Skip to main content
Ärzte Woche

18.10.2021 | Schmerztherapie

Den Schmerz begreifen

verfasst von: Mit Wilfried Ilias hat MartinKenek-Burger gesprochen

print
DRUCKEN
insite
SUCHEN

Nichts ist so leicht zu ertragen, wie der Schmerz des anderen. Diesen Satz hat sich Wilfried Ilias gewissermaßen hinter die Ohren geschrieben. Er ist damit nicht mehr allein.

„Meine Knie-OP 2017 war ein Pfusch. Ich habe keine Lebensqualität mehr, und dadurch habe ich auch keinen Lebenswillen mehr.“ Die Stimme einer 75-jährigen Besucherin auf dem Wiener Schmerztag. Die Wienerin war am richtigen Ort. Denn das Credo des wissenschaftlichen Leiters der Veranstaltung, Prof. Dr. Wilfried Ilias, lautet: Jeden Schmerz ernst nehmen.


Wer mit dem Spruch „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ aufgewachsen ist und dann hier am Schmerztag Vorträge hört, wähnt sich in einer anderen Welt. Es klingt so, als hätte sich im Schmerzland Österreich einiges zum Besseren gewandelt.

Ilias: Ja, das ist so. Im niedergelassenen Bereich besuchen immer mehr Ärzte Fortbildungsveranstaltungen. Es gibt eine wachsende Zahl an Ärzten mit Schmerzdiplom. Früher hat man sich bemüht, innerhalb der einzelnen Fächer, den Schmerz ursächlich zu behandeln. Aber gerade im Bereich der großen Gelenke und der Wirbelsäule gibt es Erkrankungen, die man operativ nicht mehr beherrschen kann. Ich glaube, es ist uns in den vergangenen 30 Jahren gelungen, Strukturen aufzubauen. Vorbildlich war da nicht nur der Raum Wien, sondern auch Kärnten, wo Prof. Likar ( Anm.: Prim. Dr. Rudolf ) Maßstäbe gesetzt hat. Er hat am Klinikum Klagenfurt eine eigene Abteilung etabliert, wo es nicht nur um Schmerztherapie, sondern auch um Palliativmedizin geht.


Wie steht es um das Schmerzwissen der Patienten?

Ilias: Dazu fällt mir eine Anekdote ein: Eine Bekannte, deren Vater gestorben ist, hat sich beim Ausräumen der Wohnung verletzt. Sie sucht ein Heftpflaster und findet ein rosarotes Pflaster. Das klebt sie sich auf die Wunde, und es wird ihr schlecht. Ihr Mann ruft mich an: Ich schicke sie in eine Ambulanz. Dort klärt sie eine Krankenschwester auf, dass sie sich ein Schmerzpflaster auf die Wunde gepickt hat, ein Transtec. Nachdem das Pflaster auf der offenen Wunde klebt, ist der Wirkstoff in einer vehementen Konzentration eingedrungen. Ich betone: Diese Krankenschwester hat das gewusst und die Situation mit einem Blick erfasst. Wir sind in Österreich schon sehr viel weiter als früher.


Was halten Sie von Aussagen, dass man den Schmerz annehmen muss?

Ilias: Das sind Ausdrucksweisen, mit denen man Menschen in eine Bringschuld hineindirigiert. Kein Mensch will Schmerzen haben. Womit sich Patienten abfinden können, ist, dass sie die Medikamente, die ihnen helfen, einnehmen.


Werden hierzulande zu viele oder zu wenige Schmerzmittel verschrieben?

Ilias: Es gibt immer wieder warnende Stimmen, dass man Schmerzmittel nicht kritiklos verschreiben oder einnehmen soll. Es geht bei dieser Frage oft um die nicht-steroidalen Antiinflammatoria, die bei Langzeiteinnahme organische Schäden hervorrufen können, weil diese Mittel die Prostaglandin-Synthese unterdrücken. Wir brauchen die Prostaglandine sowohl für die Dilatation der Luftwege als auch der Blutgefäße, wir brauchen sie für die Steuerung der Magenschleim-Zusammensetzung. Wenn wir in diese Synthese eingreifen, kann es passieren, dass es bei Langzeiteinnahme zu Schädigung der Niere, des Magen-Darm-Traktes oder anderer Strukturen kommt. Es ist danach zu trachten, dass man ein Potpourri von Medikamenten verordnet, die man in der Dosis so niedrig hält, damit man weit entfernt bleibt von den unerwünschten Nebenwirkungen.


Menschen, die unter Schmerzen leiden, wird oft vorgeworfen, dass sie nur simulieren. Was möchten Sie diesen Menschen sagen?

Ilias: Sie sollen nicht verzweifeln. Jeder hat eine andere Empfindung von Schmerz. Nicht nur der Schmerz als solcher, auch die psychische Belastung spielt eine Rolle. Jeder Mensch reagiert auf dieses unangenehme Symptom anders. Die einen können das besser wegstecken, die anderen weniger. Es ist nicht so, dass die gleiche Erkrankung bei jedem auch die gleiche Schmerzintensität hervorruft. Ich erinnere mich an die Schmerzforscher Patrick David Wall (1925-2001, Engländer) und Ronald Melzack (1929-2019, Kanadier) , welche die sogenannte „Gate-Control-Hypothese“ aufgestellt haben. Wall hat einmal bei einer Veranstaltung zu Beginn gesagt: Nichts ist leichter zu ertragen als der Schmerz des anderen. Das sollte man sich hinter die Ohren schreiben. Es ist entscheidend, dass man Empathie aufbringt, wenn man es mit Schmerzpatienten zu tun hat, dass man Zeit aufbringt, dass man versucht, das, was einem mitgeteilt wird, so zu spiegeln, dass sich der Patient verstanden fühlt. Dann hat man den ersten Schritt gesetzt, um eine konstruktive Zusammenarbeit durchführen zu können.




print
DRUCKEN
Metadaten
Titel
Den Schmerz begreifen
Schlagwort
Schmerztherapie
Publikationsdatum
18.10.2021
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 42/2021

Weitere Artikel der Ausgabe 42/2021