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Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 1/2023

Open Access 01.04.2023 | Leitthema

Schulen der Zukunft im Licht moderater Skepsis

Selbstkritische Überlegungen zum Nordwestschweizer Bildungsdelphi

verfasst von: Prof. Dr. Carsten Quesel

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Sonderheft 1/2023

Zusammenfassung

Das Nordwestschweizer Bildungsdelphi versucht, bis 2023 Grundlagen für eine Neuorientierung der Schulentwicklung in den nächsten zwei Jahrzehnten durch einen Dialog von Schule, Hochschule, Blidungsverwaltung, Politik und Wirtschaft zu entwickeln. Der Zwischenbericht beleuchtet die bisherigen Ergebnisse selbstkritisch mit Rücksicht auf eine beschränkte Voraussagekraft sozialwissenschaftlicher Daten, die Kontingenz zeitdiagnostischer Vokabulare und die Risiken kollektiver Wahrnehmungsverzerrung.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Das Nordwestschweizer (NW) Bildungsdelphi zielt darauf ab, im Zeitraum 2020–2023 durch einen Dialog von Schule, Hochschule, Bildungsverwaltung, Politik und Wirtschaft Grundlagen für einen Orientierungsrahmen zu den Perspektiven der Schule 2030–2050 zu schaffen. Dieser Beitrag stellt einen kleinen Ausschnitt der Zwischenergebnisse dieses Delphis vor – allerdings nicht mit der Ambition, den bisher erzielten Erkenntnisfortschritt herauszustreichen, sondern im Gegenteil mit der Absicht, selbstkritische Überlegungen zur Aussagekraft und Reichweite von Zukunftsstudien anzustellen: Mein Vorschlag lautet, Probleme der Gegenwart und Projektionen der Zukunft aus dem Blickwinkel moderater Skepsis zu betrachten. Ich stelle zunächst die Beweggründe für diese Skepsis dar, skizziere dann den Ansatz der Delphi-Methode und einige wichtige Befunde von Bildungsdelphis aus den letzten Jahrzehnten, um danach das Vorgehen und den Zwischenstand beim NW-Bildungsdelphi zu schildern. Nach der Diskussion dieses Zwischenstands im Licht moderater Skepsis schließe ich mit einem kurzen Ausblick.

Warum moderate Skepsis?

Das Plädoyer für moderate Skepsis bei Zukunftsstudien speist sich aus drei Beweggründen:
a)
Beschränkte Reichweite sozialwissenschaftlicher Daten: Empirische Forschung führt zu mehr oder minder robustem „Vermutungswissen“ [1] – wobei sich die Naturwissenschaften im Vergleich zu den Sozialwissenschaften als deutlich robuster erweisen und die Unzuverlässigkeit der sozialwissenschaftlichen Aussagen exponentiell zunimmt, je weiter sich die Prognosen in die Zukunft erstrecken. Für politische Ereignisse lässt sich zeigen, dass die Reichweite realistischer Prognosen bei etwa zwölf Monaten liegt [2] – und es lässt sich auch zeigen, dass eine starke Orientierung an einer Doktrin zu extrem unzuverlässigen Prognosen führt [3].
 
b)
Kontingenz zeitdiagnostischen Vokabulars: Für Zukunftsentwürfe bedienen wir uns sprachlicher Mittel, deren Brauchbarkeit an soziale Kontexte der Vergangenheit und Gegenwart gebunden und insofern kontingent ist [4]. Begriffe wie Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit haben eine starke suggestive Wirkung: Einerseits ist ihnen auf der Ebene diffuser Werte kaum zu widersprechen, andererseits kann es auf der Ebene konkreter Normen für die Praxis schnell zu pedantischen Streitigkeiten kommen [5].
 
c)
Risiken kollektiver Wahrnehmungsverzerrung: Die Kommunikation in Zirkeln von Expertinnen und Experten führt nicht immer zu rationalen Ergebnissen, sondern kann durch Vorurteile und Hintergrundannahmen beeinträchtigt werden, die über Mechanismen des „groupthink“ eine verhängnisvolle Wirksamkeit entfalten [6, 7]. Delphi-Studien sind ein Versuch, für eine Pluralisierung von Perspektiven zu sorgen, sie sind aber nicht per se gegen Selbsttäuschungen gefeit, die aus Deutungsroutinen eines „pädagogischen Establishments“ entstehen könnten [8].
 
Die beschränkte Aussagekraft sozialwissenschaftlicher Daten, die Kontingenz zeitdiagnostischen Vokabulars und die Risiken kollektiver Wahrnehmungsverzerrung legen es nahe, bei der Diskussion über Schulen der Zukunft mit Vorsicht zu verfahren – zugleich ist aber zu betonen, dass die empirische Bildungsforschung Hinweise zu vorhandener Schulqualität liefert, die als Bezugspunkt für Zukunftsszenarien dienen können [9, 10]. Zwar sind die Evidenzen der empirischen Bildungsforschung den institutionellen Rahmenbedingungen des Schulalltags abgewonnen und deshalb im Hinblick auf ihre Verallgemeinerbarkeit mit Vorsicht zu interpretieren – wer aber meint, sich durch pauschale Kritik und apokalyptische Rufe nach einer „Bildungsrevolution“ [11] über diese Evidenzen hinwegsetzen zu können, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Um eine psychiatrische Analogie zu bemühen: Sich radikal gebärdende Schulkritik, die den Bildungssystemen der Moderne totales Versagen vorhält und von „Verrat an den Kindern“ schwadroniert [11], stellt angesichts vorhandener Belege für gute Praxis einen schlechten Versuch der Invalidierung dar und ist insofern eher Symptom einer Borderline-Störung als ein konstruktiver Beitrag für eine bessere Zukunft [12, 13].

Die Delphi-Methode

Das NW-Bildungsdelphi folgt dem Grundmuster, Expertinnen und Experten in einem mehrstufigen Verfahren um ein Rating zu Chancen und Risiken, Ereignissen oder Entwicklungen zu bitten [14, 15]. Die Befragung erfolgt anonym, wobei das Panel auf der ersten Stufe in der Regel durch ein Rating zu einem Katalog von Fragen oder Aussagen Stellung bezieht. Auf der zweiten Stufe erhalten die Mitwirkenden ein Gesamtbild der Ergebnisse und die Gelegenheit, eigene Einschätzungen zu revidieren und Anschlussfragen zu beantworten. Als Zwischen- oder Folgeschritt können Gruppendiskussionen oder Workshops in die Studie eingebaut werden, um Implikationen der Meinungsbilder zu erörtern oder um Szenarien zu konkretisieren; zudem kann der Prozess in weiteren Befragungsrunden fortgesetzt werden. Je nach Anlage der Studie kann das Ziel ein entscheidungsorientierter Konsens oder die Darstellung von Alternativen sein.

Zum Forschungsstand bei Bildungsdelphis

Seit den 1960er-Jahren sind verschiedene Studien durchgeführt worden, bei denen die Delphi-Methode einen Beitrag zur Bildungspolitik leisten sollte – und begleitend ist in der Rezeption solcher Studien immer wieder die Frage aufgeworfen worden, wie seriös und solide die gewonnenen Erkenntnisse sind [16, 17]. Tatsächlich hat sich der Optimismus, solche Studien zu Zwecken der Bildungsplanung einzusetzen, als überzogen erwiesen – und in der Konsequenz richtet sich das Augenmerk von jüngeren Bildungsdelphis darauf, mögliche Entwicklungstrends und Zukunftsszenarien als Alternativen darzustellen. Das führt zu Bildern mit Licht und Schatten, bei denen wünschenswerte Folgen von Trends und Interventionen mit Warnhinweisen möglicher unerwünschter Nebenwirkungen versehen werden. Auf der Lichtseite wird etwa unter dem Titel der Wissensgesellschaft die Hoffnung artikuliert, dass sich der Stellenwert der Bildung als wichtigster gesellschaftlicher Ressource in Zukunft weiter steigern werde – verbunden mit der Sorge, dass auf der Schattenseite der wachsende Qualifikationsdruck dazu führen könne, dass Gruppen marginalisiert werden, die diesem Druck nicht gewachsen sind [18].
Eine ähnliche Ambivalenz ergibt sich beim Stichwort Globalisierung: Wer auf die Steigerung der Effizienz des Bildungssystems durch marktorientierte Reformen setze, müsse möglicherweise als Konsequenzen größeren Wettbewerbsdrucks die Erosion sozialer Bindungen und eine wachsende Anomie in Kauf nehmen [19, 20]. Und auch beim Stichwort Digitalisierung ist die Botschaft mehrdeutig: Wer starke Ambitionen hege, die Schule im Zuge der Digitalisierung ins Internet zu verlegen und den Kindern hochgradig individualisierte virtuelle Lernsettings anzubieten, möge bedenken, dass das zulasten der gemeinschaftsbildenden Funktion der Schule gehen und sich die Schere zwischen bildungsaffinen und bildungsfernen Milieus weiter öffnen könne [1921].
Wer Bildungsdelphis aus den letzten Jahrzehnten Revue passieren lässt, erhält mithin kein geschlossenes Zukunftsbild, sondern Hinweise auf Reizthemen, bei denen verschiedene Weichenstellungen möglich sind, aber neben erwünschten Effekten immer auch mit problematischen Entwicklungen zu rechnen ist. Zu diesen Reizthemen gehören der Einsatz von digitalen Technologien, die Intensität von Wettbewerb innerhalb und zwischen Schulen, wie auch das Spannungsverhältnis von Leistungsprinzip und Chancengerechtigkeit.

Zum Vorgehen beim NW-Bildungsdelphi

Das NW-Bildungsdelphi soll dazu beitragen, einen Orientierungsrahmen zu Perspektiven der Schule 2030–2050 zu erarbeiten, der den bildungspolitischen Dialog unterstützt und als Wegweiser für die Ausrichtung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung dienen kann. Das Delphi umfasst zwei Online-Ratings und Workshops, bei denen Befunde in Kleingruppen diskutiert werden (vgl. Abb. 1).

Design des NW-Bildungsdelphis 2020–2023

Vorab sind von einer Steuergruppe mit Mitgliedern aus Schule, Hochschule, Verwaltung, Politik und Wirtschaft für das Delphi vier Themenschwerpunkte definiert worden: Es geht um die Herausforderungen des digitalen, wirtschaftlich-technischen, soziokulturellen und ökologischen Wandels auf dem Weg zur „Schule 2030“. Die Definition dieser Themenschwerpunkte stützte sich auf Literaturrecherchen zur Diskussion über „21st century skills“ [22, 23], zu Aspekten der Agenda 2030 der UNO, die beim Stichwort Education 2030 zu zahlreichen Berichten und Entwürfen [2426] geführt hat, wie auch auf Studien zu Megatrends des sozialen Wandels [27, 28].
Nach der Definition der Themenfelder erhielten Arbeitsgruppen an der PH den Auftrag, jeweils themenspezifisch einen vorläufigen Katalog von wichtigen Herausforderungen zu formulieren, der nach der Revision durch die Steuergruppe zu einer ersten Fassung des Ratingbogens für das Delphi führte. Diese Fassung wurde nach einer Pilotphase mit N = 35 Fachpersonen für Bildungsforschung, Schulevaluation und Schulentwicklung überarbeitet und führte zu der Version, die in der ersten Welle des NW-Bildungsdelphis eingesetzt wurde. Dieses Instrument wies die folgenden Merkmale auf:
  • Pro Themenfeld wurde jeweils ein Rating zu neun geschlossenen Items vorgenommen und die Möglichkeit eröffnet, ein zehntes Item eigener Wahl frei zu formulieren.
  • Zudem sollten die Teilnehmenden Prioritäten dadurch markieren, dass sie pro Themenfeld jeweils 20 Punkte auf die Items verteilen (bei vier Themenfeldern also insgesamt 80 Punkte).
  • Des Weiteren sollten Einschätzungen abgegeben werden, wie groß die Relevanz der Items für verschiedene Schulstufen ist.
  • Ergänzend bestand die Möglichkeit, durch freie Antworten zu skizzieren, wie sich die Coronapandemie auf die Themenfelder auswirkt.
  • Abschließend wurden soziodemografische Variablen erfasst.
Die erste Welle des NW-Bildungsdelphis fand als Online-Rating im Zeitraum November 2020 bis Februar 2021 statt, beteiligt waren insgesamt N = 707 Personen. Rund die Hälfte davon waren als Lehr- oder Leitungspersonen an Schulen in den Nordwestschweizer Kantonen tätig; ungefähr ein Viertel erstreckte sich auf Lehrende und Studierende an der PH, ein weiteres Viertel entfiel im Wesentlichen auf Fachleute aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Beratung (s. Tab. 1). Die erste Runde von Workshops fand in virtueller Form im Juni 2021 im Rahmen des ersten „Nordwestschweizer Bildungstags“ mit einem Kreis von rund 100 Personen statt, wobei die Teilnahme am Delphi keine zwingende Voraussetzung für die Teilnahme an den Workshops war.
Tab. 1
Zusammensetzung des Panels der Welle 1 des NW-Bildungsdelphis (N = 707)
Gruppierung
Anteil [%]
Lehrpersonen und Schulleitungen
51,1
Fachpersonen für Heilpädagogik, Sozialarbeit und Beratung
6,9
Student*innen
10,6
Personal Hochschule
14,4
Bildungsverantwortliche in Betrieben
3,1
Expert*innen aus Politik und Verwaltung
7,6
Anderes/keine Angabe
6,0
Gesamt
100,0a
a Abweichung von 100 % aufgrund von gerundeten Nachkommastellen

Ein Schnappschuss: Prioritäten auf dem Weg zur „Schule 2030“

Von den Ergebnissen der ersten Welle des NW-Bildungsdelphis wird hier nur ein kleiner Ausschnitt präsentiert, der als Anhaltspunkt für selbstkritische Überlegungen dienen soll: Es handelt sich um die sechs Herausforderungen, die über alle vier Themenfelder hinweg bei der individuellen Verteilung von Punkten den höchsten Summenscore erzielt haben und insofern die höchsten Prioritäten auf dem Weg zur Schule 2030 bilden (s. Tab. 2).
Tab. 2
Rangliste von Prioritäten über alle Themenfelder hinweg (Plätze 1–6)
Rang
Score
Die Schule 2030 sollte
Themenfeld
1
2,795
Sich auf Soft Skills (wie etwa Kommunikationsfähigkeit) konzentrieren
Digitaler Wandel
2
2,533
Auf eine Arbeitswelt vorbereiten, die im Vergleich zu mehr Selbstorganisation verlangt
Wirtschaftlich-technischer Wandel
3
2,182
Eine lebensbejahende Haltung erhalten und fördern
Ökologischer Wandel
4
2,033
Anwachsende Leistungsheterogenität bewältigen
Soziokultureller Wandel
5
2,028
Auf eine Arbeitswelt vorbereiten, die im Vergleich zu heute mehr Teamfähigkeit verlangt
Wirtschaftlich-technischer Wandel
6
1,964
Einer Spaltung der Gesellschaft in Bildungsgewinner und Bildungsverlierer entgegenwirken
Soziokultureller Wandel
Was besagt nun diese aus der individuellen Vergabe von Punkten entstandene Rangliste? Der deskriptive Befund lässt sich dahin zusammenfassen, dass das Panel der Expertinnen und Experten vor allem Prioritäten bei Selbst- und Sozialkompetenzen, der Kultivierung eines positiven Umweltbezugs und der gesellschaftlichen Kohäsion setzen möchte. Bei den an erster Stelle genannten Soft Skills geht es neben der Kommunikationsfähigkeit um Aspekte wie Kreativität und Selbstreflexion; sie stehen den fachbezogenen Hard Skills gegenüber, die früher vor allem in Lehr- und Handbüchern dokumentiert wurden und heute mehr und mehr auf Computern und im Internet verfügbar sind [26]. Die an zweiter und fünfter Stelle mit Blick auf die Arbeitswelt genannten Aspekte der Selbstorganisation und der Teamfähigkeit lassen sich als Anwendungsfälle der Soft Skills interpretieren, und ähnlich verhält es sich bei der an dritter Stelle genannten lebensbejahenden Haltung, die im Hinblick auf den ökologischen Wandel als Priorität markiert wird [26]. Die gesellschaftliche Kohäsion wird bei den an vierter und sechster Stelle genannten Prioritäten adressiert, die aus dem Themenfeld des soziokulturellen Wandels stammen, wobei die Bewältigung der Leistungsheterogenität eher einen pädagogischen Auftrag bezeichnet, während das Bekämpfen oder Verhindern gesellschaftlicher Spaltung eher einen politischen Auftrag darstellt.

Diskussion unter skeptischen Vorzeichen

In der ersten Runde der Workshops im Juni 2021 sind viele Befunde der ersten Welle des Delphis bejaht worden – und doch ist es angeraten, für den weiteren Prozess zunächst einmal skeptische Bedenken in den Vordergrund zu stellen. Diese Bedenken lassen sich entsprechend der eingangs in diesem Beitrag formulierten Gesichtspunkte anhand der Stichworte sortieren:
a.
„Beschränkte Aussagekraft sozialwissenschaftlicher Daten“
 
b.
„Kontingenz des zeitdiagnostischen Vokabulars“
 
c.
„Risiken kollektiver Wahrnehmungsverzerrung“
 
a.
Hinsichtlich der Aussagekraft der Daten ist zu konstatieren, dass ein Panel von N = 707 Expertinnen und Experten nicht sehr groß ist, wenn dieses Panel eine Vielzahl von unterschiedlichen Gruppen repräsentiert. Zudem ist zu betonen, dass die Daten nicht in einer Perspektive klinischer Distanz gewonnen werden: Die Mitglieder des Panels und der Steuergruppe sind – grob gesagt – auf die eine oder andere Art selbst als professionelle, administrative oder politische Akteure in den Gegenstand der Untersuchung verwickelt. Zwar ist es verlockend, sich die Schule als „Labor der Zukunft“ vorzustellen – es ist hier aber zu bedenken, dass die Beobachterinnen und Beobachter direkt oder indirekt Teil der Versuchsanordnung sind – mithin in das Geschehen verstrickt. Diese Verstrickung ist allerdings auch eine wichtige Quelle der Sachkenntnis: Klinische Distanz ist hier nicht wirklich wünschenswert, geht es doch um Aufklärung über Zukunftsbilder im Blickwinkel der Mitgestaltung dieser Zukunft.
 
b.
Die partizipative Verstrickung macht sich unter anderem auch bei der Kontingenz des Vokabulars bemerkbar. Wer Literatur zur Agenda 2030 der UNO [24, 25] oder zu Megatrends des sozialen Wandels [27, 28] studiert, sollte sich bewusst machen, dass es sich nicht um akademische Expertisen im engeren Sinn des Worts, sondern um Texte handelt, die an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik entstehen. Es ergibt sich hier eine zeitdiagnostische Rhetorik mit starken normativen Implikationen – und das kann bei der Formulierung von Items für einen Ratingbogen zum Problem werden, weil Begriffe unterschiedlich besetzt werden. Hier kann es auf der Ebene pädagogischer Arbeitsgruppen zum Streit innerhalb und zwischen den Disziplinen kommen – und die Konsensfindung wird nicht einfacher, wenn auf der Ebene der Steuergruppe Akteure aus den Feldern der Verwaltung, Politik und Wirtschaft involviert sind.
 
c.
Nun ließe sich allerdings argumentieren, dass die Spitzenplätze der Rangliste darauf hindeuten, dass diese Konsensfindung (erstaunlich) gut gelungen ist. Indes ist aus skeptischem Blickwinkel zu fragen, ob diese Konsensfindung vielleicht zu gut gelungen ist. Im Panel der Delphi-Studie sind zwar unterschiedliche Gruppen vertreten, durch die Freiwilligkeit der Teilnahme kommen aber Mechanismen der Selbstselektion ins Spiel, die möglicherweise einen Bias erzeugen. Es ist denkbar, dass das Delphi aufgrund seines diskursiven Charakters in die Richtung tendiert, dass der Bekräftigung von Gemeinsamkeiten ein zu großer Stellenwert eingeräumt wird: Im Extremfall könnte das dazu führen, dass bei einer vorwärts gerichteten Frage rückwärts gerichtete Antworten produziert werden. In dieser Hinsicht sind bei der Fortsetzung des Projekts Einwände aus dem politischen Blickwinkel liberaler und konservativer Parteien aufzugreifen, die auch im Rahmen des ersten Nordwestschweizer Bildungstags artikuliert wurden: Der Kern dieser Einwände lautete dahin, dass die Befunde des Delphis zwar interessant, die Optik der Studie aber möglicherweise zu stark von Wünschen nach mehr sozialem Ausgleich und mehr sozialem Zusammenhalt geprägt ist. Es könnte sein, dass die Diskussion schnell in einer Sackgasse endet, wenn diese Einwände reflexhaft als neoliberale Ideologie beiseite gewischt werden – von daher ist es vielleicht besser, die Einwände als ernstzunehmende Fragen im weiteren Verlauf des NW-Bildungsdelphis aufzugreifen. Dabei stellt sich dann allerdings auch die konfliktträchtige Aufgabe, die Differenz zwischen pädagogischen und bildungspolitischen Prioritäten zu verdeutlichen.
 

Ausblick

Die erste Welle des NW-Bildungsdelphis hat hinsichtlich der Prioritäten auf dem Weg zur „Schule 2030“ zu einer Rangliste geführt, die durch den Nachdruck auf Selbst- und Sozialkompetenzen geprägt ist. Dieser Nachdruck ist im weiteren Verlauf des Projekts der Kritik auszusetzen, wobei drei Aspekte maßgeblich sind: Bei den Daten wird es darum gehen, die quantitativen Befunde des Ratings mit den qualitativen Befunden der Workshops zu triangulieren. Dies soll auch dazu beitragen, das Vokabular des angestrebten Orientierungsrahmens zu präzisieren, ohne in Pedanterie zu verfallen. Und schließlich wird es darum gehen, die Pluralisierung der Perspektiven durch die Anhörung von Akteuren außerhalb des pädagogischen Felds voranzutreiben – geleitet von einer Vermutung, die auf einer pharmakologischen Denkfigur basiert [29]: Ähnlich wie bei vielen Substanzen entscheidet auch bei Kritik der Gegenwart und bei Visionen einer besseren Zukunft die Dosis darüber, ob giftige oder heilsame Wirkungen auftreten.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

C. Quesel gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Hinweis des Verlags

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Metadaten
Titel
Schulen der Zukunft im Licht moderater Skepsis
Selbstkritische Überlegungen zum Nordwestschweizer Bildungsdelphi
verfasst von
Prof. Dr. Carsten Quesel
Publikationsdatum
01.04.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe Sonderheft 1/2023
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-022-01046-0

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