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Ärzte Woche

01.08.2021 | Seltene Erkrankungen

Seltene Erkrankungen

Wackeldackel: Vom Leben mit kraniozervikaler Instabilität

verfasst von: Karina Sturm

Was haben ein Autounfall mit Schleudertrauma mit einer angeborenen Bindegewebserkrankungen, Rheuma und dem Down-Syndrom gemeinsam? Sie alle können zu kranio-zervikaler Instabilität (CCI) führen - ein Krankheitsbild, über das wenig bekannt ist , das aber zu schweren neurologischen Symptomen führen kann. Ärzte Woche-Reporterin Karina Sturm spricht mit fünf Patienten und zwei Experten über die alltäglichen Herausforderungen in der Diagnostik und Therapie.

Ein Schuss fällt. Ein Mann stirbt. Eine Verzweiflungstat. Um die lebensnotwendige Operation seiner Tochter in den USA finanzieren zu können, erpresst der Vater ein Speditionsunternehmen. Das ist das Thema der Tatortfolge „Querschläger“, die 2019 für viel Wirbel sorgte. In der Episode verweigert die Krankenkasse die Kostenübernahme des Eingriffs an der Halswirbelsäule, weshalb der Vater 300.000 Euro für eine Operation im Ausland auftreiben muss.

Was klingt wie eine reine Erfindung der Drehbuchautoren, ist für viele Betroffene der kranio-zervikalen Instabilität, einer Instabilität der oberen Halswirbelsäule, Realität. Experten sind rar und die Diagnostik kompliziert. Viele Betroffene fallen dabei durch das Raster. Mit einigen dieser Menschen haben wir für diesen Artikel gesprochen.

Auslöser gibt es viele

Von einer Instabilität der Halswirbelsäule spricht man, wenn ein Wirbel oder mehrere Segmente der Halswirbelsäule sich über das normale Maß hinaus bewegen und in der Konsequenz auf Rückenmark, Nerven oder Blutgefäße drücken. Die Stabilität der Halswirbelsäule hängt von einem komplexen Zusammenspiel von Wirbeln, Bandscheiben, Kapseln, Sehnen, Bändern und Muskeln ab. Außerdem spielt sich ein Großteil der Bewegung des Kopfes in den Kopfgelenken, dem Bereich zwischen Kopf, dem ersten und dem zweiten Halswirbel ab. Da die Halswirbelsäule so beweglich ist und gleichzeitig mit dem Kopf eine große Last zu tragen hat, führen Verletzungen im oberen Bereich zu einem besonders schwerwiegenden und dennoch im Klinikalltag eher selten auftretenden Krankheitsbild.

„Wir sehen im Monat 1.200 Patienten. Davon ist vielleicht einer alle drei Monate dabei, der eine nachgewiesene Instabilität der oberen HWS hat“, sagt Dr. Ralf Wagner, Facharzt für Orthopädie, der sich seit 2001 auf die Wirbelsäulenchirurgie spezialisiert hat. Die Halswirbelsäule findet er spannend, da sie aufgrund ihrer Funktion, der Nähe zum Kopf und der Verbindung zu anderen Strukturen, wie der Vertebralarterie und dem Hirnstamm, eine so tragende Rolle in der Wirbelsäulenchirurgie spielt. Vor seiner selbstständigen Tätigkeit in der Praxis Ligamenta in Frankfurt am Main war der Mediziner in der renommierten Wirbelsäulenklinik Karlsbad Langensteinbach tätig.

Auslöser für eine Instabilität gibt es einige:. Am häufigsten sind Schleudertraumata nach Autounfällen. Auch chiropraktische Manöver und Überstreckung des Nackens bei Operation werden von Betroffenen oft als Auslöser beschrieben. In der Literatur finden sich auch entzündliche Erkrankungen wie Rheuma und genetische Ursachen wie das Down-Syndrom. Maligne Erkrankungen wie Krebs können ebenfalls zu starken Problemen in der Halswirbelsäule führen sowie chronische Infektionen, etwa Tuberkulose. In jüngster Zeit wurde nachgewiesen, dass die kraniozervikale und atlantoaxiale Instabilität häufig bei Betroffenen von genetischen Bindegewebserkrankungen vorzufinden sind. Hierunter fallen die Ehlers-Danlos-Syndrome und das Marfan-Syndrom. Eine der davon Betroffenen ist Nina aus Berlin.

Nina

Nina ist 34 Jahre alt und seit 2018 chronisch krank. Nach einer Nebenhöhlenentzündung entwickelt sie starke Fatigue, eine Intoleranz aller körperlichen Anstrengung, Reizempfindlichkeit gegenüber Licht, Gerüchen und Geräuschen, und Brain Fog, durch die sie größtenteils bettlägerig wird. Nach einem Jahr erholt sie sich leicht, kann wieder spazieren gehen, bis sie eine manuelle Therapie des Nackens komplett zurückwirft. „Seitdem bin ich 23 Stunden am Tag im Bett, ohne Licht, ohne kognitive Funktionen“, sagt Nina.

Mit der Halswirbelsäule hat sie jedoch schon viel länger Probleme. Bei einer Zahnbehandlung im Jahr 2015 wird ihr Nacken überstreckt und der Kiefer ausgerenkt. In der Folge entwickelt sie starke Nacken- und Rückenschmerzen, die sie auch nach Jahren nicht loswird. Als sich ihr Zustand 2019 stark verschlechtert, zählt sie Eins und Eins zusammen und geht auf die Suche nach Antworten.

Die erste Diagnose steht schnell fest: Myalgische Enzephalomyelitis. Durch ein Upright-MRT wird kurze Zeit später eine atlantoaxiale Instabilität diagnostiziert. Ein Experte bestätigt die Diagnose. Zusätzlich sind Ninas Gelenke und ihre Wirbelsäule überbeweglich, weshalb ihre Ärzte davon ausgehen, dass sie eine zugrunde liegende Bindegewebserkrankung hat.

Einen normalen Alltag gibt es für Nina lange nicht mehr. „Ich liege nachts oft wach, kann morgens für ein paar Stunden gar nicht aufstehen und muss erst mal meine Tabletten nehmen, dann schaffe ich es vielleicht, für eine Stunde auf den Beinen zu sein.“ Wenn Nina „auf den Beinen“ sagt, meint sie, dass sie kurz aufrecht sitzen kann. „Nach einer Stunde muss ich mich wieder ganz flach hinlegen in einem dunklen Raum“, erklärt die junge Frau. Ansonsten verbringt sie ihren Tag mit Podcasts, Social Media und Meditation. Gehen kann sie so gut wie gar nicht. Draußen ist sie nur für Arzttermine. Mittlerweile hat Nina einen Pflegegrad und wird von ihrem Partner unterstützt.

Häufig sind die Symptome der Betroffenen so unspezifisch – von Kopfschmerzen bis hin zu Atemaussetzern ist alles möglich –, dass sie Ärzte verschiedener Fachrichtungen aufsuchen, jedoch keine Ursache für die diffusen neurologischen Symptome gefunden werden kann. „Die typischen Symptome sind Kopfschmerzen, Schwindel und Nackenschmerzen. Häufig sind außerdem vegetative Begleiterscheinungen wie Herzrhythmusstörungen, Parästhesien der Finger und Hände, Sehstörungen, Tinnitus und Hörstörungen. Theoretisch kann jedes erdenkliche Symptom durch die CCI verursacht werden“, sagt Dr. Bernhard Salomon, Facharzt der Rehabilitationsmedizin in Weiden. Der Mediziner praktiziert seit 30 Jahren und hat sich auf die Behandlung der Halswirbelsäule, insbesondere deren Instabilität, spezialisiert. In den letzten 15 Jahren hat Salomon mehr als 1.000 Patienten erfolgreich behandelt.

Häufig werden die Patienten aufgrund der diffusen Symptomatik fälschlicherweise als psychisch krank eingestuft. „Viele, die sich als Fachexperten ausweisen, haben nicht immer die Expertise, die sie vorgeben. Und viele der Patienten, bei denen man einen vermeintlichen Normalbefund findet und nicht weiter weiß, werden dann weggeschickt, und es wird alles auf die Psyche geschoben. Es gibt nur wenige Ärzte, die sich gerade mit der oberen Halswirbelsäule wirklich gut auskennen“, sagt Orthopäde Wagner.

Eine falsche psychische Diagnose kann für Betroffene dazu führen, dass ihre körperlichen Beschwerden – sogar lebensbedrohliche – im weiteren Verlauf nicht mehr ernst genommen werden. „Dadurch nehmen die Beschwerden im Laufe der Jahre immer weiter zu. Schmerzen chronifizieren sich, und die Patienten werden auf allen körperlichen Ebenen chronisch krank“, erklärt Rehabilitationsmediziner Salomon.

Obwohl die meisten Betroffenen für ihren Krankheitsbeginn einen klaren Auslöser benennen können – am häufigsten werden Auffahrunfälle erwähnt – erleben manche einen eher schleichenden Verlauf mit gradueller Steigerung der Symptomatik. Zoran ist einer dieser Fälle.

Zoran

Zoran ist 27 Jahre alt und lebt seit 2016 mit einer instabilen Halswirbelsäule ohne klaren Auslöser. Alles fängt mit Muskelverspannungen und Kopfschmerzen an. Später kommen Sehstörungen und starke Nackenschmerzen hinzu. „Im Januar 2017 wurde dann alles viel schlimmer. Ich hatte wahnsinnigen Druck in den Augen, dazu kamen Schwindel und vermehrt Sehstörungen und Fatigue“, sagt Zoran. Schlagartig bergab geht es für den jungen Mann nach einem Unfall 2018, bei dem er stürzt und sich den Kopf anstößt.

2019 erhält Zoran dann mittels Upright-MRT die Diagnose Craniocervical instability (CCI). „Mit dem Upright-MRT stößt man in Deutschland auf recht viele Ärzte, die die Diagnose nicht akzeptieren. Dementsprechend blieb mir nichts anderes übrig, als viele konservative Therapien auszuprobieren.“

Über die nächsten Jahre versucht Zoran, mit Osteopathie, kraniosakraler Therapie und Muskelkräftigung der Instabilität entgegenzuwirken. Neben der CCI werden bei dem jungen Mann außerdem eine intrakranielle Hypertension, ein posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom und das Hypermobilitätssyndrom festgestellt. „Auch dafür habe ich nicht viel Unterstützung gefunden.“ Oft wurden die Symptome auf die Psyche geschoben, sodass Zoran viel auf sich alleine gestellt war. „Mittlerweile sind die neurologischen Beschwerden ein wenig besser geworden, aber sie schränken meinen Alltag trotzdem ein.“

Die Symptome beeinflussen, wie weit sich Zoran körperlich belasten kann. Er kann nicht weit gehen und bei der Physiotherapie nicht so viel trainieren, wie er sich das wünschen würde. „Man ist halt arg auf sein Haus beschränkt, und bei vielen Dingen brauche ich da auch noch Hilfe.“ Seine Beschwerden managt der junge Mann hauptsächlich mit Schmerzmedikation, Eigenübungen, Physiotherapie, stationärer Schmerztherapie und begleitender Psychotherapie.

Diagnostik und Therapie sind schwierig

Klare Richtlinien für die Diagnostik gibt es nicht. Im normalen Röntgen oder MRT werden meist keine Auffälligkeiten gefunden. „Notwendig ist eine Funktionsdiagnostik, entweder konventionell via Röntgen oder im offenen Kernspintomograf, in dem eine Bewegung des Kopfes in aufrechter Position möglich ist. Diese Untersuchungen werden selten durchgeführt. Der erfahrene Manualtherapeut kann eine Instabilität der HWS außerdem zielsicher ertasten. Das erfordert aber eine gute Zusatzausbildung, die im Studium nicht gelehrt wird, und langjährige Erfahrung“, sagt Salomon. „Das Schwierigste in der Diagnostik ist: Wie definiert man die Instabilität? Da streiten sich die Fachmeinungen. Und ein weiteres Problem ist auch, dass manche Untersuchungen nur dann richtig aussagekräftig sind, wenn der Patient komplett entspannt ist oder schon fast unter Narkose“, fügt Wagner hinzu.

In der aktuellen Literatur wird immer häufiger empfohlen, statt eines statischen MRTs bevorzugt Bildgebung in Bewegung durchzuführen, z. B. Upright-MRT in Flexion und Extension, CT in Rotation oder Digital Motion X-Rays (DMX). Auch die altbekannten Röntgenaufnahmen nach Sandberg kommen, wenn auch selten, zum Einsatz. Auf statischen Aufnahmen sieht die Halswirbelsäule von Menschen mit Instabilität oft nur wenig auffällig aus. Werden die Betroffenen aber im Sitzen unter Bewegung abgelichtet, wird plötzlich gar eine Hirnstammkompression sichtbar. Zusätzlich werden auf diesen Bildern dann verschiedene Winkel gemessen, wie die Rotation zwischen Atlas und Axis, um eine atlantoaxiale Instabilität festzustellen und Messungen wie der clivo-axial angle (CXA), Harris, und Grabb-Oakes zur Diagnostik der CCI. Doch nicht immer korrelieren diese Werte auch mit dem Erscheinungsbild des Betroffenen. „Wir haben oft Patienten, die haben schlimm aussehende Wirbelsäulen, aber nur ganz marginale Schmerzen, und andere, bei denen man fast nichts sieht, können ausgeprägte Schmerzen haben“, erklärt Wagner.

Ähnlich komplex wie die Diagnostik verhält es sich auch mit der Therapie. Verletzungen der oberen Halswirbelsäule werden bevorzugt konservativ behandelt - mittels einer Kombination aus Halskrause, Medikamenten zur Schmerzlinderung und Physiotherapie zur Stärkung der Muskulatur. „Es kommt auf die Ursache der Instabilität an – darauf, ob sie nach einem Unfall aufgetreten ist, ob es Bandverletzungen gibt, ob es auffällige anatomische Varianten oder Knochenfehlbildungen und neurologische Begleitsymptome gibt. Je nachdem wird behandelt. Wenn eine Instabilität als Diagnose steht, wird erst einmal konservativ behandelt und versucht zu stabilisieren, das heißt, zunächst Muskeln mittels Training aufzubauen“, erklärt Wagner. An letzter Stelle steht die Versteifungsoperation, bei der der Kopf mit der Halswirbelsäule fest verschraubt wird – ein großer, invasiver Eingriff, der immer erst in Erwägung gezogen wird, wenn alle anderen Therapien ausgeschöpft sind. Für viele Betroffene gibt es diese Option jedoch gar nicht, da sie häufig keinen konkreten Ansprechpartner in Deutschland oder Österreich finden. Generell sind Ärzte, die sich mit dem Krankheitsbild auskennen – ob für die konservative oder operative Behandlung – rar. „Das liegt daran, dass Medizinstudenten und angehende Ärzte in Deutschland in Bezug auf dieses Krankheitsbild nur unzureichend ausgebildet werden. Die Erfahrungen und Erkenntnisse im Zusammenhang mit CCI haben sich bisher wissenschaftlich noch nicht durchgesetzt. Empirie spielt in Deutschland keine Rolle“, sagt Salomon.

Mögliche Folge: Myalgische Enzephalomyelitis?

Für einige Betroffene führt die Instabilität der oberen Halswirbelsäule zu weiteren Folgeerkrankungen wie Rückenmarksschäden, Dysautonomie oder chronischen Schmerzen. Ein Krankheitsbild steht derzeit besonders im Fokus. Es wird diskutiert, ob die Myalgische Enzephalomyelitis (ME) bei manchen Patienten eine Folge der CCI sein könnte. Jennifer Brea, die den oscarnominierten Dokumentarfilm „Unrest“ produziert hat, beschreibt in einer Serie von Artikeln die vollständige Remission ihrer ME nach Versteifungsoperation der oberen HWS. Weitere Betroffene haben sich ebenfalls nach dem Eingriff als geheilt bezeichnet. Wissenschaftlich bewiesen wurde dieses Phänomen noch nicht, aber in einer Studie des Karolinska Instituts in Schweden konnte ein Zusammenhang zwischen intrakranieller Hypertension, Hypermobilität, CCI und ME festgestellt werden. Dennis ist einer dieser Betroffenen.

Dennis

Dennis ist 24 Jahre alt und seit 2017 von schwerer ME betroffen. Er verbringt den ganzen Tag in seinem Bett und wird hauptsächlich von seiner Mutter gepflegt. Vor seiner Erkrankung hat Dennis erfolgreich Wirtschaftsinformatik studiert; heute kann er sich kaum bewegen. „Körperlich geht es mir sehr schlecht, meine verfügbare Energie würde ich auf fünf Prozent vom gesunden Normalzustand schätzen. Meine kognitiven Einschränkungen, die hauptsächlich eine quantitative Begrenzung zur Folge haben, würde ich auf 20 Prozent schätzen“, sagt der junge Mann. Das Interview führen wir schriftlich, sodass Dennis jeden Tag nur eine Frage beantworten muss.

Sein tägliches Leben beschränkt sich auf Dinge, die er im Bett tun kann. „Nach fünf bis acht Stunden Schlaf wache ich mit stark pochendem Herzen, lautem Tinnitus und ausgeprägter Lärm- und Stressempfindlichkeit auf. In den ersten ein bis zwei Stunden danach findet die meiste Aktivität ausschließlich in meinen Gedanken statt.“

Zusätzlich kann Dennis nur noch wenige Lebensmittel essen. Seine Diät beschränkt sich auf Zucchini, Brokkoli und mageres Fleisch – auch zum Frühstück. Nach dem morgendlichen Essen kann er kurz am Smartphone aktiv sein, das an einer Halterung über ihm angebracht ist. Seine Aktivität ist limitiert auf Podcasts und das Internet mit diversen Ruhepausen. „Die sehr schöne Ausnahme zum Alltag, auf die ich mich immer Tage zuvor freue, sind die wöchentlichen Besuche meiner Freundin.“

Krank ist Dennis bereits, seit er zwölf Jahre alt ist und sich mit EBV angesteckt hat. Danach hat er ständig Infekte – bis zu 15 Mal pro Jahr. Mit 16 verletzt er sich zusätzlich an der HWS und lebt seither mit dauerhaftem Schwindel, für den er bereits damals zehn Ärzte aufsuchte. „Keiner konnte mir helfen, und irgendwann habe ich es einfach hingenommen. Erst 2019, nachdem ich schon 1,5 Jahre wegen sehr schwerer ME bettlägerig war, habe ich erneut die Suche nach ärztlicher Hilfe bezüglich der HWS-Probleme aufgenommen und dann 2020 von zwei Experten unter anderem die Rückmeldung bekommen, dass ich an CCI leide“, sagt Dennis.

Mittlerweile hat Dennis Pflegegrad vier und kann kaum noch sprechen. Eine Halswirbelsäulenoperation soll ihm in der Zukunft zu mehr Lebensqualität verhelfen. „Meine Halswirbelsäule sollte noch mehr untersucht werden, um dann die genauen chirurgischen Maßnahmen festzulegen.“

Mehr Forschung ist nötig

Wie genau die Zusammenhänge zwischen der Instabilität der oberen Halswirbelsäule und diversen Folgeerkrankungen sind, welche Diagnosekriterien angewandt werden und welche Therapie letztlich zur Verbesserung führt, ist derzeit eher unklar. In all diesen Bereichen mangelt es an klaren Studien mit Langzeiterfolgen und -auswirkungen.

Zwei Betroffene, Simone und Harald, die beide nach einem schweren Schleudertrauma eine Instabilität entwickelt haben, setzen sich genau dafür ein. Sie lenken mehr Aufmerksamkeit auf das Krankheitsbild, um langfristig die Versorgung der Betroffenen in Deutschland und Österreich zu verbessern und die Politik, als auch die Ärzte zu mehr Forschung zu motivieren.

Harald

Harald ist 57 Jahre alt und lebt in Österreich. Seine Symptome reichen zurück bis ins Jahr 2007, als er einen schweren Verkehrsunfall hat. Das erste Problem, das sich fünf Monate später zeigt, sind Mouches volantes in den Augen, für die Harald einen Augenarzt aufsucht. Danach gesellen sich Schwindel, eine Persönlichkeitsveränderung, ständiges Schwitzen, Kopfschmerzen, Krämpfe, Schmerzen und Tinnitus hinzu. Aufgrund seiner Erkrankung verliert er seinen Job, findet jedoch schnell wieder eine Anstellung, für die er jedoch 7.000 Kilometer pro Monat im Auto umherreisen muss. Bis 2012 halten sich die Symptome in Grenzen, doch dann geht es für Harald plötzlich steil bergab. Als er zwei Jahre nach der akuten Verschlechterung zum ersten Mal eine Ärztin auf den Zusammenhang zwischen seinen Symptomen und dem Unfall anspricht, überweist diese ihn an die Psychiatrie. „Meine Hausärztin verschrieb mir sofort eine psychosomatische Reha. Gebracht hat die nicht viel,“ sagt Harald.

Im Juni 2014 verbringt er vier Wochen stationär in einer psychosomatischen Klinik. Dort nimmt er unter anderem an einem ausgiebigen Trainingsprotokoll und entspannenden Therapien teil, etwa Muskelentspannung nach Jacobsen. „Die Reha tat ganz gut, aber nach drei Wochen war wieder alles wie zuvor“, sagt Harald. Ende 2014 muss Harald seinen Beruf aufgeben und kann bis heute keine Tätigkeit mehr ausführen. „Seither kämpfe ich gegen Verwaltungsgericht, Sozialgericht, und viele andere. Dreimal wurde meine Pension schon abgelehnt.“ In der Folge versucht er alle möglichen physikalischen Therapien, inklusive Atlastherapie, die seine Symptome noch weiter verschlechtert.

Erst 2017 hört Harald zum ersten Mal von der Erkrankung CCI und veranlasst ein Upright-MRT. Zehn Jahre nach dem schweren Unfall bekommt er endlich die Diagnose, die ihm jedoch kaum ein Arzt oder Gutachter glaubt. Als Reaktion auf die Unwissenheit und die lange Odyssee baut Harald eine Website mit dem Namen „Schleudertrauma Selbsthilfe“ auf, aus der inzwischen ein Verein hervorgegangen ist. Dort informiert er über das Krankheitsbild und stellt für die Betroffenen seine jahrelange Erfahrung zur Verfügung, auf dass es anderen Menschen in Zukunft besser ergehe als ihm. Das Gegenstück zu Harald in Österreich ist Simone in Deutschland.

Simone

Simone ist 44 Jahre alt und lebt seit 2004 mit Symptomen der HWS-Instabilität. „Mir war häufig übel, was ich bis dahin gar nicht kannte, und im Kopf machte sich ein merkwürdiges Benommenheitsgefühl breit. Hinzu kam, dass ich oftmals ziemlich schnell zur Toilette rennen musste, weil sich mein ganzer Magen-Darm-Trakt zusammenzog“, sagt Simone. Den genauen Auslöser kann sie nicht benennen; geht aber davon aus, dass ein Autounfall, eine darauffolgende Zahn-OP unter Vollnarkose und ein Unfall beim Judo kombiniert die Übeltäter waren.

Über die nächsten drei Jahre sucht sie alle möglichen Fachärzte auf: Gastroenterologen, Orthopäden, Neurologen, Neurochirurgen und viele mehr. „Es hat von Frühjahr 2004 bis Herbst 2007 gedauert, bis ich einen Arzt gefunden hatte, der sich mit Verletzungen im Bereich der Kopfgelenke und den daraus resultierenden Folgen für den ganzen Körper auskennt“, sagt Simone. Durch Blutuntersuchungen, Bildgebung in einer Klinik für konservative manuelle Orthopädie, ein Upright-MRT, eine neurootologische Untersuchung und eine neuropsychologische Testung wird bei Simone CCI diagnostiziert.

Ihren Zustand hält Simone durch regelmäßige Bewegung, manuelle Therapie, Muskelstärkung und Osteopathie einigermaßen stabil. Sie hat mittlerweile zwei Bücher zum Thema veröffentlicht. „Als ich im Jahr 2016 für dienstunfähig erklärt wurde, musste ich das erst mal sacken lassen. Rente mit 39 ist schließlich nicht alltäglich. Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren konnte ich einfach nur durchatmen und musste nicht mehr um die Anerkennung meiner Beschwerden kämpfen. Um all die Geschehnisse für mich aufzuarbeiten, begann ich meine Geschichte aufzuschreiben“, erklärt Simone.

In „Wackelköpfchen“ (2016, ISBN 978-3-7345-6017-0), ihrer Biografie, spricht die 44-Jährige über ihre eigenen Erfahrungen mit der schweren Erkrankung. Kurz darauf veröffentlicht sie ein zweites Buch, den „HWS-Stammtisch“.

„Mit meinem zweiten Buch möchte ich in erster Linie Aufmerksamkeit für ein in Deutschland und Österreich vernachlässigtes Krankheitsbild schaffen. Durch die Bündelung vieler Geschichten, die individuell, aber zugleich auch von vielen Gemeinsamkeiten geprägt sind, werden die Probleme von Menschen mit CCI klar aufgezeigt.“

Wie man Betroffenen helfen kann

Für Patienten ist es vor allem wichtig, Ärzte zu finden, die zuhören und mit ihnen gemeinsam eine Lösung finden. Alle Betroffenen in diesem Artikel wurden unzählige Male falsch diagnostiziert und oft nicht ernst genommen; sie mussten außerdem fast ausschließlich selbst zu ihrem Krankheitsbild recherchieren und diverse Therapien ausprobieren. Sie haben daher meist ein breites Wissen zu ihrer Erkrankung und auch davon, was ihnen hilft oder schadet.

Von ärztlicher Seite ist es deshalb umso wichtiger, mit den Betroffenen als Team zu fungieren, ihnen zu glauben und gemeinsam ein passendes Therapiekonzept zu finden. Für Mediziner ist die Behandlung dieser Patienten sicher komplex und erfordert viel Zeit und Fingerspitzengefühl. Die Betreuung kann aber gleichermaßen so befriedigend sein, denn mit CCI-Betroffenen arbeitet man mit Patienten, die über eine überdurchschnittlich hohe Compliance verfügen und sehr resilient sind.

Wagner und Salomon haben diese Vorteile bereits erkannt, trotzdem muss sich noch viel tun, bis alle Betroffenen die Anerkennung erhalten, die sie verdienen. „Ich würde mir wünschen, dass Erfahrungsmedizin einen höheren Stellenwert in der Ausbildung bekommt. Meine Hoffnung liegt in der Verbreitung von Wissen durch positives Feedback in den sozialen Medien, in Foren und Blogs sowie das Aufgreifen der Thematik durch spezielle wissenschaftlich-orientierte Gruppen. Zu diesem Zweck ist die Gründung einer internationalen Ärztegesellschaft für HWS-Patienten geplant“, sagt Salomon.

Der Einsatz der wenigen Experten zusammen mit Betroffenen wie Simone, Harald und all den anderen, die öffentlich über ihre Erkrankung sprechen, wird sich hoffentlich bald auszahlen, sodass keiner der Betroffenen mehr über Jahre hinweg körperlich und mental geschädigt oder gar, wie im Tatort, bis an den Rand der Verzweiflung getrieben wird.

Metadaten
Titel
Seltene Erkrankungen
Wackeldackel: Vom Leben mit kraniozervikaler Instabilität
Publikationsdatum
01.08.2021
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 20/2021

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