Einleitung
Sexualisierte Gewalt gehört zu den schwerwiegendsten Traumata, die für die Betroffenen tiefgreifende psychische, physische und soziale Folgen nach sich ziehen können. Eine rasche medizinische und forensische Betreuung ist von essenzieller Bedeutung, um nicht nur die körperliche Unversehrtheit von Betroffenen zu sichern, sondern auch Beweismaterial für mögliche strafrechtliche Ermittlungen zu gewährleisten. Die rechtsmedizinische Untersuchung bildet dabei eine entscheidende Schnittstelle zwischen medizinischer Versorgung, Beweissicherung und psychologischer Betreuung. Dieser Beitrag beleuchtet die wesentlichen Elemente der forensischen Untersuchung und zeigt auf, welche Herausforderungen bei der interdisziplinären Zusammenarbeit auftreten.
Definition und epidemiologische Dimensionen der sexualisierten Gewalt
Der Begriff „sexualisierte Gewalt“ beschreibt Handlungen sexueller Natur, die gegen den Willen der betroffenen Person vollzogen werden oder bei denen die Einwilligungsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht gegeben ist [1]. Im Gegensatz zum Begriff „sexuelle Gewalt“ betont die Verwendung von „sexualisiert“ den Aspekt der Macht- und Gewaltausübung. Diese Form von Gewalt erstreckt sich über ein breites Spektrum an Handlungen, die von unerwünschten Berührungen bis hin zu schwerwiegenden physischen Übergriffen wie Vergewaltigungen reichen [2, 3]. Weltweite Untersuchungen, darunter die der Weltgesundheitsorganisation (WHO), zeigen, dass bis zu 20 % der Frauen im Laufe ihres Lebens Opfer einer Form von sexualisierter Gewalt werden [4].
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Dennoch bleibt die tatsächliche Häufigkeit solcher Delikte oft im Verborgenen, da viele Betroffene aus Scham oder Angst vor Stigmatisierung davon absehen, Anzeige zu erstatten. Dieses Problem betrifft sowohl Frauen als auch Männer, wobei die Problematik bei männlichen Opfern durch zusätzliche gesellschaftliche Tabus weiter verschärft wird [5]. Diese Dunkelziffer erschwert es, ein präzises Bild über das Ausmass sexualisierter Gewalt zu gewinnen, und stellt auch die forensische Aufarbeitung vor erhebliche Herausforderungen.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Ein wesentlicher Bestandteil der rechtsmedizinischen Untersuchung nach sexualisierter Gewalt ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit. In einem idealen Setting arbeiten Rechtsmediziner, Gynäkologen, Psychologen und Sozialarbeiter eng zusammen, um den Betroffenen sowohl eine umfassende medizinische Versorgung als auch eine Beweissicherung und psychologische Unterstützung zu bieten. Die Einbindung der Polizei und Strafverfolgungsbehörden ist in Fällen mit einhergehender Strafanzeige essenziell [3].
Rechtsmedizinische Untersuchung: Struktur und Ablauf
Im Rahmen der rechtsmedizinischen Untersuchung nach sexualisierter Gewalt steht die Sicherstellung forensischer Beweismittel im Mittelpunkt. Diese Beweise sind nicht nur für strafrechtliche Verfahren von grösster Bedeutung, sondern tragen auch zur medizinischen Versorgung der Betroffenen bei [6]. Der erste Schritt besteht in einer gründlichen Anamnese, bei der die Schilderungen der betroffenen Person aufgenommen und mögliche Verletzungen dokumentiert werden. Diese Anamnese bildet die Grundlage für die forensische Untersuchung.
Die anschliessende körperliche und gynäkologische Untersuchung beinhaltet die Dokumentation von Verletzungen und die Spurensicherung. Letztere konzentriert sich auf die Entnahme biologischer Proben, darunter DNS-Abstriche aus dem genitalen, analen und oralen Bereich, sowie allenfalls die Sicherung von Körperabstrichen, Fremdmaterialien und anderen potenziellen Beweismitteln [7]. Besonders entscheidend ist die zeitnahe Durchführung dieser Massnahmen, da DNS-Spuren und andere forensisch relevante Beweise mit der Zeit abgebaut und kontaminiert werden können. Idealerweise erfolgt die Untersuchung innerhalb eines Zeitfensters von 72 h nach der Tat [6]. Eine Spurensicherung macht dabei auch nach erfolgten Körperreinigungsmassnahmen durch die Geschädigten noch Sinn, da bereits eine Kleinstmenge an DNS ausreichen kann, um ein Täterprofil zu erhalten. Insbesondere geschützte Regionen, wie beispielsweise das hintere Scheidengewölbe, sind hierbei von grossem Interesse.
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Abschliessend sollten Opfer sexualisierter Gewalt auch hinsichtlich einer notfallmässigen Schwangerschaftsverhütung, einer Krankheitsprävention gegenüber sexuell übertragbaren Krankheiten, der Möglichkeit einer Inanspruchnahme psychologischer Betreuung sowie der Begleitung durch Opferhilfeorganisationen orientiert werden [3].
Technische Aspekte der Spurensicherung und forensischen Dokumentation
Die forensische Spurensicherung erfordert höchste Präzision und das strikte Einhalten standardisierter Protokolle. Jegliche Fehler bei der Probenentnahme oder -lagerung könnten die spätere Verwertbarkeit der Beweismittel im Gerichtsverfahren beeinträchtigen. Aus diesem Grund werden standardisierte Spurensicherungs-Kits (Abb. 1) verwendet, die spezifisch auf die Anforderungen der forensischen Beweisaufnahme zugeschnitten sind [8]. Diese Kits ermöglichen eine sichere Entnahme, Lagerung und den sicheren Transport der Proben und minimieren das Risiko einer Kontamination.
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Ein wesentlicher Aspekt der forensischen Dokumentation ist zudem die fotografische Erfassung von Verletzungen, nicht nur im Genitalbereich, sondern am gesamten Körper. Hierbei spielt die kolposkopische Untersuchung eine bedeutende Rolle, da sie eine Erfassung selbst kleinster Verletzungen im genitalen oder analen Bereich ermöglicht [9]. Eine Dokumentation von Verletzungen in einem sogenannten Körper- und Genitalschema (Abb. 2) kann zusätzlich hilfreich sein, um eine gerichtsverwertbare Beweismittelsicherung zu gewährleisten.
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Bedeutung der zeitnahen chemisch-toxikologischen Untersuchung
Ein entscheidender Aspekt der Spurensicherung ist die zeitnahe Asservierung von Blut und Urin, insbesondere bei Verdacht auf die Verabreichung von sogenannten K.-o.-Tropfen oder anderen Betäubungsmitteln. Diese Substanzen – oft als „Date-rape-Drogen“ bekannt – können innerhalb weniger Stunden aus dem Körper ausgeschieden werden [3]. Die Sicherung dieser Proben sollte daher prioritär behandelt werden und optimalerweise bereits zu Beginn des Erstkontakts mit medizinischen Institutionen erfolgen. Wenn bereits einige Zeit seit der Tat verstrichen ist, können Haaranalysen wertvolle Hinweise auf die Verabreichung derartiger Substanzen liefern. Aufgenommene Substanzen werden in das Haar eingelagert und können dort für mehrere Monate nachweisbar bleiben [3].
Verletzungsbilder und ihre Bedeutung
Durch sexualisierte Gewalt verursachte Verletzungen können vielfältig sein und sich sowohl im genitalen als auch im extragenitalen Bereich manifestieren. Häufig sind Verletzungen wie Prellungen, Hämatome oder Schürfwunden im extragenitalen Bereich zu finden und können beispielsweise durch Abwehrhandlungen der Betroffenen entstehen [10]. Insbesondere Verletzungen im Bereich des Halses und der Atemwege sind alarmierende Indikatoren für lebensbedrohliche Gewaltanwendung infolge einer Strangulation [11].
Trotz dieser potenziell gravierenden Verletzungen sollte das Fehlen sichtbarer Verletzungen – insbesondere auch im genitalen Bereich – niemals als Indiz eines fehlenden sexuellen Übergriffs gewertet werden. Zahlreiche Fälle belegen, dass gerade bei erfahrenen Tätern, in Fällen psychischer Gewalt oder bei sogenannter Schockstarre des Opfers nur minimale physische Spuren zurückbleiben. Aus diesem Grund ist eine ganzheitliche forensische Untersuchung des gesamten Körpers unerlässlich [12, 13]. Besonders wichtig ist dabei die Dokumentation subtiler Befunde wie Petechien oder kleiner Schürfwunden, die oftmals als einzige sichtbare Indikatoren einer gewaltsamen Handlung dienen.
Das Berner Modell: ein interdisziplinärer Ansatz
Das sogenannte Berner Modell ist ein herausragendes Beispiel für einen interdisziplinären und opferzentrierten Ansatz, der eine umfassende forensisch-klinische Untersuchung unabhängig von einer sofortigen Anzeige ermöglicht. Diese Vorgehensweise, die 1986 in der Schweiz in Bern entwickelt wurde, hat sich als besonders effektiv erwiesen: Sie gibt den Opfern sexualisierter Gewalt die Möglichkeit, Beweise auch ohne unmittelbare Strafanzeige sichern zu lassen [14]. Das Modell fördert die enge Zusammenarbeit zwischen Rechtsmedizinern, Gynäkologen, Psychologen und weiteren Fachkräften, um die Betroffenen in einem geschützten Umfeld zu betreuen. Dies stellt sicher, dass sowohl die psychologischen als auch die physischen Bedürfnisse der Opfer berücksichtigt werden. Internationale Adaptionen dieses Modells zeugen von dessen Effektivität und Tragfähigkeit in der Opferbetreuung und Beweissicherung [3].
Schlussfolgerung und Fazit für die Praxis
Die forensisch-klinische Untersuchung nach sexualisierter Gewalt spielt eine entscheidende Rolle sowohl in der Beweissicherung als auch in der medizinischen und psychologischen Versorgung der Betroffenen. Eine sorgfältige Spurensicherung und Dokumentation der Verletzungen erfordert höchste Präzision und interdisziplinäre Kooperation. Insbesondere bei fehlenden sichtbaren Verletzungen ist die umfassende Untersuchung von zentraler Bedeutung, um subtile Spuren eines Übergriffs festzustellen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Rechtsmedizin, Gynäkologie, Psychologie und den Ermittlungsbehörden ist unerlässlich, um eine ganzheitliche Betreuung der Opfer sicherzustellen und die gerichtliche Verwertbarkeit der Beweise zu gewährleisten. Das Berner Modell stellt einen Prototyp derartiger interdisziplinärer Zusammenarbeit dar und räumt den Opfern die notwendige Zeit ein, ohne Druck über eine Anzeige zu entscheiden.
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Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
C. Hartmann gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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