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Ärzte Woche

27.01.2021 | Tekal

Die Impfschleicher

verfasst von: Dr. Ronny Tekal, Medizin-Kabarettist

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Die heißeste Ware des Jahres lässt die gute Kinderstube vergessen.

So etwas hätte sich der Verein der Freunde des Impfwesens in seinen kühnsten Träumen nicht erhofft. Wie viel Mühe hat man in den vergangenen Jahren in all die Kampagnen gesteckt, die mit überlebensgroßen Zecken auf wehrlosen Waldorfschülern für eine Verbesserung der Impfmoral gekämpft haben. Nun stehen die Leute Schlange, sie drängeln sich sogar vor, um an die ersehnte Substanz zu kommen.

Solch heiße Güter finden sich nicht nur im Rahmen von Pandemien, in denen selbst ums Klopapier gestritten wird, sondern auch rund um Weihnachten, wo die Menschen beide Nieren hergeben würden, um an eine Play-Station-5 zu gelangen. Es gab sogar Zeiten, in denen Fidget-Spinner, jene kleinen chinesischen Billigprodukte, deren einziger Sinn darin bestand, sich zu drehen, eine derart angesagte Ware war, dass nicht einmal die Billigproduzenten mit der Produktion nachkamen. Doch so rasch der Aufstieg zur begehrtesten Mangelware, so rasch folgte auch der Fall zum Ladenhüter.

Klar gibt es auch jede Menge Personen, die der Sache skeptisch gegenüberstehen und sich fragen, ob man einer Impfung trauen kann, die in einer Zeit aus dem Labor gestampft wurde, in der man normalerweise gerade mal die Antragsformulare für die ersten Studien ausfüllen kann. Das tut jedoch der Begeisterung keinen Abbruch. Man will dem Corona-Virus den Garaus machen und die Impfung hilft eben nicht nur gegen einen schweren Krankheitsverlauf, sondern vor allem gegen einen schweren Lock-Down. Und selbst wenn es potenzielle Nachwirkungen geben könnte, so lassen sich diese mit den garantierten Nachwirkungen eines dadurch wieder erlaubten Wirtshausbesuches deutlich besser ertragen.

Obwohl die Vergabe der Impfung streng nach Risikogruppen gestaffelt ist, kommt es immer wieder zu brenzligen Situationen, in denen der Oberarm eines Bürgermeisters aus Versehen den Weg der Injektionsnadel kreuzt und das Serum im Amtsträger landet. Doch wer derart systemrelevant Hände schüttelt, ist natürlich vorrangig zu schützen.

Menschen verkleiden sich mittlerweile als betagte Risikopatienten, um sich unerlaubterweise ein Vakzin zu erschleichen, über 80-Jährige können sich auf dem Weg zur Impfstelle ihres Lebens nicht mehr sicher sein, da ihr Equipment begehrte Hehlerware ist.

Eine neue Erfahrung können die Bewohner der Top-Industrienationen aber in der jetzigen Situation machen: Wie es sich anfühlt, wenn ein Heilmittel zwar existiert, nur leider nicht verfügbar ist. Für die meisten Weltbürger gelebte Normalität, die sich viele wirksamen Medikamente nicht leisten können.

Ein kleiner Tropfen Demut also für ein paar Wochen, die man warten muss. Bevor die nun massenhaft produzierten Impfstoffe kommendes Jahr möglicherweise ungebraucht in denselben Kisten verstaut werden wie die Fidget-Spinner.

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Metadaten
Titel
Die Impfschleicher
Schlagwort
Tekal
Publikationsdatum
27.01.2021
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 4/2021

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