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Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 3/2022

Open Access 04.05.2022 | Originalien

Schmerzhafte Muskel-Skelett-Veränderungen bei Kindern mit neuromotorischen Erkrankungen (Teil 1)

verfasst von: Prof. h. c. Dr. med. univ. Walter Michael Strobl, MBA Health Care Management

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Ausgabe 3/2022

Zusammenfassung

Bei allen angeborenen und erworbenen Erkrankungen des Gehirns, des Rückenmarks, der Nerven und der Muskeln können Veränderungen der Bewegung und Haltung, Sensorik und Motorik beobachtet werden. Je nach Dauer der Störung entwickeln sich reversible und/oder irreversible Veränderungen der Bewegungsfunktion und Form der Bewegungsorgane, die biomechanischen Gesetzmäßigkeiten folgen.
Da diese Muskel-Skelett-Veränderungen sehr häufig für unterschätzte Schmerzen, Immobilität, mangelnde soziale Teilhabe und damit einer massiven Einschränkung der Lebensqualität verantwortlich sind, ist die detaillierte Kenntnis der funktionellen Anatomie und dieser Gesetzmäßigkeiten als Basis einer erfolgreichen Vorbeugung und Behandlung erforderlich.
Den wichtigsten Stellenwert in der Frühdiagnostik bildet das rechtzeitige Erkennen von Kräfteungleichgewichten an Gelenken, von veränderten Hebelarmen der Muskulatur, von chronischen Schmerzen als Zeichen einer reaktiven Überlastung und von beginnenden Bewegungseinschränkungen. Screening-Programme sollten entwickelt werden, die alle Störungsbilder umfassen und einfach im klinischen Alltag implementiert werden können. Je früher Prävention und Behandlung dieser neuroorthopädischen Probleme bei chronischen neuromotorischen Erkrankungen in jeder Altersgruppe beginnen, umso erfolgreicher können Fehlentwicklungen sowie irreversible sekundäre Schäden, strukturelle Veränderungen, Fehlstellungen, Kontrakturen, (Sub‑)Luxationen, Funktionsverlust, Immobilität und Behinderungen vermieden werden.
In diesem ersten Teil der Arbeit wird die Relevanz und Pathophysiologie dieser Muskel-Skelett-Veränderungen beschrieben.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Systematische Unterschätzung muskuloskeletaler Schmerzen bei neuromotorischen Erkrankungen

Erkrankungen, Entwicklungsstörungen und Schäden des Gehirns, des Rückenmarks, der peripheren Nerven und der Muskulatur können sich angeboren oder erworben entwickeln und dann in der Schwangerschaft, nach der Geburt, im Wachstums- oder Erwachsenenalter erstmals diagnostiziert werden.
Die meisten dieser Nerven- und Muskelerkrankungen sowie neurogenen Schäden sind kausal nicht behandelbar, also nicht vollständig heilbar. Daher steht das Erreichen der bestmöglichen Lebensqualität im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung.
Lebensqualität ist ein mehrdimensionales Konstrukt und kann nach subjektiven und objektiven Kriterien definiert werden.
Gesundheitsbezogene Lebensqualität beinhaltet aus Patientensicht vor allem die Kriterien
1.
Schmerzfreiheit,
 
2.
soziale Teilhabe,
 
3.
Selbständigkeit bzw. Autonomie und
 
4.
Mobilität.
 
Um diese Lebensqualitätsziele der Patienten mit neuromotorischen Erkrankungen zu erreichen, müssen in erster Linie die am häufigsten auftretenden muskuloskeletalen Schmerzen und Muskel-Skelett-Veränderungen vermieden werden.
Mehrere Studien der vergangenen Jahre belegen, dass die Lebensqualität dann am meisten beeinträchtigt ist, wenn Schmerzen der Bewegungsorgane auftreten. Kinder im Grundschulalter mit und ohne Zerebralparese bewerten ihre Lebensqualität als gleich gut – so lange sie keine Schmerzen empfinden.
Im Grundschulalter beurteilen Kinder mit Zerebralparesen ihre Lebensqualität gleich wie Kinder ohne Erkrankungen [1]. Eltern und Behandler sehen dies grundsätzlich anders, sie beurteilen deren Lebensqualität signifikant schlechter [2].
Schmerzen des Muskel-Skelett-Systems im Jugend- und jungen Erwachsenenalter werden von Eltern und Behandlern systematisch unterschätzt. Betroffene schätzen in der Folge ihre Lebensqualität deutlich schlechter ein als angenommen. Bereits junge Erwachsene mit Zerebralparesen berichten doppelt so häufig chronische Schmerzen, vor allem des Bewegungsapparats, 3‑mal so häufig chronische Ermüdbarkeit, besonders der Muskulatur [3]. Zu einem hohen Prozentsatz beurteilen sie ihre Versorgung trotz Behandlung seit dem Kindesalter als nicht zufriedenstellend. Für Schmerzfreiheit, Mobilität, Selbstständigkeit und soziale sowie berufliche Teilhabe benötigen sie eine permanente Unterstützung und Behandlung.
Aktuelle Studien zeigen, dass Kinder mit Zerebralparese in allen Altersgruppen Schmerzen angeben, die die Teilhabe massiv einschränken [4, 5].
Schmerzen korrelieren mit dem Auftreten von Auffälligkeiten des Bewegungssystems, wie Haltungs‑, Gang- und Bewegungsstörungen sowie strukturellen Muskel-Skelett-Veränderungen. Sind diese zunächst noch reversibel und haben eine gute Prognose, werden diese zunehmend irreversibel mit ungünstiger Prognose.
Je früher Prävention und Behandlung von neuroorthopädischen Problemen bei chronischen neuromotorischen Erkrankungen in jeder Altersgruppe beginnen, umso erfolgreicher kann Fehlentwicklungen sowie sekundären Schäden und Behinderungen begegnet werden [6].
Ein gezieltes Screening scheint daher der geeignete Weg, um lähmungsbedingte Fehlentwicklungen früh zu entdecken und zu behandeln, um progredienten neuroorthopädischen Erkrankungen, wie Muskel‑, Sehnen‑, Gelenk- und Knochenschäden vorzubeugen.

Irreversible Sekundärschäden des Bewegungssystems bei chronischen neuromotorischen Erkrankungen

Alle angeborenen Schäden und erworbenen, chronisch verlaufenden Erkrankungen des Gehirns, des Rückenmarks, der Nerven und der Muskeln führen zu Veränderungen der Körperhaltung und der Bewegung (Abb. 1).
Je nach Schwere der neuromotorischen Grunderkrankungen entwickeln sich Störungen der Sensorik und/oder Motorik, die als Koordinationsstörung, Muskelschwäche, teilweise oder komplette Lähmungen in Erscheinung treten.
Komplette Ausfälle zentraler und peripherer Nerven sowie von Muskeln verursachen komplette Lähmungen. Diese Plegien sind selten.
Teilweise Ausfälle zentraler und peripherer Nerven sowie von Muskeln verursachen Störungen des Kräftegleichgewichts an Gelenken zwischen Agonisten und Antagonisten. Diese Paresen sind häufig [6].
Je nach Dauer der neuromotorischen Grunderkrankungen entwickeln sich in weiterer Folge reversible und/oder irreversible Veränderungen der Bewegungsfunktion und der Form der Bewegungsorgane.
Diese Funktions- und Formveränderungen des Bewegungssystems bei Nerven- und Muskelerkrankungen können als neuroorthopädische Krankheitsbilder diagnostiziert werden. Ihr Auftreten und ihre weitere Entwicklung folgen klar definierbaren Gesetzmäßigkeiten.
Neuroorthopädische Krankheitsbilder sind Fehlhaltungen und Fehlstellungen infolge eines Kräfteungleichgewichts an Gelenken, kompensatorischer Muskelhartspann oder Muskelüberaktivität, oft als Spastik eingeschätzt, Abnahme der Kontraktilität durch strukturelle Veränderung des Skelettmuskels, Kontrakturen von Gelenkkapseln, Instabilität und Luxationen von Gelenken, Fehlbelastungen und Verformungen von Gelenkknorpel und Skelettabschnitten.
All diese neuroorthopädischen Krankheitsbilder führen sehr häufig zu allmählich zunehmenden Schmerzen, Immobilität, mangelnder sozialer Teilhabe und damit einer massiven Einschränkung der Lebensqualität.
Zwischen den Bestandteilen des Bewegungssystems bestehen komplexe Autoregulationsmechanismen, die die Entwicklung von irreversiblen Muskel-Skelett-Deformitäten im Sinn eines Circulus vitiosus verstärken können (Abb. 2).
Unterschiedliche neuromotorische Erkrankungen mit einem ähnlichen Lähmungsmuster führen zu ähnlichen Störungen des Bewegungssystems. Bei Patienten mit derselben neuromotorischen Erkrankung und unterschiedlichem Lähmungsmuster finden sich unterschiedliche Veränderungen der Bewegungsorgane.
Die 4 Teilabbildungen in Abb. 3 sollen die Entstehung von Fehlstellungen und Muskel-Skelett-Veränderungen aufgrund der lähmungsbedingten Störung des Kräftegleichgewichts veranschaulichen. Am Beispiel der an Gelenkachse des oberen (Abb. 3a,b) und unteren (Abb. 3c,d) Sprunggelenks pathologisch-asymmetrisch wirkenden Muskelkräfte kann man die logische Entwicklung der typischen neuromuskulären Fußfehlstellungen Spitzfuß, Hakenfuß, Klumpfuß und Knickplattfuß studieren.
Muskeln, die nahe an der Gelenkachse ansetzen, können dabei ihre physiologische Funktion und ihren Hebelarm verändern. Beispielsweise wird bei einem beginnenden neuromuskulären Klumpfuß der M. tibialis anterior von einem Fußheber zu einem Supinator.
Diese Funktionsänderung beginnt zunächst unbemerkt und nimmt im Lauf der Zeit exponentiell zu, sodass ein sehr geringes Kräfteungleichgewicht sehr rasch zu einer schweren irreversiblen Fehlstellung führen kann.
Die gleiche Funktionsänderung vollzieht der Wadenmuskel beim neuromuskulären Knickplattfuß, indem er von einem Plantarflektor zu einem Pronator des Fußes wird.
Wie an den Sprunggelenken beispielhaft erklärt, finden sich bei neuromotorischen Erkrankungen veränderte Kräfteverhältnisse an zahlreichen anderen Gelenken des Körpers: der Wirbelsäule, den Schulter‑, Ellbogen‑, Hand‑, Finger‑, Hüft- und Kniegelenken (Abb. 4).
Dies führt zu den häufigen neuroorthopädischen Krankheitsbildern Wirbelsäuleninstabilität, wie Skoliose, Hyperkyphose und Hyperlordose, Hüftinstabilität mit Subluxation und Luxation, Gangstörungen wie Zehenballengang, Innenrotationsgang, Kauergang und Stiff-Knee-Gait.
Alle diese Funktions- und Formveränderungen können auf charakteristische Änderungen der funktionellen Anatomie von Muskeln bzw. Muskelgruppen und deren Hebelarme zurückgeführt werden.

Sekundärprävention als vorrangiges Ziel der Neuroorthopädie

Erfolgreiche Prävention wird in der Kinderorthopädie heute für alle häufigen Erkrankungen des kindlichen Bewegungssystems angeboten:
  • die angeborene bzw. idiopathische Hüftdysplasie (DDH),
  • den idiopathischen Klumpfuß,
  • den muskulären Schiefhals,
  • Achsfehlstellungen,
  • den Knickplattfuß,
  • die idiopathische Skoliose.
Für die Hüftdysplasie existieren in den deutschsprachigen Ländern sogar staatlich unterstützte Screeningprogramme, wie das Hüft-Ultraschall-Screening in den deutschen und österreichischen Mutter-Kind-Pässen.
Für die von der WHO unter den „100 Life Threatening Diseases“ eingestuften Krankheitsbildern der neurogenen Hüftluxation und neurogenen Skoliose sowie Kontrakturen wurde in Mitteleuropa bis dato kein umfassendes und verpflichtendes Präventionsprogramm installiert. Dass ein solches durchaus erfolgreich sein kann, zeigen Erfahrungen aus Skandinavien, wo 20-Jahres-Ergebnisse eines Hüftscreenings für Kinder mit Zerebralparese publiziert wurden.
Nach dem Grundprinzip der Sekundärprävention ist es die Aufgabe der Neuroorthopädie dafür Sorge zu tragen, dass für alle chronischen Nerven- und Muskelerkrankungen Maßnahmen ergriffen werden, um die beschriebenen, gesetzmäßig auftretenden Muskel-Skelett-Veränderungen zu vermeiden oder zu mildern.
Mögliche Maßnahmen sind
  • medizinische Aufklärung/Edukation der Risikogruppen,
  • Screening-Programm zur Früherkennung von Erkrankungen in Risikogruppen.
Im zweiten Teil der Arbeit werden die Möglichkeiten des Screenings, der Prävention und Frühbehandlung dieser Muskel-Skelett-Veränderungen vorgestellt.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

W.M. Strobl gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Vinson J, Shank L, Thomas PD, Warschausky S (2010) Self-generated Domains of Quality of Life in Childrenwith and Without Cerebral Palsy. J Dev Phys Disabil 22:497–508CrossRef Vinson J, Shank L, Thomas PD, Warschausky S (2010) Self-generated Domains of Quality of Life in Childrenwith and Without Cerebral Palsy. J Dev Phys Disabil 22:497–508CrossRef
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Zurück zum Zitat Strobl W (2021) Krankheitsbilder und Deformitätenentwicklung, Prävention und Behandlung. In Strobl W, Schikora N, Pitz E, Abel C (Hrsg) Neuroorthopädie – Disability Management. Springer Heidelberg, 99–115; und in Strobl W, Abel C, Pitz E, Schikora N (Hrsg) Therapeutisches Arbeiten in der Neuroorthopädie. Springer Heidelberg, 71–89 Strobl W (2021) Krankheitsbilder und Deformitätenentwicklung, Prävention und Behandlung. In Strobl W, Schikora N, Pitz E, Abel C (Hrsg) Neuroorthopädie – Disability Management. Springer Heidelberg, 99–115; und in Strobl W, Abel C, Pitz E, Schikora N (Hrsg) Therapeutisches Arbeiten in der Neuroorthopädie. Springer Heidelberg, 71–89
Metadaten
Titel
Schmerzhafte Muskel-Skelett-Veränderungen bei Kindern mit neuromotorischen Erkrankungen (Teil 1)
verfasst von
Prof. h. c. Dr. med. univ. Walter Michael Strobl, MBA Health Care Management
Publikationsdatum
04.05.2022
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe 3/2022
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-022-00986-x

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