„Systemsprenger“ und die Enthospitalisierung
Bereits gegen Ende der 1990er Jahren machte Hopfmüller (
1997,
1998) im Rahmen einer Enthospitalisierungsstudie mit 186 ehemaligen LangzeitpatientInnen, die aus der Klinik Gütersloh in ein gemeindepsychiatrisches Versorgungsangebot überführt wurden, auf die Gruppe der „Systemsprenger“ aufmerksam. In ihrer Studie versuchte sie diese Gruppe unter verschiedenen Blickwinkeln zu beschreiben. Als „Systemsprenger“ galten Personen, welche den professionell Tätigen das Gefühlt vermitteln „an Grenzen zu kommen“ oder „vor einem unlösbaren Problem zu stehen“ (Hopfmüller
1997, S. 156). In Zusammenarbeit mit einer Expertengruppe erarbeitete Hopfmüller eine Liste von Eigenschaften mit dem diese Gruppe assoziiert wurden. Hierzu gehörten: Doppeldiagnosen, dissoziales oder störendes Verhalten, Delinquenz, geringe Anpassungsfähigkeit, häufige Beziehungsabbrüche, Selbstverletzendes Verhalten und Verwahrlosungstendenzen (ebd.). Anschließend befragte sie 14 MitarbeiterInnen, die aufgefordert wurden, anhand der aufgestellten Eigenschaften entsprechende Personen zu identifizierten. Zusätzlich sollten sie angeben, welche am leichtesten oder am schwierigsten zu entlassen waren.
Die Stichprobe setzte sich aus 80 PatientInnen zusammen. Davon wurden 54 von den MitarbeiterInnen einmal und 26
mehrfach benannt. In beiden Gruppen fanden sich Personen bei denen die Entlassung als leicht und schwierig
eingeschätzt wurde. Bei den Diagnosen waren geistige Behinderungen, Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen
überrepräsentiert. Die als „Systemsprenger“ identifizierten Personen wiesen im Vergleich zu den anderen
LangzeitpatientInnen ein jüngeres Durchschnittsalter bei der Erstaufnahme auf (25 vs. 30 Jahre). Allerdings wurden sie
auch früher entlassen (46 vs. 54 Jahre). Die Gesamthospitalisierungszeit zeichnete sich bei ihnen durch häufigere und
kürzere stationäre Aufnahmen aus. Bei der Entlassung wurden die meisten Personen als „nicht heimfähig“ eingeschätzt,
was dazu führte, dass die Mehrzahl der „Systemsprenger“ in Wohngruppen mit einer ambulanten Betreuung lebte. Etwa 67 % gingen einer Tagesstruktur, Arbeit oder Beschäftigung nach. Dagegen waren es bei den LangzeitpatientInnen 48 %.
In ihrer Untersuchung konnte Hopfmüller keine eindeutigen personenbezogenen Faktoren für die Identifizierung der „Systemsprenger“ finden. Sie führte die Identifizierung der „Systemsprenger“ auf wahrgenommene Patientenunterschiede auf Seiten der MitarbeitInnen durch zunehmende Erfahrungen mit der Enthospitalisierung zurück. Des Weiteren vermutet sie, dass diese Wahrnehmungsunterschiede „im Zusammenhang mit der zeitlichen Entwicklung des Klienten, des Umfeldes (Entfaltung des ambulanten Systems) und im Zusammenhang mit der Entwicklung auch eines ‚harten Kerns‘ (Hopfmüller
1998, S. 93)“ stehen. Die mit der Auflösung der Großkliniken veränderte psychiatrische Behandlungspraxis mit kürzeren stationären Verweildauern und häufigeren Wiederaufnahmen oder das Fehlen von geeigneten ambulanten und komplementären Nachsorgeangeboten könnten nach Hopfmüller dazu beigetragen haben, dass sich die Integration von bestimmten PatientInnen in ein gemeindepsychiatrisches Versorgungssystem als schwierig erweist und sie infolgedessen durch einen hohen Grad von abweichenden Verhaltensweisen auffallen.
„Schattenpsychiatrie in der Altenhilfe“
Auf eine ähnliche Versorgungsproblematik wiesen auch Vock und Kollegen in einer Berliner Studie zur Unterbringung psychisch erkrankter Menschen in Pflegeheimen hin (Vock et al.
2007; Zimmermann
2012). Mittels einer standardisierten schriftlichen Befragung wurden die einrichtungs- und bewohnerbezogenen Daten von 6600 Pflegeheimen erhoben. Zusätzlich interviewte die Forschungsgruppe die an den Steuerungs‑, Vermittlungs- und Betreuungsprozessen beteiligten Akteure (Sozialpsychiatrischer Dienst, Sozialdienst der Klinik, gesetzliche BetreuerInnen, HeimleiterInnen).
Etwa 13 % (
N = 813) der weiblichen und männlichen Heimbewohner wiesen unter Ausschluss einer Demenz- und Abhängigkeitserkrankung eine psychische Störung auf. Das Durchschnittsalter lag mit 56 bis 65 Jahren weit unter dem alterstypischen Durchschnitt für Pflegeheime (Vock et al.
2007). Ein Viertel der untergebrachten Personen wiesen ein Lebensalter von unter 55 Jahren auf. Die Verteilung der psychisch erkrankten Personen war in allen Heimen relativ ausgewogen. Insgesamt ließ sich keine Spezialisierung der Heime auf Menschen mit einer psychischen Erkrankung feststellen. Zwei Drittel der Personen lebte in großen Versorgungseinrichtungen mit über 90 Plätzen. Die Hälfte teilte sich ein Zweibettzimmer. Etwa 350 Personen waren in Drei- oder Mehrbettzimmern untergebracht.
Bei der Auswertung der Experteninterviews stellte sich heraus, dass die Unterbringung in ein Pflegeheim in den meisten Fällen durch die Zuweisung der Klinik erfolgte (ebd.). Dabei konnten keine klaren Kriterien für die Vermittlung der Betroffenen identifiziert werden. Die Arbeitsgruppe stellte deshalb den Verdacht auf, dass die Zuweisung der Klinik häufig unter zeitlichen und finanziellen Druck stattfindet (z. B. fehlende Kostenübernahme durch die Krankenkassen, Unklarheit über die Finanzierung ambulanter Betreuung). Eine fachliche oder politische Steuerung war bei der Vermittlung nicht beteiligt. Über die Abgänge aus den Pflegeheimen ist nichts bekannt.
Alle befragten Personen aus den Experteninterviews bezeichneten die psychisch erkrankten Menschen, die in die Heime vermittelt wurden, als die „Schwierigsten“ bzw. „die Chroniker“, bei denen eine Integration in das ambulante Versorgungssystem aufgrund von problematischen und „sprengenden“ Verhaltensweisen nicht möglich ist (Vock et al.
2007, S. 272 ff). Diese Gruppe zeichnete sich nach Einschätzung der Interviewten durch Merkmale wie keine Krankheitseinsicht vorhanden, mangelnde Beteiligung an Hilfeplanprozessen und Non-Compliance aus. Als Ursache für das Scheitern der bestehenden Hilfeangebote wurden folgende Faktoren genannt:
-
fehlende strukturelle, konzeptionelle und organisatorische Auslegung der Versorgung von „schwierigen“ PatientInnen
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zu wenig aufsuchende Hilfen
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mangelnde Kooperation zwischen dem ambulanten, komplementären und stationären Bereich
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fehlende überregionale Vernetzung
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unzureichende Flexibilität der vorhandenen Betreuungs- und Behandlungsangebote
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Finanzierungseinschränkungen durch gesetzliche Rahmenbedingungen
Die Untersuchung von Vock und Kollegen legt nahe, dass sich im Zuge der Enthospitalisierung „heimliche Verstecke“ gebildet haben, in denen vor allem „schwierige“ PatientInnen nach mehrmaligem Scheitern ambulanter Hilfen ohne fachliche und politische Steuerung untergebracht werden. Einer der Initiatoren der Studie kritisierte diesen Versorgungstrend als „Schattenpsychiatrie in der Altenhilfe“ (Zimmermann
2012).
„Systemsprenger“ und kontextabhängige Faktoren?
Eine erste repräsentative regionale Untersuchung zur „Systemsprenger-Problematik“ führte eine Forschungsgruppe um Freyberger et al. (
2004,
2008) im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern durch. In der Untersuchung ging die Forschungsgruppe unter anderem der Frage nach, ob die als „Systemsprenger“ bezeichneten Personen tatsächlich ein Versorgungssystem sprengen oder „ob nicht das System selbst durch seine Konfiguration und seine partielle Unfähigkeit, den Hilfe- und Strukturierungsbedarf individuell anzupassen sog. ‚Systemsprenger‘ produziert (Freyberger et al.
2008, S. 110)“. In der Untersuchung wurde ein zweiteiliger Fragebogen eingesetzt, der die Merkmale der befragten Einrichtungen und die soziodemographischen, krankheits- und behandlungsbezogenen Merkmale der identifizierten „Systemsprenger“ erfasste. Zur näheren Charakterisierung des „Systemsprenger-Verhaltens“ wurden zusätzlich Items zur Häufigkeit kritischer Verhaltensweisen aus den Bereichen: 1. Selbstschädigung und Suizidalität, 2. Fremdaggressives Verhalten, 3. Impulsivität, 4. Delinquenz, 5. Störungen im Krankheitskonzept und -verhalten, 6. Störungen im gruppenbezogenen Verhalten und Konsum psychotroper Substanzen aufgeführt. Die Identifizierung der „Systemsprenger“ erfolgte über die MitarbeitInnen der befragten Einrichtungen. Dabei orientierten sie sich an einer vorgegebenen Definition der Zielgruppe.
An der schriftlichen Befragung beteiligten sich über 80 % aller klinischen und komplementären Einrichtungen des Bundeslandes. Insgesamt wurden 137 „Systemsprenger“ identifiziert, die gemessen an der Gesamtzahl der betreuten Personen einen Anteil von ca. 5 % ausmachten. Im Verhältnis zur Gesamtbelegung traten die „Systemsprenger“ am häufigsten in den Therapeutischen Wohngemeinschaften (13,3 %) und am seltensten im ambulant Betreuten Wohnen (3 %) auf. Das Durchschnittsalter lag bei 36 Jahren. Die geschlechtsspezifische Verteilung war mit 60 % männlicher Personen relativ ausgewogen. Hinsichtlich der diagnostischen Verteilung fanden sich am häufigsten Diagnosen aus dem Bereich der psychotischen Störungen (39 %) und Persönlichkeitsstörungen (44 %). Bei 24 % lag eine Suchterkrankung vor. Allerdings wiesen über die Hälfte der identifizierten Personen zwei oder mehr Diagnosen auf. Bei den kritischen Verhaltensweisen konnten faktoranalytisch vier Merkmalsgruppen reduziert werden: 1. Aggressivität, Unangepasstheit und Impulsivität, 2. Suizidalität, 3. Delinquenz und Konsum von psychotropen Substanzen sowie 4. Manipulation und Belästigung.
Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung von Freyberger et al. (
2008) bestand darin, dass kein linearer Zusammenhang zwischen den personenbezogenen Variablen, dem Strukturierungsgrad der Einrichtungen und der Häufigkeit von „Systemsprengern“ festgestellt werden konnte. Auch bei den faktoranalytischen Merkmalsgruppen wiesen nur 51 Personen (37 %) hohe Ausprägungen auf mindestens 3 Faktoren auf. Ihrer Ansicht nach lässt sich die Identifizierung der „Systemsprenger“ weniger auf personenbezogene sondern auf kontextabhängige und einrichtungsbezogene Faktoren zurückführen. So schlussfolgern sie: „Statt personenbezogener Variablen (‚Systemsprenger als Persönlichkeitsmerkmal‘) spricht vieles in unseren Daten für eine hohe Kontextabhängigkeit, wann eine Person als Systemsprenger identifiziert wird. Dies scheint vor allem von den Interaktionsmustern in den einzelnen Betreuungsangeboten abzuhängen, aber auch vom Typ der Einrichtung (z. B. Wohngemeinschaft vs. Klinik bzw. Betreutes Wohnen) oder dem Personal (Freyberger et al.
2008, S. 112).“ Mögliche Einflussfaktoren sind unter anderem Personalschlüssel, berufliche Qualifikation der MitarbeiterInnen, Dauer des persönlichen Kontakts zwischen KlientInnen und MitarbeiterInnen, Unterschiede in der Tagesstruktur oder der Grad der Eigenverantwortlichkeit der KlientInnen.
„Systemsprenger“ in den ambulanten psychosozialen Versorgungssystemen
In einem laufenden Forschungsprojekt zur „Systemsprenger-Problematik“ in den ambulanten psychosozialen Versorgungssystemen konnte auch Giertz (
2016) bisher keine eindeutigen personenbezogenen Faktoren finden. Allerdings wurde in der Untersuchung eine geringe Inanspruchnahme von zusätzlichen Hilfeleistungen festgestellt, die auf eine Diskrepanz zwischen dem Hilfebedarf der Betroffenen und den bestehenden Hilfeangeboten hinweist.
Bisher liegen die Ergebnisse aus der ersten Projektphase vor (ebd.). Hier wurde eine standardisierte schriftliche Befragung in den Einrichtungen von vier Trägern der Berliner Eingliederungshilfe durchgeführt, mit dem Ziel: 1. Personen zu identifizieren, die nach Fremdeinschätzung Merkmale von „Systemsprengern“ aufweisen, 2. die Stichprobe anhand soziodemographischer, krankheits- und nutzerbezogener Daten und der Häufigkeit von kritischen Verhaltensweisen zu charakterisieren und 3. einen ersten Einblick zu bekommen, mit welchen Herausforderungen die MitarbeiterInnen bei der Betreuung dieser Personengruppe konfrontiert werden. Die Konstruktion des Fragebogens und das forschungsmethodische Vorgehen bei der Identifizierung der „Systemsprenger“ orientierte sich an der Untersuchung von Freyberger et al. (
2008). Zusätzlich wurden neben den einrichtungsbezogenen, soziodemographischen und krankheitsbezogenen Daten auch die nutzerbezogenen Daten der Zielgruppe erfasst.
Bei der Befragung beteiligten sich alle 31 Einrichtungen der teilnehmenden Träger. Darunter gehörten Therapeutische Wohngemeinschaften, Übergangswohnheime, Wohnverbünde und Betreutes Einzelwohnen. Von den insgesamt 1242 betreuten KlientInnen wurden von den MitarbeiterInnen 117 Personen (9,4 %) als „Systemsprenger“ identifiziert. Im Vergleich mit den Ergebnissen von Freyberger et al. (
2008) fanden sich keine signifikanten Unterschiede bei den soziodemographischen Daten. Auch hier konnte ein Häufigkeitsanstieg von Personen in der Altersgruppe zwischen 30 bis 39 Jahren festgestellt werden und auch die geschlechtsspezifische Verteilung war mit einem Anteil von 60 % bei den männlichen Personen höher ausgeprägt. Bei den diagnostischen Merkmalen zeichnete sich die Stichprobe überwiegend durch Haupt- und Nebendiagnosen aus dem schizophrenen Formenkreis (67 %) aus. Verglichen mit den Daten von Freyberger et al. (
2008) fiel der Anteil von Diagnosen aus dem Bereich der Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen mit 48 % höher aus. Bei knapp 70 % wurden mehr als eine Diagnose genannt.
Im Durchschnitt wiesen die identifizierten „Systemsprenger“ in den Einrichtungen eine Verweildauer von 3 Jahren auf. In den meisten Fällen erfolgte die Zuweisung aus einer psychiatrischen Klinik (23 %) oder aus einer anderen sozialpsychiatrischen Einrichtung (24 %). Neben der eigentlichen Betreuungsleistung beanspruchten 20 % der Betroffenen zusätzlich trägerinterne und 41 % zusätzlich externe Leistungsangebote. Zu den häufigsten zusätzlichen Leistungsangeboten gehörten tagesstrukturierende Maßnahmen (22 %), Sonstige (12 %), Werkstatt (9 %), Pflegedienst (9 %) und Institutsambulanz (8 %). Bei der Häufigkeit stationärer Aufnahmen kam die Stichprobe im Jahr 2015 auf durchschnittlich 1,9 Aufnahmen (SD 3,8) mit einer kumulierten Verweildauer von 32,8 Tagen (SD 63,2).
Hinsichtlich der kritischen Verhaltensweisen traten in der Stichprobe am häufigsten Verhaltensweisen aus den Bereichen Impulsivität, Non-Compliance sowie Störungen im gruppenbezogenen Verhalten auf. Die Häufigkeitsverteilung der kritischen Verhaltensweisen fiel in der Stichprobe heterogen aus, so dass eine faktoranalytische Reduktion nicht möglich war. Ferner ergab die Auswertung, dass das Ausmaß kritischer Verhaltensweisen mit einer Zunahme stationärer Aufenthalte (p = 0,010) und Krankenhaustage (p = 0,003) korrelierte. Hier lässt sich eine stationäre Kompensation gemeindepsychiatrischer Versorgungsprobleme vermuten.
Obwohl im Land Berlin ein breites Spektrum an psychiatrischen, psychosozialen und psychotherapeutischen Hilfen zur Verfügung steht, fanden sich in der Befragung keine Anhaltspunkte, dass die Betroffenen diese Hilfen auch in Anspruch nehmen. Möglicherweise steht dies im Widerspruch mit dem individuellen Hilfebedarf und der Krankheitsschwere der Betroffenen. Dies könnte darauf verweisen, dass die bestehenden Hilfesysteme nicht am Bedarf der Betroffenen ausgerichtet sind, die Betroffenen die Hilfen ablehnen oder nur schwer einen Zugang zu bestimmten Hilfen erhalten.