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Ärzte Woche

16.12.2022 | Seltene Erkrankungen

Zu beweglich, um gesund zu sein

verfasst von: Karina Sturm

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Der erste Patientenratgeber über die Ehlers-Danlos-Syndrome ist erschienen. Neben medizinischem Fachwissen gibt es praktische Tipps für Betroffene – von der Diagnosefindung bis hin zu  Therapieoptionen. 18 Videointerviews mit Experten ergänzen das Angebot.

Die Ehlers-Danlos-Syndrome (EDS) sind eine Gruppe angeborener, vererbbarer Bindegewebserkrankungen, die entweder die Kollagene selbst oder Enzyme und andere Proteine, die am Aufbau dieser beteiligt sind, betreffen. Da Bindegewebe der „Kleber“ ist, der alles im Körper zusammenhält, können die EDS zu Symptomen in allen Bereichen führen, etwa an Gelenken, Gefäßen, am Herzen, Magen-Darm-Trakt und vielen mehr.

Die Häufigkeit

Die Ehlers-Danlos-Syndrome treten bei einem von 5.000 Menschen auf, wobei manche Typen deutlich seltener sind. Außerdem geht man mittlerweile davon aus, dass der häufigste Typ, das hypermobile EDS (hEDS), bei bis zu 1 : 500 vorkommt und somit womöglich gar nicht selten ist, sondern nur selten erkannt wird. Alle EDS-Typen haben eine Gelenks- und Hautbeteiligung gemeinsam. Sonst unterscheiden sich die Ausprägungen von Typ zu Typ.

Die Klassifikation

Eingeteilt wurden die Ehlers-Danlos-Syndrome bis 2016 anhand der Villefranche-Nosologie. Diese differenziert sechs Haupttypen und einige seltene Typen anhand genetischer Merkmale und des äußeren Erscheinungsbilds. Die Villefranche- Nosologie hat 1997 die Berlin-Nosologie abgelöst. 2017 wurde dann die aktuelle New-York-Klassifikation eingeführt. Über die vergangenen Jahrzehnte hat sich das Wissen zu den Ehlers-Danlos-Syndromen stark erweitert. Während man in der Berlin-Nosologie hauptsächlich auf Gelenke und Haut fokussiert war, weiß man heute, dass die EDS eine komplexe Multisystemerkrankung mit orthopädischer, kardiovaskulärer, neurologischer und anderen Beteiligungen ist ( siehe Abb. 1 ).

Die Verdachtsmomente

„If you can’t connect the issues, think connective tissues“, Dr. Heidi Collins. Was die Medizinerin damit meint, ist, dass viele EDS-Betroffene vielfältige Beschwerden in mehreren Organsystemen zeigen und diese Symptome für viele Ärzte auf den ersten Blick in keinem Zusammenhang stehen. Wenn man dann aber an Bindegewebe denkt und anfängt, die Puzzleteile zusammenzusetzen, ergibt sich plötzlich ein klares Bild: EDS. Aufgrund der diversen Beschwerden landen Menschen mit EDS bei unzähligen verschiedenen Experten. Orthopäden oder Physiotherapeuten und Rheumatologen müssten beispielsweise aufhorchen, wenn sie bei Patienten eine Hypermobilität der Gelenke, frühen Gelenkverschleiß und chronische Schmerzen an vielen Stellen im Körper feststellen.

Auch Hausärzte können EDS entdecken, beispielsweise bei Betroffenen, die über chronische Müdigkeit und Erschöpfung, Hämatome am ganzen Körper ohne Ursache, Darm- und Kreislaufbeschwerden und Überbeweglichkeit berichten. Auch in allen anderen Fachrichtungen können EDS-Betroffene auftauchen und über verminderte Wirkung von lokalen Betäubungsmitteln, Hernien, schlechter Wundheilung, Hautauffälligkeiten, Raynaud-Syndrom, Uterus- und Rektumprolaps und vieles mehr berichten. Verdachtsmomente gibt es viele, doch nur wenn die behandelnden Ärzte den gesamten Körper betrachten, ergibt sich ein klares Bild.

Die Diagnostik

Die Diagnostik folgt einem Stufenprinzip, das aus der eigenen Anamnese, Familienvorgeschichte, klinischer Untersuchung und genetischer Testung besteht. Man kennt derzeit für fast alle Ehlers-Danlos-Syndrome einen genetischen Auslöser, nur noch nicht für den häufigsten Typ, das hypermobile EDS. Das heißt, die meisten Ehlers-Danlos-Syndrome lassen sich heute via Gentest untersuchen und oft, aber leider nicht immer, per Genanalyse nachweisen.

Wird eine sicher krankheitsverursachende Variante in einem EDS-relevanten Gen identifiziert, gilt das Vorliegen eines EDS als bewiesen. Das hypermobile EDS nimmt eine Sonderstellung ein, da es im Moment ausschließlich mittels klinischer Untersuchung nachgewiesen werden kann. Um das hEDS sicher festzustellen, müssen verschiedene Kriterien erfüllt sein.

Im Zentrum der Diagnostik steht bei allen Typen der Beighton Score . Der Beighton Score bestimmt, wie hypermobil die Gelenke sind. Er vergibt Punkte für bestimmte Fähigkeiten. Je ein Punkt pro Seite für:

  • Überstreckbarkeit der Knie über 10 Grad (im Stehen)
  • Überstreckbarkeit der Ellbogen über 10 Grad
  • Anlegen des Daumens an das Handgelenk möglich (bei gestrecktem Arm)
  • Überstreckbarkeit der kleinen Finger über 90 Grad
  • Und ein zusätzlicher Punkt, wenn mit den Handflächen bei durchgestreckten Knien der Boden berührt werden kann.

Für sich allein kann der Beighton Score nicht zur Diagnostik genutzt werden. Jedoch ist das gemeinsame zentrale Symptom bei allen Ehlers-Danlos-Syndromen die mehr oder weniger ausgeprägte Hypermobilität. Daher muss die Beweglichkeit der Gelenke untersucht werden und derzeit ist der Beighton Score die Methode der Wahl, auch wenn er nur wenige Gelenke isoliert betrachtet.

Die Differenzialdiagnostik

Außerdem muss bei Bedarf eine umfangreiche Differenzialdiagnostik durchgeführt werden, um andere überlappende Bindegewebserkrankungen auszuschließen. Aufgrund der Komplexität der Erkrankung werden viele EDS-Betroffene über Jahre oder Jahrzehnte falsch diagnostiziert, was zu großem körperlichen, psychischen, aber auch finanziellen Schaden führen kann. Ohne das Vorliegen einer Diagnose erhalten die Patienten falsche oder nicht adäquate Behandlungen, die zu Schäden an Gelenken führen, erleiden psychische Verletzungen und stehen vor großen Herausforderungen bei der Beantragung von Hilfsmitteln oder sozialen Leistungen, die für Betroffene oft zwingend lebensnotwendig sind.

Die Komorbiditäten und Therapie

Die Ehlers-Danlos-Syndrome sind zusätzlich oft mit diversen Begleiterkrankungen, wie Dysautonomie (meist posturales orthostatitsches Tachykardie-Syndrom), Mastzellaktivierungs-Syndrom, kraniozervikaler Instabilität, Chiari-Malformation, Small-Fiber-Neuropathie, Osteoporose, Gastroparese, Herz- und Gefäßerkrankungen, Hernien und Prolaps und vielen anderen, assoziiert. Neben den typischen EDS-Symptomen leben Betroffene daher häufig noch mit einer Vielzahl an weiteren ebenfalls multisystemischen Erkrankungen, die die Behandlung deutlich erschweren.

Die Therapie der EDS richtet sich nach den persönlichen Beschwerden der Betroffenen, aber besteht meist aus einer Kombination verschiedener Verfahren. Die wichtigste Säule ist die Schmerztherapie, die bei EDS wie bei vielen anderen chronischen Erkrankungen aus einem integrativen und multidisziplinären Konzept besteht. Neben der medikamentösen Therapie kommen etwa Physiotherapie, Entspannungsverfahren, Ergotherapie, Gesprächstherapie und allgemeine Bewegung zum Einsatz. Die meisten EDS-Betroffenen nutzen zudem verschiedene Hilfsmittel wie Orthesen, Bandagen, Mobilitätshilfen, um im Alltag besser zu funktionieren. Und natürlich müssen alle Begleiterkrankungen individuell und gleichzeitig ebenso gemanagt werden, denn sie beeinflussen sich gegenseitig. Um die EDS erfolgreich zu behandeln, bedarf es meist eines Teams an Ärzten verschiedener Fachrichtungen, die mit den Betroffenen auf Augenhöhe arbeiten, um die bestmögliche Lebensqualität zu erreichen.

Metadaten
Titel
Zu beweglich, um gesund zu sein
Publikationsdatum
16.12.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 49/2022

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