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Ärzte Woche

07.11.2019 | Radiologie

Künstliche Aufregung

verfasst von: Josef Broukal

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Es ist schon sehr aufregend, was sich im Bereich der Künstlichen Intelligenz in der Medizin tut. Schlaue Software hilft in der Radiologie, unterstützt bei der Diagnose, spart Arbeitszeit und findet Verdachtsfälle, wo das menschliche Auge nichts gesehen hätte. Ein Wiener Start-up ist auf den Sprung in die USA. Dennoch: Kein Grund, sich Sorgen zu machen, niemand wird von Maschinen abgesetzt.

Wir suchen und finden im Dachgeschoss eines Vorstadt-Hauses in der Hietzinger Hauptstraße das „ImageBiopsy Lab“ (kurz: „IBLab“). Mitgründer Christoph Götz führt uns durch die Räume. Mitarbeiter tüfteln an Workstations an neuen Software-Versionen. Alles mit einem Ziel: Die Arbeit von Radiologen und Radiologinnen leichter zu machen. Dafür sorgen, dass sie, bildlich gesprochen, mehr sehen als mit dem eigenen Auge. Und zwar in drei Bereichen: Bei der Früherkennung von Kniearthrose. Bei der Bestimmung des pädiatrischen Knochenalters. Und bei der Messung der wichtigsten Hüftwinkel. Dass die Computerprogramme das können, dafür sorgt die „Künstliche Intelligenz“ von „Hippo“, „Koala“ und „Panda“ – so nennt das Team Ihre drei KI-Lösungen für die radiologische Praxis.

Die KI sieht mehr

Lange Zeit galt: Computer sind schnell, aber dumm. Wer von uns kann nicht davon erzählen, wie Software schlingert, bis sie letztlich aus der Spur gerät? Aber Vorsicht: Computer werden immer schneller. Können daher in kurzer Zeit auch viel mehr berechnen. In der Zeit, in der früher ein Rechner einmal „Ja oder Nein“ entscheiden konnte, geben moderne Workstations heute hunderte Antworten. Und das bedeutet umgekehrt: Computerprogramme können heute auch hundertmal komplexer sein als früher. Ein Beispiel: Im Jahr 1984 stellte IBM sein erstes Spracherkennungssystem vor. Es konnte etwa 5.000 englische Wörter erkennen – allerdings in mehreren Minuten Rechenzeit auf einem Großrechner. Mitte der 1990er Jahre kamen dann die ersten brauchbaren Spracherkennungsprogramme für den PC auf den Markt. Man musste ihnen beim ersten Start etwa eine halbe Stunde lang einen Text vorlesen, erst dann waren sie auf die eigene Stimme eingestellt. Und beim Diktieren hieß es: „Bitte zwischen jedem Wort eine Pause lassen.“ Heute, fünfundzwanzig Jahre später, genügen ein paar Wörter fürs erste Kennenlernen. Und für die Aufnahme heißt es: „Bitte sprechen Sie flüssig und ohne Pausen.“ Speech-to-Text-Software kann heute auf sehr viel mehr Wörter und Wort-Kombinationen im Computerspeicher zurückgreifen als vor einem Vierteljahrhundert. Sie fragt sich nicht Wort für Wort, was denn da gerade gesprochen hätte sein können. Sie nimmt fünf bis sechs Wörter zusammen ins Visier und prüft, ob sie gemeinsam betrachtet Sinn ergeben. Die Ergebnisse sind eindrucksvoll. Aber „Künstliche Intelligenz“ („KI“) setzt der Leistungsfähigkeit heutiger Hardware noch eins drauf.

Die Software lernt schneller

Das Entscheidende an der KI ist, dass sie ihr eigener Mentor ist und auf Grundlage von gigantischen Datensätzen lernt. Sie ist nicht, wie man es von Computerprogrammen von früher kennt, auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt, dem sie sklavisch folgt. Aber wie geht das? Wie lernt die KI etwa, auf einem Röntgenbild die ersten Anzeichen einer Kniearthrose zu entdecken? ImageBiopsy Lab -Mitgründer Christian Götz erklärt, wie schwierig es war, als sich Computer-Vision-Spezialisten vor dem Durchbruch von Deep Learning (2015), überlegen mussten, welche Merkmale eine Krankheit messbar machten. Das war aufwändig zu programmieren, benötigte Expertenwissen über die Krankheit und war in der Praxis nicht immer eindeutig.

Mit Deep Learning lernt der Computer anhand der Daten selbst, welche Merkmale im Bild relevant sind und wie man sie erkennt — vorausgesetzt, es wurden dem KI-Programm die richtigen Ziele gesetzt. Gleichzeitig muss das Programm lernen, unterschiedliche Helligkeiten der Röntgenbilder und kleine Abweichungen in der Rotation auszugleichen.

Die KI ist damit in groben Zügen an die Funktionsweise des Hirns angelegt: Ein visueller Cortex erkennt einfache Muster (Streifen, Gradienten). Komplizierte Rechenvorgänge abstrahieren die Muster weiter. Sie kommen am Ende zu Krankheitsbildern. Ärztinnen und Ärzte sind an ihre durch Erfahrung gewonnene Wahrnehmung gebunden. Die KI lernt von Null weg neu, welche Merkmale wichtig sind. Faszinierend: Auf diesem Weg können völlig neue Merkmale von Anomalien entdeckt werden.

Das Training der Software ist entscheidend; sie macht dies anhand von tausenden und abertausenden erstellten radiologischen (zutreffenden) Befunden. Dieses Training könnte kein Mensch absolvieren. Und selbst wenn – das menschliche Auge sieht weniger als die analysierende Software.

KI in der Praxis: ein Gewinn

Dr. Michael Gruber ist Facharzt für Radiologie und Gesellschafter der Radiologischen Gruppenpraxis in der Elisabethstraße in Baden bei Wien. Er begleitet die Entwicklung der Computerprogramme des ImageBiopsy Lab für Knie, Knochenalterbestimmung, Hüfte und Beinachsenvermessung seit Jahren. „Mich interessiert das Thema Künstliche Intelligenz in der Radiologie sehr. Bessere Befunde helfen den zuweisenden Ärzten und den Patienten. Schnellere und sichere Befunde unterstützen aber auch uns Radiologen.“ In seiner Ordination testet Gruber die Software im Alltag. Wie beurteilt er die Ergebnisse der KI? „80 bis 90 Prozent der Befunde beim Thema Kniearthrose sind richtig. Ein kontrollierender Blick des Radiologen ist also nach wie vor notwendig. Für mich faszinierend: die KI erkennt kleinste Anzeichen einer beginnenden Arthrose. Diese bilden sich einige Millimeter unterhalb des Gelenksspaltes und sind auf dem Röntgenbild mit freiem Auge gar nicht zu erkennen. Aber die KI mit ihren zehntausenden Vergleichsbildern sieht genau, dass hier ein mögliches Problem entsteht. Und sie setzt den behandelnden Arzt imstande, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.“

Übersichtliche Auswertung

Was IB Lab Koala , das Programm des „ImageBiopsy Labs“ für die Untersuchung des Kniegelenks findet, stellt es übersichtlich dar. An erster Stelle steht der Schweregrad nach dem Kellgren-Lawrence-Score von 0-4. Unterlegt in Farbe: Lindgrün für „0“, gelb für „1-3“, kräftiges Orange für „4“ (siehe Abbildung). Dann folgen die Werte für Gelenksspaltverschmälerung, subchondrale Sklerose und Osteophyten nach OARSI. Dann die Werte der Gelenksspalt-Messungen. Valide Information über Frühstadien und deren Verfolgung über die Zeit für den behandelnden Arzt auf einen Blick. Aber auch für den Patienten keine geheimnisvollen lateinischen Beschreibungen. Eigentlich ist die Farbe unter den großen Zahlen für den KL-Score vielsagend. Die gleiche Übersichtlichkeit findet sich bei der softwareunterstützten Messung der Hüftgelenke und bei der Analyse des Knochenalters der Hand.

Eine im Journal Cartilage publizierte Studie belegt, dass verschiedene Ärzte durch den Einsatz der Software weit besser übereinstimmen. Diese Standardisierung vermindert Überdiagnosen und schafft bessere Vergleichbarkeit bei Nachfolgeuntersuchungen – was bei langwierigen degenerativen Krankheiten wie Arthrose besonders hilfreich ist.

Und jetzt: Ab in die USA!

Vier Jahre Arbeit stecken bis heute in den drei Produkten aus dem IB Lab. Die staatliche Förderungsagentur aws und ein privater Investor sind 2018 an Bord gegangen. Sie haben einen „siebenstelligen Millionenbetrag“ (genauer will man das nicht sagen) in die weitere Entwicklung und Fertigstellung der drei KI-Lösungen für die Radiologie investiert. Und hoffen natürlich darauf, möglichst viel von diesem Geld wieder zu sehen. Daher haben die Gründer des IBLab den weltgrößten Markt für Medizinprodukte ins Auge gefasst: die USA. Dort entscheidet die fast allmächtige U.S. Food and Drug Administration über die Zulassung. Götz: „Das Verfahren ist so gut wie abgeschlossen. Wir hoffen auf das endgültige OK in einigen Wochen.“

Aber auch in Österreich wird Werbung für HippoPanda und Koala gemacht. Götz: „Um die Verwendung der Software noch einfacher zu machen, integrieren wir sie in die KI-Plattformen der großen Hersteller von Radiologiesystemen oder lokaler Distributoren. In Frage kämen für eine Zusammenarbeit etwa Siemens, Philips, Nuance, Sectra, aber auch lokale IT-Dienstleister. Der Arzt kann dadurch auf den Support seines bewährten IT-Dienstleisters zurückgreifen, und wir erreichen eine größere Kundenanzahl.

Radiologe Gruber will Hippo, Panda und Koala demnächst zuweisenden Ärztinnen und Ärzten im Bezirk Baden vorstellen. Aber nicht nur diese drei. Sondern auch das Mammografie-Tool iCAD – (Intelligent Computer Assisted Detection) der Firma iCAD Inc. aus New Hampshire in den USA. Diese Software glänzt, ebenfalls gestützt auf KI, beim Finden kleiner und kleinster bösartiger Veränderungen in der weiblichen Brust. „Dieses Programm sieht in kurzer Zeit nie weniger, aber manches Mal mehr als der befundende Arzt. Es zeigt selbst kleinste Veränderungen. Und zeigt an, wie groß die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer bösartigen Veränderung ist“, sagt Gruber.

Und was sehen die Zukunftspläne vor? Christian Götz: „Wir arbeiten an Modulen für die Wirbelsäule, Frakturerkennung etc. und werden als nächstes KI für CT und MRI entwickeln.“Ein volles Programm also. Und alles Made in Austria.

Metadaten
Titel
Künstliche Aufregung
Publikationsdatum
07.11.2019
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 45/2019

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