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Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 1/2023

Open Access 01.04.2023 | Leitthema

Schulische Inklusion in Österreich

Ausgangslage – Entwicklungen – Chancen – Herausforderungen

verfasst von: Prof. Dr. Gottfried Biewer

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Sonderheft 1/2023

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Zusammenfassung

Der Beitrag zur schulischen Inklusion in Österreich versucht, eine Bestandsaufnahme zum schulischen Sektor zu machen, gleichzeitig aber auch Punkte zu benennen, die für künftige Entwicklungen relevant sein können. Das 1993 eingeführte Elternwahlrecht für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf ermöglicht die Wahl zwischen integrativer und Sonderbeschulung, wobei sich beide Systeme die Waage halten. Da die UN-Behindertenrechtskonvention die Einführung inklusiver Strukturen empfiehlt, wurden Maßnahmen zur Förderung des inklusiven Unterrichts in den Nationalen Aktionsplan aufgenommen, bisher aber nur halbherzig und in geringem Ausmaß umgesetzt. Umgesetzt wurde aber die Reform der Lehrer*innenbildung mit einem Schwerpunkt Inklusive Pädagogik. Was fehlt, sind die ministeriellen Steuerungsmaßnahmen.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Dieser Beitrag zur schulischen Inklusion in Österreich versucht eine Bestandsaufnahme zum schulischen Sektor zu machen, aber gleichzeitig Punkte zu benennen, die für zukünftige Entwicklungen relevant sein können.

Ausgangslage

Größe und auch das Ausmaß der Differenzierung von Sonderschulen unterscheidet die deutschsprachigen Länder von den meisten anderen europäischen Staaten. Ähnlich wie Deutschland und die Schweiz hatte Österreich bis zur Mitte der 1990er-Jahre ein ausgebautes Sonderschulsystem. Neben den strukturellen Gemeinsamkeiten gab es aber schulgeschichtlich bedingt Unterschiede bei der Größe des Sonderschulsektors. Die Quote der Schüler*innen, denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugeschrieben wird, war in Österreich traditionell niedriger als in Deutschland oder der Schweiz. Im Jahr 1993 waren es etwas weniger als 3 %, verglichen mit etwa 5 % in Deutschland [1].
Für Österreich gab es einen entscheidenden Schritt zur Abkehr von segregierenden Strukturen durch eine Änderung des Schulorganisationsgesetzes im Jahr 1993, die ein Elternwahlrechts zwischen Sonderschule und integrativer Beschulung für den Primarstufenbereich einführte. Dem folgte eine Ausweitung dieser Regelung 1996/97 auf die Sekundarstufe I, also das 5.–8. Schulbesuchsjahr der Kinder. Bezogen auf das Pflichtschulalter im 1.–8. Schulbesuchsjahr lag die Quote der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) in Österreich 2006 bei etwa 3,5 %. Aktuelle Zahlen geben etwa 3,8 % der Kinder im Pflichtschulalter an, wobei es bereits seit Langem Probleme bei der statistischen Erfassung und Dokumentation der Quoten gibt. Die Zahl liegt deutlich unter derjenigen der deutschen Bundesländer, wo die Quote der Kinder mit SPF nach den Zahlen der deutschen Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 2014 bei 6,6 % lag und bisher auch nicht gesunken ist [2].
Auf diese Unterschiede sollte hingewiesen werden, auch wenn die Schulsysteme der beiden Nachbarländer ansonsten viele Ähnlichkeiten aufweisen. Mit der Einführung des Elternwahlrechts konnten Schulen Integrationsklassen einrichten für jeweils 4–6 Schüler mit SPF in der Klasse, die während der gesamten Woche mit zwei Lehrkräften, einer Regelschul- und einer Sonderschullehrkraft, besetzt sind. Dies ist seither das gängige schulische Integrationsmodell in den Städten in Volks- und Mittelschulen. Die Zahl der Integrationsklassen in Höheren Schulen ist äußerst gering, obwohl alle Schulen die rechtlichen Möglichkeiten hätten, solche Klassen einzuführen. Integrationsklassen im Sekundarstufenbereich sind daher fast nur an den Neuen Mittelschulen angesiedelt. Der Anteil von Integrationsklassen an höheren Schulen ist hier über die Jahre gleichbleibend gering geblieben. Die Gründe liegen nicht zuletzt auch an der mangelnden Bereitschaft der Schulleitungen und Lehrkräfte, diese Klassen zu etablieren.
Stützlehrerklassen sind das Modell der Integration im ländlichen Bereich, wo es nicht möglich ist, genügend Schüler mit SPF zusammen zu bekommen, um eine Integrationsklasse zu bilden. Bei nur 1–2 Kinder steht die Sonderschullehrkraft nur zeitweise für Unterstützung und Beratung zur Verfügung.
Von der Einführung des Elternwahlrechts zwischen Integration und Sonderbeschulung in der Mitte der 1990er-Jahre bis zum Jahr 2004 gab es im Bundesdurchschnitt einen jährlichen Anstieg der Quote integrativ beschulter Kinder. Seitdem ist die Quote weitgehend unverändert und weist etwa die eine Hälfte der Kinder mit SPF als Sonderschüler*innen aus und die andere Hälfte als integrativ beschult.
Trotz einheitlicher Bundesgesetzgebung im Bildungsbereich gibt es Bundesländer, in denen der Sonderschulbesuch klar dominiert, und solche, die überwiegend integrative und inklusive Strukturen haben. So haben etwa Tirol und Niederösterreich überwiegend sonderschulische Strukturen, während in den südlichen Bundesländern, insbesondere in der Steiermark die integrativen Strukturen bereits seit vielen Jahren überwiegen. Auf den ersten Blick mag es verwunderlich erscheinen, dass bei einer einheitlichen Bundesgesetzgebung solche regionalen Ausdifferenzierungen entstehen. Über die Ursache gibt es Vermutungen, keine empirischen Belege. So wird ein Zusammenwirken von unterschiedlichen Faktoren unterstellt, die zu diesen Effekten führen: Die Priorisierungen der lokalen Schulbehörden schlagen sich in den Elternberatungen nieder, die vor der Elternentscheidung über die Schulwahl für die Kinder stehen. Die Schulbehörden der Steiermark favorisierten von Anfang an einen integrationsfreundlichen Kurs und bauten entsprechenden Beratungs- und Unterstützungsstrukturen aus, während in Niederösterreich oder Tirol nicht diese Priorisierung erkennbar war. So hat die Steiermark nur noch eine Sonderbeschulungsquote von 0,6 % im Pflichtschulalter, während der österreichische Durchschnitt bei etwa 2 % liegt.

Entwicklungen

Der Nationale Aktionsplan Behinderung (2012–2020) der Bundesregierung legte Ziele und Maßnahmen für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich fest [3]. Da Artikel 24 der UN-BRK die inklusive Bildung proklamiert, mussten auch konkrete Zielsetzung für den Bildungsbereich genannt und entsprechende Maßnahme gesetzt werden.
Dies waren z. T. nur sehr kleine Maßnahmen, die ohnehin schon in der Durchführung waren, wie etwa die Erstellung von Unterrichtsmaterialien für das Fach Englisch. Daneben sind aber auch größere Projekte aufgelistet, wie etwa die Maßnahme 125, die in der Einführung inklusiver Modellregionen bestand mit einem flächendeckenden Ausbau bis 2020 oder Überlegungen zur Veränderung der Lehrer*innenbildung.
Der Nationale Aktionsplan (NAP) wurde zum Abschluss der Laufzeit evaluiert und der Bericht im Herbst 2020 veröffentlicht [4]. Dabei wurden Aussagen getroffen zum gesamten Bildungsbereich von der vorschulischen Bildung über die Schule, die tertiäre Bildung und auch die Erwachsenenbildung und das lebenslange Lernen.
Kritisiert wurde die Ungleichbehandlung von Kindern mit Behinderungen im elementarpädagogischen Bereich, indem für Kinder mit Behinderungen immer noch Ausnahmen für den Besuch des Kindergartens toleriert wurden. Für den schulischen Sektor wurden unzureichende Konzepte und kaum wirksame Pläne zur Umsetzung inklusiver Bildung bemängelt ebenso wie das Fehlen bundesweiter Umsetzungsstrategien und mangelnde Koordination mit den Bundesländern. Der vorgesehene Effekt Inklusiver Modellregionen wurde klar verfehlt, nicht zuletzt, da Anreizsysteme für Schulen, die inklusive Strategien verfolgten, nicht vorhanden waren.
Die Lehrer*innenbildung (NEU) war einer der wenigen Inhalte, bei denen es zwar zu nachhaltigen grundlegenden strukturellen Verbesserungen gekommen ist, ein Konzept für die Finanzierung der Maßnahmen aber fehlte.

Chancen

Der Evaluierungsbericht gab auch Empfehlungen ab, an welchen Zielen sich der neue NAP Behinderung 2022–2030 orientieren könnte und welche Maßnahmen anvisiert werden sollten. So sollte ein Etappenplan zur inklusiven Bildung generiert werden mit konkreten Zeitplänen und einer Nennung der Maßnahmen, die erfolgen sollten. Die Ausnahme für Kinder mit Behinderungen, das letzte Jahr des Kindergartens zu besuchen, sollte entfallen.
Weiterhin sollten finanzielle Anreize für Schulen geschaffen werden, die Umgestaltungen im Sinn von Inklusion vornehmen und eine umfassende Inklusion sollte für die Sekundarstufe II (auch in der Allgemeinbildenden Höheren Schule) sichergestellt werden. Sehr wichtige Punkte wären aber budgetgestützte Steuerungsmechanismen zugunsten inklusiver Schulstrukturen sowie der Verzicht, weiterhin Kindern Sonderschulen zuzuweisen. Als Maßnahme für die Nachhaltigkeit der Veränderungen im Bereich der Lehrer*innenbildung wäre die Finanzierung der Studiengänge zur Inklusiven Pädagogik über die Leistungsvereinbarungen mit den Universitäten. Selbst diese eigentlich selbstverständliche Maßnahme ist das Bildungsministerium in den vergangenen Jahren schuldig geblieben.
Dieser Beitrag hatte im Rückblick auf die Entwicklung schulischer Strukturen in Österreich von Integration gesprochen. Das Konzept auf das die UN-Behindertenrechtskonvention für die Zukunft zielt, lautet aber Inklusion, ein Begriff, der unterschiedlich verwendet wird. Den Begriff Inklusion in Bildungszusammenhängen zu verwenden, führt in der Regel zu Missverständnissen, da er zumeist nicht definiert wird, dafür aber ganz unterschiedliche Theoriefragmente für sein Verständnis herangezogen werden. Sehr häufig wird er als Begriff der Schulentwicklung benutzt. Er gibt eine Richtung an, in die Schule sich entwickeln soll, hin zur Wertschätzung von Vielfalt und zur Veränderung von Strukturen, die Gruppen von Kindern marginalisieren. In diesem Sinn kann Inklusive Pädagogik verstanden werden als Bezeichnung für „Theorien zur Bildung, Erziehung und Entwicklung, die Etikettierungen und Klassifizierungen ablehnen, ihren Ausgang von den Rechten vulnerabler und marginalisierter Menschen nehmen, für deren Partizipation in allen Lebensbereichen plädieren und auf eine strukturelle Veränderung der regulären Institutionen zielen, um der Verschiedenheit der Voraussetzungen und Bedürfnisse aller Nutzer/innen gerecht zu werden“ [5].
Die Frage, ob Inklusive Pädagogik sich primär auf Kinder mit Behinderungen oder Lernproblemen bezieht oder auf all jene, die von Benachteiligungen bedroht sind, oder überhaupt auf alle Kinder, begleitet die aktuelle Diskussion. Man kann von einem weiten und einem engen Begriff ausgehen. Der weite Begriff von Inklusion bezieht sich auf die breite Gruppe vulnerabler und marginalisierter Menschen, wie er in der obigen Definition Inklusiver Pädagogik ebenfalls zum Ausdruck kommt und wie er auch in den „Guidelines for Inclusion“ der UNESCO von 2005 gefasst wird [6]. Ein enger Begriff von Inklusion entspricht eher der Bezugsgruppe, die in der Entstehungszeit des Begriffs in Nordamerika in der 1. Hälfte der 1990er-Jahre verwendet wurde [7].
Die Evaluierung nannte die neue Lehrerbildung für Inklusion als einen der wenigen Bereiche, wo es wichtige Erfolge zu verbuchen gibt auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem.
Die Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems ist eine Aufgabe, für deren Umsetzung der zeitliche Rahmen von einigen Jahren nicht reicht. Dies ist eine Generationenaufgabe, die Lehrkräfte voraussetzt, die diese Inklusion wünschen und sie leben. Daher kommt der Lehrer*innenausbildung auch eine besondere Bedeutung zu. Trotz Reformresistenz in vielen Teilen des österreichischen Bildungswesens ist hier in den letzten Jahren doch Bemerkenswertes geschehen.
Im Jahr 2010 beschloss die österreichische Bundesregierung neue Strukturen für den gesamten Professionalisierungssektor des Bildungswesens für Kinder und Jugendliche zwischen 0 und 18 Jahren zu erarbeiten. Die bestehenden Ausbildungsstrukturen für pädagogische Berufe wurden zur Disposition gestellt und es sollten neue Formen erarbeitet werden. Einer der Vorschläge bestand in der Einführung der Stufenlehrämter für die Primar- und die Sekundarstufe. Insbesondere für die Sekundarstufe führte dies zu sehr weitreichenden Konsequenzen. Die bisherige Trennung in Lehrkräfte höherer Schulen, die ein Universitätsstudium von 4 bis 5 Jahren absolviert hatten und Pflichtschullehrern mit einer 3‑jährigen einphasigen Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen wird durch ein einheitliches Sekundarstufenlehramt ersetzt [8].
Das Primarstufenlehramt ist nach der neuen Lehrerbildung weiterhin Aufgabe der Pädagogischen Hochschulen, allerdings in einem 4‑jährigen, statt einem 3‑jährigen Bachelor, während die Sekundarstufenlehrkräfte an Universitäten in Kooperation mit den Pädagogischen Hochschulen ausgebildet werden. Diese neue Struktur wurde 2013 über ein neues Lehrerbildungsgesetz festgelegt.
Für die Umsetzung wurde diese Kooperation nach 5 Regionen gegliedert. Die Universität Wien stellt mit 4 Pädagogischen Hochschulen den Verbund Nord-Ost dar.
Mit dem Umbau der Lehrerbildung wurde gleichzeitig auch das Sonderschullehrerstudium abgeschafft und Inklusive Pädagogik als verpflichtender Teil des Studiums der Stufenlehrer für Primar- und Sekundarstufe eingeführt. Gleichzeitig wurde eine Spezialisierungsmöglichkeit in Inklusiver Pädagogik für die Stufenlehrämter geschaffen. Möglicherweise ist diese Reform der Lehrer*innenausbildung aktuell der wichtigste Schritt auf dem Wege zur Inklusion, da er langfristig und nachhaltig Strukturen verändern kann. Ich möchte ihm daher in diesem Vortrag auch besondere Aufmerksamkeit widmen.
Den Einteilungen der neuen Studienpläne liegt ein weiter wie auch ein enger Inklusionsbegriff zugrunde. Der weite Inklusionsbegriff bezieht sich auf die Vermittlung allgemeiner Kompetenzen für Inklusion: Jede Lehrkraft verfügt über die Kompetenzen, um mit der Vielfalt der Schülerschaft entlang von Differenzlinien wie z. B. soziales Milieu, ethnische und sprachliche Verschiedenheit, Geschlecht, Begabung, Religion und Behinderung umzugehen.
Bei einem engen Inklusionsbegriff geht es um die Vermittlung spezialisierter Kompetenzen zum Umgang mit Behinderungen, Lernerschwernissen und sozialemotionalen Schwierigkeiten: Eine kleine Gruppe der Lehrkräfte der Regelschulämter verfügt über spezialisiertes Wissen, um gezielte Unterstützung in inklusiven Schulen zu leisten, aber auch um noch in weiterhin bestehende Berufsfeldern in Integrationsklassen und spezialisierten Schulen zu unterrichten.

Herausforderungen

Es ist bemerkenswert, welche Karriere der Begriff Inklusion in den vergangenen Jahren machte. Mit der Agenda 2030 formulierten die Vereinten Nationen im Jahr 2015 insgesamt 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, an denen sich die Weltgemeinschaft bis 2030 orientieren sollte. Das 4. Ziel für nachhaltige Entwicklung ist dem Bereich „Education“ gewidmet und es lautet: „Inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sowie lebenslanges Lernen für alle“. Damit hat sich der Begriff Inklusion zum zentralen globalen Leitziel für Bildung entwickelt [9]. Während bei der UN-Behindertenrechtskonvention ja bereits eine intensive Diskussion über Veränderungsbedarfe erfolgt ist, entwickelt sich in Österreich erst langsam ein Bewusstsein darüber, wie die Situation ist und welche Veränderungsbedarfe sich ergeben. SDG 4 hat 7 Unterziele von 4.1 bis 4.7. Nachfolgend soll aufgezeigt werden, wo in Österreich Lücken bestehen.
Teilziel 4.1 („Primar- und Sekundarschulbildung“): Österreich hat ein weitgehend öffentlich finanziertes Bildungssystem mit einem nur geringen Privatschulsektor. Dies erleichtert sozialen Aufstieg auch für Kinder aus bislang bildungsfernem Elternhaus. Die äußere Selektion für unterschiedliche Schulformen im frühen Alter von 10 Jahren stellt aber ein gewaltiges Entwicklungshemmnis für Schülerinnen und Schüler dar, die aus den unterschiedlichsten Gründen vulnerabel und marginalisiert sind. Insbesondere Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen haben, auch wenn sie integriert werden, nur noch den Kontakt zu einem Teilsegment ihrer Altersgruppe, nämlich denjenigen, die in der Sekundarstufe die neue Mittelstufe besuchen oder Sonderschulen. Eine äußere Selektion hinsichtlich der weiteren Schullaufbahn sollte daher erst ab dem Alter von 14 erfolgen, statt im Alter von 10 Jahren.
Teilziel 4.2. („Frühkindliche Bildung“): Nach der 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern können Kinder mit Behinderungen nach wie vor vom verpflichtenden Kindergartenjahr freigestellt werden. Auch wenn Bundesländer wie z. B. Niederösterreich darauf verzichten, dies umzusetzen, sollten diese diskriminierenden Ausnahmen vom verpflichtenden Kindergartenjahr für Kinder mit Behinderungen aufgehoben werden.
Ausbildungen von Fachpersonal erfolgen immer noch auf dem Level von Schulbildung der Sekundarstufe II in den Bildungsanstalten für Elementarpädagogik, wo überwiegend allgemeinbildende Inhalte vermittelt werden. Im Alter von 18 Jahren werden Absolventinnen ohne weiter Zusatzausbildungen als Gruppenführungen im Kindergarten eingestellt. Inhalte zur inklusiven Bildung sind in diesen Ausbildungen nicht oder kaum vorhanden. Der Ausbildungslevel für Fachpädagoginnen im elementarpädagogischen Bereich liegt an untersten Ende im europäischen Vergleich, wo Ausbildungen in erheblichem Ausmaß im tertiären Sektor erfolgen. Wünschenswert wäre eine bessere Qualifizierung des Fachpersonals im elementarpädagogischen Bereich mit einem Fokus auf inklusive Bildung und Etablierung einer tertiären Ausbildungsschiene auf Bachelor-of-Arts-Niveau als Regelform mit der Option zu weiterer akademischer Qualifizierung.
Teilziel 4.3 („Berufliche und akademische Bildung“): Auch für Jugendliche, die während ihrer Pflichtschulzeit integrative Angebote erfahren haben, wird der Übergang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt schwierig, da inklusive Unterstützungssysteme im berufsbildenden Sektor kaum oder nur punktuell vorhanden sind. Hier sind sowohl passende Formen zu entwickeln wie auch Umsetzungsstrategien zu etablieren. In einem europäischen Projekt hat sich gezeigt, dass Hochschulstudien dort am ehesten möglich sind, wo Assistenzsysteme vorhanden sind. Dies ist nach Bundesländern und Wohnorten in unterschiedlichem Ausmaß und nur sehr lückenhaft gegeben. Eine Etablierung und Ausbau persönlicher Assistenzsysteme für den tertiären Bildungssektor für Menschen mit Behinderungen ist ebenso erforderlich wie eine Verpflichtung der Bildungsinstitutionen zur Herstellung von Barrierefreiheit.
Statt der Qualifizierung von Menschen mit kognitiver Behinderung während des Eintritts in den regulären Arbeitsmarkt wurden Werkstätten mit Arbeits- und Beschäftigungstherapie ausgebaut, die keine weiteren Bildungsvoraussetzungen erfordern. Es sollte eine weitgehende Ersetzung des Ersatzarbeitsmarkts für Menschen mit Behinderung (Werkstätten mit Arbeits- und Beschäftigungstherapie) durch Unterstützungsmaßnahmen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erfolgen.
Teilziele 4.4 und 4.6 („Erwerb relevanter Fähigkeiten beim Rechnen und Schriftspracherwerb auch im Hinblick auf den Beruf“): Die Schulpflicht für Jugendliche mit Behinderungen ist gesetzlich nicht in einem Rahmen festgelegt, der den Erwerb wichtiger Bildungsbestandteile ermöglicht. Da eine Bildungspflicht bis zum Alter von 18 Jahren immer noch nicht gegeben ist, fehlen verbindliche Angebote nicht nur für Jugendliche mit Behinderungen, sondern auch für jugendliche Asylwerber. Es sollte eine Etablierung zusätzlicher schulischer Stützsysteme für Schüler und Schülerinnen mit multiplen Problemlagen erfolgen. Eine verlängerte Schulpflichtzeit bei Jugendlichen mit Behinderungen sollte ermöglicht werden. Ressourcen personeller und materieller Art sollten bevorzugt an Schulen in multiplen Problemlagen vergeben werden.
Zusammenfassend lassen sich Maßnahmen für Österreich aus allen Teilzielen von SDG 4 ableiten. Es gibt Lücken und Bereiche, in denen in den vergangenen Jahren kaum Weiterentwicklungen festzustellen waren. Besonders wären hier zu nennen:
  • die unzureichende Ausbildung und Professionalisierung des elementarpädagogischen Personals,
  • die zu frühe schulische Selektion in der schulischen Laufbahn von Kindern,
  • fehlende Steuerungsmaßnahme hin zur inklusiven Schule,
  • fehlende Umsetzungsschritte zur Etablierung Inklusiver Pädagogik bei der neuen Lehrer*innenbildung und
  • mangelhafte inklusive Strukturen bei Ausbildung und tertiärer Bildung.

Resümee

Integrative Strukturen könnten dann zu inklusiven Strukturen in den Schulen umgebaut werden, wenn passende Steuerungsmechanismen vom zuständigen Bildungsministerium gesetzt würden. Diese sind leider bislang noch nicht zu sehen. Es bleibt zu hoffen, dass das Ministerium die Empfehlungen aus der Evaluierung des NAP Behinderung aufnimmt für die Erstellung des NAP 2022–2030. Die neue Lehrer*innenbildung hat auch in einem internationalen Vergleich mit den gesetzten Strukturen Vorbildliches geleistet. Leider fehlt es an den notwendigen Finanzierungen des zuständigen Ministeriums.
Die Quote der Schüler*innen, die Sonderschulen besuchen, ging trotz der Propagierung inklusiver Bildung nicht zurück. Zum Aufbau inklusiver Strukturen sollten keine weiteren Aufnahmen von Kindern mit Behinderungen in Sonderschulen erfolgen, beginnend mit ersten Klasse der Volksschule und einer jährlichen Ausweitung um jeweils die nächste Schulklasse.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

G. Biewer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Biewer G (2006) Schulische Integration in Deutschland und Österreich im Vergleich. Erziehung Unterr Österr Pädag Z 156(1–2):21–28 Biewer G (2006) Schulische Integration in Deutschland und Österreich im Vergleich. Erziehung Unterr Österr Pädag Z 156(1–2):21–28
2.
Zurück zum Zitat Biewer G (2017) Grundlagen der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik, 3. Aufl. Klinkhardt (UTB), Bad Heilbrunn, S 227CrossRef Biewer G (2017) Grundlagen der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik, 3. Aufl. Klinkhardt (UTB), Bad Heilbrunn, S 227CrossRef
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Zurück zum Zitat Biewer G, Koenig O, Kremsner G, Möhlen L‑K, Proyer M, Prummer S, Subasi Singh S (2020) Evaluierung des Nationalen Aktionsplans Behinderung 2012–2020. Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK), Wien Biewer G, Koenig O, Kremsner G, Möhlen L‑K, Proyer M, Prummer S, Subasi Singh S (2020) Evaluierung des Nationalen Aktionsplans Behinderung 2012–2020. Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK), Wien
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8.
Zurück zum Zitat Biewer G, Proyer M (2018) Lehrer/innenbildung ohne Sonderschullehramt. Chancen und Herausforderungen des Systemwechsels in Österreich. Sonderpädag Förderung Heute 63(3):307–315 Biewer G, Proyer M (2018) Lehrer/innenbildung ohne Sonderschullehramt. Chancen und Herausforderungen des Systemwechsels in Österreich. Sonderpädag Förderung Heute 63(3):307–315
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Zurück zum Zitat UNESCO (2016) Bildung 2030. Incheon Erklärung und Aktionsrahmen. Inklusive und chancengerechte hochwertige Bildung sowie lebenslanges Lernen für alle (deutsche Übersetzung). Deutsche UNESCO-Kommission, Bonn UNESCO (2016) Bildung 2030. Incheon Erklärung und Aktionsrahmen. Inklusive und chancengerechte hochwertige Bildung sowie lebenslanges Lernen für alle (deutsche Übersetzung). Deutsche UNESCO-Kommission, Bonn
Metadaten
Titel
Schulische Inklusion in Österreich
Ausgangslage – Entwicklungen – Chancen – Herausforderungen
verfasst von
Prof. Dr. Gottfried Biewer
Publikationsdatum
01.04.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe Sonderheft 1/2023
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-022-01035-3

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