu rechtfertigen.

Danksagung

Wir bedanken uns bei Mag.a Dr.in Eva Lehner-Baumgartner – Leitung Klinische Psychologie und Psychotherapie, AKH, Univ.-Prof.in Susanne Greber-Platzer – Leitung Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Ao. Univ.-Prof.in Dr.in med. univ. Gabriela Kornek – Ärztliche Direktorin des Universitätsklinikums AKH, Wien Dipl.-Ing. Herwig Wetzlinger – Direktor der Teilunternehmung Universitätsklinikum AKH Wien, für die Unterstützung in Form der Erweiterung der Teams durch TransitionskoordinatorInnen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

G. Hartmann, M. König, S.-H. Hemberger, S. Seferagic und M. Herle geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat White PH, Cooley WC; Transitions Clinical Report Authoring Group, American Academy of Pediatrics, American Academy of Family Physicians, American College of Physicians (2018) Supporting the Health Care Transition From Adolescence to Adulthood in the Medical Home. Pediatrics 142(5):e20182587CrossRefPubMed White PH, Cooley WC; Transitions Clinical Report Authoring Group, American Academy of Pediatrics, American Academy of Family Physicians, American College of Physicians (2018) Supporting the Health Care Transition From Adolescence to Adulthood in the Medical Home. Pediatrics 142(5):e20182587CrossRefPubMed
2.
Metadaten
Titel
Transition und Transfer bei seltenen chronischen Erkrankungen
Umsetzung bekannter Konzepte von der Theorie zur Praxis
verfasst von
Ao. Univ.-Prof. Dr. Gabriele Hartmann
Marianne König
Sophie-Helene Hemberger
Sanja Seferagic
Marion Herle
Publikationsdatum
01.04.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Journal für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel / Ausgabe 1/2023
Print ISSN: 3004-8915
Elektronische ISSN: 3004-8923
DOI
https://doi.org/10.1007/s41969-023-00186-3

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