Praktikabel, effektiv und kostengünstig: „Die Erotikindustrie ist der Medizin Lichtjahre voraus“, sagt die Expertin Prof. Dr. Kathrin Kirchheiner, Klinische- und Gesundheitspsychologin der MedUni Wien. Im zweiten Teil der Interview-Serie erläutert sie unter anderem, warum sie sich für ihre Patientinnen öfter auf dem Erotikmarkt umschaut.
Ärzte Woche: Wäre es aus Ihrer Sicht sinnvoll, Medizinerinnen und Mediziner in die Entwicklung von Sexual Devices einzubeziehen?
Kathrin Kirchheiner: Die medizinische Forschungslandschaft zur weiblichen Sexualität und den funktionellen physiologischen Zusammenhängen rund um Lust und Orgasmus ist grundsätzlich eine sehr lebendige. Die Forschungsansätze sind sehr kreativ und beziehen durchaus auch Sexual Devices mit ein. Aber ja, da würden sich eigentlich mehr Initiativen zur Zusammenarbeit anbieten. Es wird viel publiziert, teilweise auch ziemlich emotional, in Papers und Gegenpapers und Kontroversen. Aber um ehrlich zu sein, hat sich der freie Erotikmarkt und Millionen von Anwendenden als treibende Innovationskraft eher bewährt als die Medizin. Während in der Forschungswelt teilweise noch über Grundsatzfragen debattiert wird, entwickelt die Industrie laufend Produkte, ganz pragmatisch ohne Ultraschall, MRT-Befunde oder fMRIs der Lustzentren der Frau. Da kommen laufend neu designte Geräte auf den Markt, mit neuartigen Stimulationen und es wird geschaut, was funktioniert, was Spaß macht und sich gut verkauft. Aber es gibt Initiativen zum Brückenschlag und einige Kooperationen. Elizabeth Rubin zum Beispiel hat Gynäkologen und Geburtshelfern einen Leitfaden3 zu Sexual Devices an die Hand gegeben und in diesem darauf hingewiesen, wie sehr Patientinnen von der Nutzung profitieren und von ihren Behandelnden unterstützt werden können, wenn das Thema enttabuisiert wäre. Ich wünsche mir da ganz generell in der Medizin mehr Sex Positivity und Offenheit.
Ärzte Woche: Das heißt, der Erotikmarkt versteht in der Praxis mehr von sexueller Gesundheit als die Medizin?
Kirchheiner: Meiner Meinung nach ist die Erotikindustrie der Medizin Lichtjahre voraus, was Kundenorientierung, Anwendungsfreundlichkeit und Effektivität betrifft. Da gibt es so ein großartiges Beispiel: Im Jahr 2000 kam ein Medizinprodukt mit dem Namen Eros Clitoral Stimulation Device auf den Markt (www.eros-therapy.com), das komplett durch den Entwicklungsprozess der Forschung gegangen ist und in den USA sogar von der Food and Drug Administration frei gegeben wurde zur Behandlung weiblicher Sexualprobleme und -störungen. Das Wirkprinzip dieses Gerätes ist, mit Unterdruck-Stimulation den Blutfluss in der Klitoris zu verstärken und dadurch die Sensitivität zu erhöhen. Es ist ein ziemlich sperriges Teil, mit einer kleinen Plastikglocke, die auf die externe Glans clitoris gesetzt wird. Das Gerät erzeugt einen Unterdruck und soll die klitorale Durchblutung erhöhen. Gutes Wirkprinzip und hat sich in vielen sexualmedizinischen Studien klinisch hervorragend bewährt, bei Erregungsstörungen, Orgasmusstörungen, Libidoreduktion usw. Das Problem war allerdings, dass Frauen das Gerät nur nach einer ärztlichen Diagnose und mit Verschreibung bekommen haben und es damals an die 400 US-Dollar gekostet hat. Ich glaube, die Erotikindustrie hat sich das eine Zeit lang angeschaut, um es beinhart abzukupfern, denn das Wirkprinzip von den klitoralen Druckwellenstimulatoren ist ja durchaus vergleichbar. Ehrlich gesagt funktionieren die vermutlich sogar besser, weil sie zusätzlich noch pulsieren. Die beiden Marktführer im deutschsprachigen Raum (www.womanizer.com und www.satisfyer.com) hatten einen Marktdurchbruch, diese Sexual Devices finden reißenden Absatz, kosten einen Bruchteil, benötigen keine ärztliche Verschreibung und haben Tausende positive Rezensionen. Weil die Funktionsweise für viele Frauen einfach funktioniert. Sexualmedizinische Produkte sind leider oftmals teuer und nicht immer praktikabel, deshalb schaue ich mich für meine Patientinnen öfter auf dem Erotikmarkt um. Ich war vergangenes Jahr lange auf der Suche nach einem vaginalen Dilatator, der graduell und auf Knopfdruck den Durchmesser steigert, damit die Dehnung effektiver wird und der Sprung von einer zur nächsten Größe der Dilatatoren nicht so hart ist. Auch da gibt es ein FDA approbiertes Medizinprodukt namens Milli in Californien (www.hellomilli.com/), das klinisch sehr vielversprechend aussieht, aber auch wieder ein Vermögen kostet. Eine kreative Suche in den Online-Erotikshops hat dann einen sehr vergleichbaren Dildo gefunden mit ebendieser Funktion, nur dass die Frauen ihn graduell mit einer Handpumpe quasi aufblasen, im Angebot um 19 Euro.
Ärzte Woche: Sexual Devices für Menschen mit Penis sind – im Vergleich zu jenen mit Vagina – noch immer rar. Wie wichtig ist es aus medizinischer Sicht, alle Geschlechter in die Entwicklung mit einzubeziehen und was sollte bei Produkten für Männer bzw. Menschen mit Penis bedacht werden?
Kirchheiner: Die sind gar nicht mehr so rar wie angenommen. Ich habe mich online umgeschaut und war verblüfft über die zunehmende Kreativität in Bezug auf Sex Devices für Männer. Während einem da früher nur die aufblasbaren Puppen eingefallen sind, gibt es mittlerweile eine Palette an Angeboten für Menschen mit Penis. Masturbatoren, also die „guten alten Flashlights“, die kombiniert werden mit Unterdruck, mit/ohne Hitze, mit/ohne Vibration, ausgeprägter Innenstruktur und Cyberskin- Material. Aber auch Penisringe, Buttplugs und Prostata-Stimulatoren, auch alle mit oder ohne Vibration, Stoßfunktion, Elektroimpulse und so weiter. Also hier scheint der freie Markt wieder deutliche Impulse zu setzen.
Teil 1 des Interviews:
Referenzen:
3 Rubin ES, Deshpande NA, Vasquez PJ, Kellogg Spadt S. A Clinical Reference Guide on Sexual Devices for Obstetrician-Gynecologists. Obstet Gynecol. 2019 Jun;133(6):1259-1268
Hier geht es zum ÖÄK-Diplomlehrgang Sexualmedizin.