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Ärzte Woche

02.03.2020 | Schmerztherapie

DGN

Neue Leitlinien Neuropathischer Schmerz

verfasst von: Lydia Unger Hunt

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An der Leitlinie „Neuropathischer Schmerz“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) orientieren sich auch Neurologen in Österreich. Die Leitlinie hilft in der Entscheidungsfindung bei Diagnostik und adäquater Therapie. Diese wurde nun neu überarbeitet.

Neuropathische Schmerzen sind Schmerzen, die als direkte Folge einer Schädigung oder Läsion des somatosensorischen Systems auftreten.

Neuropathische Schmerz, ja oder nein

Bei der Einschätzung der Diagnose des individuellen Patienten ist die Unterscheidung zwischen sicheren, wahrscheinlichen, möglichen und unwahrscheinlichen neuropathischen Schmerzen hilfreich (siehe Abb. 1). Anzuwenden sind die folgenden Kriterien:

1. Die Anamnese ist vereinbar mit einer relevanten Läsion oder Erkrankung des peripheren oder zentralen somatosensorischen Systems.

2. Die Schmerzlokalisation befindet sich in einem neuroanatomisch plausiblen Areal.

3. Es findet sich mindestens ein pathologischer Sensibilitätsbefund innerhalb des neuroanatomisch plausiblen Areals der Schmerzausbreitung.

4.  Eine relevante Läsion oder Erkrankung des peripheren oder zentralen somatosensorischen Systems lässt sich mittels mindestens eines Untersuchungsverfahrens nachweisen.

Bei „möglichen“ neuropathischen Schmerzen sind zur Diagnosesicherung weitere Untersuchungen durchzuführen, bei Fehlen jeglicher Kriterien ist die Diagnose „unwahrscheinlich“.


Klinik

Viele Patienten beschreiben ein unangenehmes Taubheitsgefühl (negatives sensibles Symptom), das nicht per se schmerzhaft ist, evozierte Schmerzen und eine Schmerzüberempfindlichkeit. Neuropathische Schmerzen treten in der Regel spontan ohne Auslöser auf und werden etwa bei Trigeminusneuralgie oder postzosterischer Neuralgie als stechende, elektrisierende Schmerzattacken (neuralgieformer Schmerz) beschrieben. Bei Polyneuropathien hingegen können sich die Schmerzen als Druck- oder Engegefühl in der Extremität äußern, aber auch durch Kribbelparästhesien (Ameisenlaufen) und Dysästhesien (unangenehme Parästhesien); auch quälender Juckreiz, Muskelkrämpfe oder eine Bewegungsunruhe im Sinne eines Restless-Legs-Syndroms können auftreten. Zusätzlich bestehen auch hier evozierte Schmerzen (vor allem bei Polyneuropathien oder der postzosterischen Neuralgie), die durch Applikation eines äußeren Reizes ausgelöst werden.

Diagnostik

Die Diagnostik orientiert sich unter anderem an den oben beschriebenen Kriterien für die Diagnosestellung. Ziel ist es, das Schmerzsyndrom zu charakterisieren und möglichst gegenüber anderen Schmerzformen abzugrenzen, durch Erfassung von zeitlichem Verlauf, Charakter, Lokalisation, Stärke und Auslösern der Schmerzen. Ebenfalls zu erfragen sind mögliche funktionelle Beeinträchtigungen, eventuelle bisherige Behandlungen sowie schmerzrelevante Komorbiditäten wie Angst, Depression oder Schlafstörungen.

Überblick Untersuchungmethoden

Quantitative sensorische Testung (QST):  Hierbei wird mittels kontrollierter somatosensorischer Testreize die Hautsensibilität und die Sensibilität der darunter liegenden Strukturen (Muskeln/Faszien) untersucht.

Hautstanzbiopsie ermöglichen wenige Millimeter Haut immunhistochemisch auf die Anzahl der intraepidermalen, unbemarkten C-Nervenfasern zu untersuchen, zu denen die nozizeptiven Afferenzen gehören. Sie wird in erster Linie bei der Diagnostik von Small-Fiber-Neuropathien (SFN) eingesetzt. Ein typischer Befund ist die Reduktion der intraepidermalen Nervenfaserdichte (IENFD) im schmerzhaften Hautareal, allerdings schließt ein Normalbefund ein neuropathisches Schmerzsyndrom und auch eine Small-Fiber-Neuropathie nicht aus.

Laser-evozierte Potenziale (LEP) sind ein objektives neurophysiologisches Maß zur funktionellen Untersuchung des nozizeptiven Systems. In der Peripherie an der Haut wird ein Reiz gesetzt, die Potenziale werden mittels EEG an der Kopfhaut abgeleitet. Nozizeptoren in der Epidermis werden mittels Laser direkt thermisch und berührungsfrei gereizt, was eine spezifisch nozizeptive Reizung dünner A-delta- bzw. C-Fasern induziert. Damit ist eine funktionelle Testung dünner Nervenfasern und des spinothalamischen Trakts als Komponenten der „schmerzleitenden Bahnen“ möglich.

„Pain-related evoked potentials“, PREP. Die Ableitung dieser Schmerz-assoziierten evozierten Potenziale erlaubt durch Einsatz von Oberflächenelektroden und Stimulation mit geringen Stromstärken die Reizung epidermaler A-delta Fasern.

In-vivo korneale konfokale Mikroskopie (CCM) ist ein nicht invasives, schnell durchzuführendes Verfahren zur quantitativen Untersuchung der kornealen Fasern des subbasalen Plexus. Als wichtigste hier erhobene Parameter gelten die korneale Nervenfaserlänge, die Nervenfaserdichte und die Anzahl der Verästelungspunkte der Nerven.

Die Methode wird besonders dann empfohlen, wenn die konventionellen elektrophysiologischen Methoden keine Auffälligkeiten zeigen und/oder der Verdacht auf eine Affektion der kleinkalibrigen Nervenfasern (Small-Fiber-Neuropathie) besteht. Cave: Diese Untersuchung muss von geschulten Untersuchern unter standardisierten Bedingungen durchgeführt werden; ophthalmologische Auffälligkeiten, die zu Veränderungen des kornealen subbasalen Plexus führen, müssen ebenfalls erfasst werden.

Axonreflex-Erythem. Die Bestimmung der Größe erlaubt die Untersuchung der Funktion von afferenten peripheren C-Fasern (Nozizeptoren). Bei Aktivierung der Fasern breiten sich die Aktionspotentiale im gesamten axonalen Baum in der Haut aus, was über Ausschüttung eines Neuropeptids (CGPR) in der Haut eine Vasodilatation und damit eine Rötung verursacht. Die Größe des Erythems korreliert allerdings nicht mit der Stärke der Spontanschmerzen. Die Methode wird derzeit nur in speziellen Zentren zu experimentellen Zwecken angeboten.

Fragebögen zur Symptomerfassung

Es gibt verschiedene Fragebögen zur qualitativen und quantitativen Erfassung der Symptome neuropathischer Schmerzen. Häufig verwendet werden painDETECT, DN4 („Douleur Neuropathique en 4 Questions“) und LANSS („Leeds Assessment of Neuropathic Symptoms and Signs“). Generell wird empfohlen, Skalen zu verwenden, mit denen Neuropathie-typische Schmerzcharakteristika erfasst werden, die Intensität der Schmerzen gemessen werden und bei denen eine Ganzkörperzeichnung zur Abschätzung der Lokalisation und der Ausstrahlung der Symptome möglich ist. Fragebögen können als Ergänzung zur klinischen Diagnostik einen guten Überblick über die subjektive Schmerzwahrnehmung und die psychosoziale Komponente des Schmerzes geben, sie sind jedoch nicht als alleiniges Mittel zur Diagnose neuropathischer Schmerzen geeignet.

Die weiteren apparativen Untersuchungen beziehungsweise Labor- bzw. Liquoruntersuchungen sollten in Abhängigkeit von Anamnese und klinischen Befunden durchgeführt werden.

Therapie

Bei neuropathischen Schmerzen kann häufig keine Schmerzfreiheit erreicht werden. Vor Beginn der Therapie sind daher zunächst realistische Behandlungsziele mit dem Patienten zu besprechen. Als realistisches Ziel gilt eine Schmerzreduktion um mindestens 30 Prozent, Verbesserung von Schlaf- und Lebensqualität, Erhalt von Arbeitsfähigkeit und sozialen Aktivitäten sowie Verbesserung der Funktionalität.

Einzelne Wirkstoffe

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich alle Empfehlungen auf die „Therapie chronischer neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache“.

Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle

Gabapentin und Pregabalin: Eine aktuelle Cochrane-Metaanalyse zur Wirkung von Gabapentin bei chronischen neuropathischen Schmerzen stellte eine signifikante Schmerzreduktion von größer 30 Prozent bei Patienten mit postherpetischer Neuralgie (PHN) und mit schmerzhafter diabetischer Neuropathie fest. Bezüglich Pregabalin zeigte die Metaanalyse eine NNT von 7,7 bei Patienten mit PHN, schmerzhafter Polyneuropathie, Schmerzen nach peripherer Nervenverletzung und zentralen Schmerzen aufgrund eines Querschnittsyndroms und nach einem Schlaganfall sowie ein besseres Ansprechen bei einer Tagesdosis von 600 mg vs. 300 mg.

Gabapentin und Pregabalin sollten als Medikamente der ersten Wahl eingesetzt werden, allerdings ist die Studienlage nicht zu allen neuropathischen Schmerzsyndromen ausreichend.

Antikonvulsiva mit Wirkung auf Natriumkanäle

Carbamazepin: Aufgrund der unzureichenden Studienlage ist keine Bewertung der Evidenz bei der Therapie der schmerzhaften diabetischen Neuropathie möglich, während der Wirkstoff bei zentralen Schmerzen keine signifikante Schmerzreduktion erbrachte. Carbamazepin kann daher bei der Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache nicht generell empfohlen, im Einzelfall jedoch erwogen werden. Cave ungünstiges Nebenwirkungsprofil (insbesondere Hyponatriämie, kognitive Störungen, Benommenheitsgefühl, Schwindel, Müdigkeit, Ataxie, gastrointestinale Störungen) und Arzneimittelinteraktionen.

Die Studienlage zur Effektivität von Oxcarbazepin bei neuropathischen Schmerzen ist unzureichend, zudem liegt ebenfalls ein ungünstiges Nebenwirkungsprofil vor (v.a. Hyponatriämie, außerdem Schläfrigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und kognitive Störungen) Für die Wirksamkeit von Topiramat liegt keine Evidenz vor. Carbamazepin und Oxcarbazepin können daher nicht generell empfohlen, im Einzelfall jedoch erwogen werden; Topiramat sollte nicht eingesetzt werden.

Na-Kanal-Blocker Lamotrigin/Lacosamid/Phenytoin

Lamotrigin zeigte in einer Cochrane-Analyse keine Wirksamkeit gegen schmerzhafte diabetische Polyneuropathie, doch eine kleine Studie zu zentralem neuropathischem Schmerz nach Schlaganfall (central post-stroke pain, CPSP) zeigte eine signifikante Schmerzreduktion von ca. 30 Prozent, ebenso eine Pilotstudie zur HIV-Neuropathie. Lamotrigin kann daher zwar nicht generell empfohlen, im Einzelfall jedoch „off-label“ erwogen werden. Zu Lacosamid ist die Datenlage nicht ausreichend, es kann daher nicht empfohlen werden; für Phenytoin existieren keine Studien ausreichender Qualität, dieser Wirkstoff sollte nicht eingesetzt werden.

 Tri-/tetrazyklische Antidepressiva

Neben der schmerzhaften diabetischen Neuropathie sind trizyklische Antidepressiva auch bei der postzosterischen Neuralgie, bei partiellen Nervenläsionen und bei zentralen Schmerzsyndromen dem Placebo überlegen; Amitryptilin kann insbesondere bei Einschlafstörungen aufgrund neuropathischer Schmerzen hilfreich sein. Trizyklische Antidepressiva sollen als Medikamente der ersten Wahl eingesetzt werden, allerdings unter Berücksichtigung von Nebenwirkungen, Arzneimittelinteraktionen sowie kardialer Toxizität.

Selektive Serotonin- und Noradrenalin Wiederaufnahme-Hemmer

Milnacipran sollte nicht eingesetzt werden; Venlafaxin kann aufgrund der nicht ausreichenden Datenlage nicht empfohlen, aber in Einzelfällen als off-label use erwogen werden.

Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) wie Citalopram/Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin oder Sertralin sowie noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva (NaSSA) wie Mirtazepin sollten nicht eingesetzt werden.

Opioide

Sowohl schwach wirksame μ-Opioid-Rezeptor-Agonisten und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer wie Tramadol als auch hochpotente Opioide können als Medikamente dritter Wahl eingesetzt werden. Cave unerwünschte Nebenwirkungen und Toleranzentwicklung; komorbide Suchterkrankungen können die Anwendung limitieren.

Cannabinoide

Diese haben einen eher gering ausgeprägten Effekt und eine hohe Nebenwirkungsrate. Sie können daher nicht empfohlen werden; nur in Einzelfällen kann bei Versagen anderer Schmerztherapien der Einsatz von Cannabinoiden off-label (im Rahmen eines multimodalen Schmerztherapiekonzepts) erwogen werden.

Radikalfänger

Für alpha-Liponsäure kann kann ein Effekt bei der diabetischen Neuropathie zwar nicht ausgeschlossen werden, die Evidenzlage ist allerdings nicht ausreichend, um den Einsatz bei der diabetischen Neuropathie generell zu empfehlen.

NMDA-Rezeptor-Antagonisten sollten nicht verwendet werden. Nicht-Opioidanalgetika (Nicht-Opioidanalgetika [NSAR], Cox-2-Inhibitoren, Paracetamol, Metamizol), Muskelrelaxantien (Baclofen) sowie Benzodiazepine sollten nicht verwendet werden.

Topische Therapieoptionen

Lidocain-Pflaster (5 %) zeigten Wirksamkeit bei postherpetische Neuralgie, sie können hier in Mono- oder Kombinationstherapie verwendet werden. Der Lidocain-Patch bietet neben dem lokalen anästhetischen Effekt auch Schutz gegen mechanische Stimulation (dynamische Allodynie), welche bei der postherpetischen Neuralgie ein häufiges Problem darstellt. Die Evidenz für die analgetische Wirksamkeit von Lidocain-Pflastern bei schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie ist hingegen nicht ausreichend belegt. Lidocain-Pflaster können als Medikament der zweiten Wahl zur Therapie von lokalisierten neuropathischen Schmerzen empfohlen werden; bei postzosterischer Neuralgie ist auch der primäre Einsatz zu erwägen.

Capsaicin

In einem Cochrane Review zeigte sich bei der Mehrzahl der Patienten (postzosterische Neuralgie, HIV-Neuropathie, schmerzhafte diabetische Neuropathie) ein moderater bis deutlich schmerzlindernder Effekt des Capsaicin-8 %-Pflasters im Vergleich mit Placebo bzw. Pflaster mit nur 0,04 % Capsaicin. Capsaicin-8 %-Pflaster kann als Mittel der zweiten Wahl empfohlen werden, bei lokalisierten neuropathischen Schmerzen ist auch der primäre Einsatz zu erwägen.

Botulinumtoxin

Hier deuten die Daten auf eine Wirksamkeit mit einer Schmerzreduktion um 30 Prozent hin, allerdings war die Anzahl der in den Studien behandelten Patienten gering, teilweise wurde auch ein Bias-Risiko beschrieben. Botulinumtoxin kann daher erwogen werden, allerdings nur als Medikament der dritten Wahl bei fokal begrenzten Beschwerden in spezialisierten Zentren.

Amitriptylinsalbe sollte in topischer Applikation nicht eingesetzt werden.

Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS) kann aufgrund der fehlenden Evidenz nicht empfohlen werden; da Einzelstudien eine Wirksamkeit nahelegen, kann der Einsatz in Einzelfällen erwogen werden.

Psychotherapeutische Behandlungsansätze und die multimodale Schmerztherapie können in der Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache eingesetzt werden, obwohl eine 30prozentige Schmerzreduktion aufgrund der unzureichenden Datenlage nicht belegbar ist. Dennoch stellt die Schmerzpsychotherapie eine wichtige Therapieoption dar, insbesondere im Rahmen der interdisziplinären Behandlung.

Quelle: DGN Leitlinien

https://www.dgn.org/images/red_leitlinien/LL_2019/PDFs_Download/030114_LL_Neuropathische_Schmerzen_2019.pdf

Zuletzt abgerufen am 19.1.2020

Metadaten
Titel
DGN
Neue Leitlinien Neuropathischer Schmerz
Publikationsdatum
02.03.2020
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 10/2020

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