Von einer Gesellschaft, die nicht warten will. Die neue Kolumne von Dr. Ronny Tekal.
Sie keimt im Wartezimmer, in der Schlange vor der Supermarktkasse oder an der Busstation: die Ungeduld. Eine Studie aus Chicago kam zu dem Schluss, dass sie dann am größten ist, wenn das ersehnte Ereignis beinahe eintritt. Je weiter sich unser Körper also der Kasse nähert, desto unruhiger unser Geist. Und zwar unabhängig von der absoluten Wartezeit. Da reicht bereits ein einziger Kunde vor uns, der einen Kaugummi erwirbt, um „Zweite Kasse!“ zu rufen.
So legen wir heute ein Tempo vor, bei dem unseren Ahnen vermutlich schwindlig geworden wäre. Gab man einst ein Schreiben auf, um sich mit dem Wunschpartner im kommenden Frühjahr zu verloben, so musste der Brief per Postillon zu Fuß, zu Pferd, zu Schiff und zu Taube eine lange Reise machen, bevor er das Ziel erreichte. Der Rückweg gestaltete sich ähnlich langwierig und bis die Retourkutsche mit einem Daumen nach oben ankam, war der Absender in der Regel bereits an Schwindsucht verstorben. Heute werden wir schon zappelig, wenn das WLAN so mies ist, dass eine Textnachricht ein paar Sekunden hängen bleibt. Und wenn eine Lieferung aus Übersee nicht binnen des nächsten Werktages, im Rahmen einer Gratislieferung, zugestellt wird, entlädt sich unser Zorn auf das Transportunternehmen und wir bitten den Gott des Konsumentenschutzes darum, Asche auf das Haupt des offensichtlich faulen, unsagbar unterbezahlten Zustellers regnen zu lassen, der scheinbar nicht willens war, die Waschmaschine in den 8. Stock zu hieven.
Für journalistische Recherchen ist solch ein Tempo indes ein Segen. Rasch mal die Einwohnerzahl des Vatikanstaates zu eruieren, geht heutzutage in Sekundenbruchteilen, während man früher in der Universitätsbibliothek erst ein Antragsformular ausfüllen musste, um ein paar Tage der Ungeduld später einen Stapel Bücher ausgehändigt zu bekommen, in denen man – womöglich – fündig wurde. Bis dahin haben sich längst ein paar Geistliche fortgepflanzt und die Zahl nach oben geschraubt.
Das Getriebensein hat die Menschheit sicherlich in vielen Bereichen vorangebracht. Nicht umsonst sitzen wir an den Hebeln der Macht und nicht das Faultier, das ein Leben im Energiesparmodus 20 Stunden am Tag schläft und nur einmal pro Woche vom Baum steigt, um seine Notdurft zu verrichten. Etwas mehr Ungeduld hätte die Tiere womöglich in der Entwicklung des Plumpsklos vorangebracht.
Ungeduld kann durchaus eine Tugend sein. Die Verhaltensforschung kennt den Goal-Gradient-Effekt – eine Person unternimmt mehr Anstrengung, je näher sie dem Ziel kommt. Für die letzten Meter beim Marathon mobilisieren wir noch Reserven. Da uns diese Energie beim Warten an der Kasse kaum nützt, sind wir entsprechend frustriert. Oder wir setzen die Energie in Kaufkraft um, um in der Quengelzone noch ein Schnapsfläschchen auf das Förderband zu legen. Experten empfehlen gegen die Ungeduld etwa ein Entschleunigungsseminar. Gut. Aber wehe, wenn die Online-Anmeldung dafür nicht auf Anhieb klappt!