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Ärzte Woche

05.12.2017 | Psychotherapie

„Ich glaube, es ist mir egal“

verfasst von: Martin Krenek-Burger

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Sensibel, aufschlussreich, kreativ, informierend, klug und persönlich, so beschreibt Meisterfotograf und Verleger Lois Lammerhuber die Arbeiten von Mafalda Rakoš. Grund dafür: Rakoš habe die irritierende Thematik Essstörungen schön und einfühlsam umgesetzt. Die Autorin erzählt in „I want to disappear“ die Geschichten von 20 Betroffenen.

Linda aus Wien leidet seit ihrer Jugend an Bulimie und Anorexie. Nach eigenen Aussagen geht es ihr weniger um das Dünn-Sein, sondern vielmehr um Reinheit. Wenn sie sich für Fotografin Mafalda Rakoš auszieht, dann fällt der Blick auf die Verbrennungen auf ihrem Oberkörper, die von ihrer Wärmeflasche herrühren. „Mir ist einfach immer kalt. Ich weiß nicht, warum. Ich kann nicht mehr ohne ihr schlafen, und mache sie immer zu heiß… ich weiß nicht, warum. Ich glaube, es ist mir egal“, sagt sie. Das Zitat findet man im Bildband „I want to disappear“.

Magersucht, Bulimie und Binge Eating finden weltweit zunehmende Verbreitung. Der US-amerikanischen Renfrew-Stiftung zufolge leiden 70 Millionen Menschen an einer Essstörung. Zahlreiche Studien bestätigen, dass das Risiko zu erkranken bei Mädchen und jungen Frauen in westlichen Industrienationen am höchsten liegt. Nichtsdestotrotz werden die Krankheit und ihre Ursachen und Folgen immer noch stark stigmatisiert, verschwiegen und vom gesellschaftlichen Diskurs ausgeklammert.

Rund 200.000 Menschen erkranken hierzulande mindestens einmal in ihrem Leben an einer Essstörung. 7.500 junge Österreicherinnen und Österreicher unter 20 Jahren leiden akut an einer Essstörung. Mehr als 90 Prozent von ihnen sind Mädchen. Der Kult um Schönheit und Körper stellt einen idealen Nährboden für die Entwicklung von Essstörungen dar“, sagt Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie Österreich und selbst Psychologe. „Essstörungen sind keinesfalls Ernährungsprobleme, sondern ernst zu nehmende psychische Erkrankungen. Das problematische Essverhalten ist ein Ausdruck dafür, dass belastende und herausfordernde Situationen nicht zu bewältigen sind. „Mein Leben meistern zu können, Anerkennung und Wertschätzung zu erleben, mich selbst als wertvoll zu erfahren – all das brauchen wir persönlich wie gesellschaftlich als Gegengift.“Aufgrund der hohen Mortalitätsrate von bis zu 15 Prozent brauchen von Magersucht betroffene Menschen dringend eine Möglichkeit der stationären Behandlung,“ erklärt Dr. Gustav Raimann, ärztlicher Leiter der Diakonie-Klinik in Kärnten. „Neben psychiatrischer und internistischer Diagnostik fließen unter anderen Therapieformen auch die moderne Verhaltenstherapie sowie Elemente aus der Familien- und Gestalttherapie in das Behandlungskonzept ein“, erläutert Raimann. „Übungen zum Selbstwert und zur Identität nehmen den größten Raum in der Gruppentherapie ein. Autonomie und Abhängigkeit, Kontrolle und Stärke, Familienstrukturen, Abgrenzung von den Erwartungen anderer und Wahrnehmung eigener Bedürfnisse bilden den daran anschließenden Themen-Komplex. Frau-Sein heute, Schönheits- und Schlankheitsideal, Perfektionismus, Selbst- und Körperakzeptanz nehmen wir zum Ende der Therapie hinzu“.

Rakoš hat ihre Protagonistinnen jahrelang begleitet und in enger Zusammenarbeit aller Beteiligten in diesem Buch zusammengefügt. Die intimen Porträts, Erinnerungen und Erlebnisse der Betroffenen geben Einblick in die persönlichen Konflikte, Brüche und Unsicherheiten, die an der Wurzel dieser Erkrankung liegen. Eines wird dabei schnell klar: Essstörungen sind definitiv kein Zeichen von Schwäche. Und man ist keinesfalls damit allein. Hoffnung macht der Fall Ulrike. Ihre Geschichte reicht viele Jahre zurück, und wurzelt in der Generation ihrer Großeltern. Nahrung und Essen waren sensible Themen in ihrer Familie, und das Gefühl zu dick zu sein begleitet sie fast seit sie denken kann. Ihre Symptomatik wechselt von stark restriktivem Essverhalten zu extremen Phasen von bulimischen Ess-Brech Anfällen. Obwohl die Krankheit einen großen Stellenwert einnimmt, hat Ulrike kürzlich ihr Diplom an einer Kunstakademie abgeschlossen und einen Job in einer anderen Stadt angefangen, der ihr großen Spaß macht.

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Metadaten
Titel
„Ich glaube, es ist mir egal“
Publikationsdatum
05.12.2017
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 50-52/2017

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