Ein Südtiroler Chirurg hat eine Operationstechnik entwickelt, die erstmals ermöglicht, mit einer Prothese zu fühlen. Nerven- und Phantomschmerzen werden so reduziert. Sensoren in einem Strumpf registrieren jeden Kontakt und senden Signale ans Gehirn. Sein Wiener Kollege Oskar Aszmann arbeitet weiter an der Verbesserung bionischer Prothesen. Beide Mediziner kooperieren eng mit in Wien ansässigen Unternehmen.
Eine Amputation ist für Alessandro Colombo aus Trentino die letzte Hoffnung, endlich von seinen höllischen Nervenschmerzen im Knöchel erlöst zu werden. Der ehemalige Elite-Polizist und Sportler hat nach einem Motorradunfall vor 25 Jahren ein völlig zertrümmertes Bein. Als Folge bleibt ein verformter Fuß, mit dem er allerdings trotzdem an Triathlon-Wettbewerben teilnehmen kann. Vor vier Jahren raten Ärzte zu einer Korrektur-Operation, die missglückt. Die Folge ist ein Neurom im Fuß, das extreme Nervenschmerzen auslöst, die bis zu Selbstmordgedanken führen.
Der Italiener sucht Hilfe in der Südtiroler Brixsana Privatklinik. Hier hat der plastische Chirurg Doz. Dr. Alexander Gardetto gemeinsam mit dem Wiener Medizintechnik-Unternehmen Saphenus ein Therapiekonzept entwickelt, das nicht nur Nerven- und Phantomschmerzen reduziert, sondern Amputierten das Gefühl ihrer verlorenen Gliedmaße zurückgibt.
Vor eineinhalb Jahren entfernt Gardetto bei Colombo den Unterschenkel und verlegt die sensiblen Nerven des Fußes in den Oberschenkel. Diese gezielte Wiederherstellung der Sensibilität der Nerven wird als TSR bezeichnet, „Targeted sensory reinervation“.
Bionisches Feedback
Die Operation ist ein Erfolg! Colombo hat keine Schmerzen mehr. Und nach einigen Monaten beginnt er im Beinstumpf tatsächlich seinen Fuß zu spüren. Das Verlegen der Fußnerven in den Stumpf verbessert auch die Funktion des Feedback-Systems, mit dem das Gehen mit der Prothese verbessert wird. Sensoren in einem Strumpf, der über die Prothese gezogen wird, registrieren Bodenkontakt und Abrollen des Fußes. Die Signale werden drahtlos in Echtzeit an den Stumpf übertragen. Dank der neuen Operationstechnik kann Alessandro Colombo seinen fehlenden Fuß jetzt auch wieder fühlen. Die Nervenenden an der Stelle der Amputation der entsprechenden Gliedmaße melden über das bionische Feedback dem Gehirn sensorische Informationen, den Kontakt zum Boden. Zugleich werden Phantomschmerzen verhindert. Das hat Vorteile für die gesamte Haltung und Bewegung, sagt Colombo: „Das Gute an diesem System ist, dass ich besser wahrnehme, wie groß die Last auf der Prothese ist. So kann ich meine Haltung besser anpassen. Wenn ich stehe wie beim Zähneputzen, kippe ich nicht mehr um und dadurch belaste ich nicht mehr nur einen Fuß, und das ist gut für Rücken und Haltung.“
Technische Verbesserungen
Was den Sportler bei der Verwendung des Feedback-Systems bei seinem täglichen Lauftraining noch leicht stört, ist, dass er die Impulse vom Auftreten etwas zeitverzögert spürt. Dazu der Technische Leiter von Saphenus, Aaron Pitschl: „Im Hochleistungssport sind die Anforderungen viel höher. Sei es ans Material, sei es auch an die technische Umsetzung und die erfordern es, dass unsere Techniker sich damit auseinandersetzen, wie man diesen Anforderungen gerecht werden kann. Andererseits ist es ein Vorteil für Otto Normalverbraucher, dass sich das System verbessert und weiterentwickelt.“
Die Firma hat eine App entwickelt, mit der das Feedback der Signale auf die Bedürfnisse des Anwenders abgestimmt wird. Nachdem Colombo dieses System ausprobiert hat, spürt er am Oberschenkel das Aufsetzen und Abrollen seines Fußes von der Ferse bis zu den Zehen.
Der Triathlet ist so begeistert von der neuen Technik, dass er – sinnbildlich – auf den höchsten Berg der Welt laufen will – trotz Prothese: Dazu läuft Colombo als Training jeden Tag den Monte di Mezzocorona hinauf, einen Berg in Trentino, und mit Seilbahn wieder hinunter. Sein Ziel ist, in 24 Stunden 14-mal die 600 Höhenmeter zurückzulegen – das ergibt die Höhe des Mount Everest. Colombo: „Mein Training dient der ,Everest-Challenge’. Das ist ein Höhenlauf-Wettbewerb, bei dem man eine bestimmte Strecke so oft läuft, bis die Höhe des Mt. Everest erreicht ist. 8.848 Meter – das markiert den Endpunkt.“
Seine Initiative heißt „Tagliato per vivere“, übersetzt: „Abschneiden um zu leben“. Diese soll die Bedeutung dieses chirurgischen Eingriffs vermitteln – die Amputation funktionsunfähiger Körperglieder –, „auch um zu zeigen, dass Amputierte dank dieser Operation wieder ein super Leben führen können.“
Auch der Snowboard-Profi Riccardo Cardani lässt sich gezielt amputieren – seine funktionsunfähige Hand. Der heute 32-jährige Mailänder muss nach einem Motorradunfall vor 14 Jahren mit Schmerzen und einem gelähmten Arm leben. Jetzt ist der Sportler glücklich. Denn er hat nicht nur eine funktionierende künstliche Hand, dank der Operation von Gardetto kann er seine Finger wieder fühlen. „Endlich habe ich einen Arm, den ich nutzen kann, im Vergleich zu vorher, wo die Hand wie tot war, nur ein lästiges Anhängsel!“, sagt Cardani.
Sein Wunsch nach Amputation ist in seinem sozialen Umfeld zwiespältig aufgenommen worden: „Meine Mutter war am Anfang sehr erschrocken. Sie hat mir nicht geglaubt und gedacht, es sei ein Scherz. Als sie verstanden hat, dass es doch kein Scherz ist, war meine Entscheidung schon getroffen, ich wollte es schon länger machen. Dann hat sie es wohl oder übel akzeptiert, und es war die beste Entscheidung!“
Neun Hand-Amputationen
Cardani ist der neunte Hand-Patient, bei dem Gardetto seine Technik eingesetzt hat, alle mit unterschiedlichen Indikationen: neben Unfällen auch Folgen von Infektionen und eine Gefäßmissbildung. Der plastische Chirurg nutzt jetzt die Erfahrungen bei der Hand, die er bei der Amputation von Beinen gewonnen hat. Ziel ist neben Verhindern von Phantomschmerzen die Vorbereitung für eine fühlende Prothese: „Bei den Amputationen haben wir nicht nur die Hand einfach weggeschnitten. Sondern wir haben die Nerven, die zu den einzelnen Fingern führen so in den Unterarm geleitet, dass der Patient nach der Ausheilung seine Hand am Unterarm an der Innenseite spürt.“
Während der Amputation der Hand spart der Chirurg die motorischen und die sensiblen Nerven der einzelnen Finger aus. Sie werden geteilt, umgeleitet und mikrochirurgisch mit den Nerven des Unterarms verbunden. Der Patient soll so die Hand am Unterarm spüren, um seine Prothese anzusteuern.
Eine Amputation bei einem gesunden Menschen ist eine ethische Herausforderung, sagt Gardetto: „Das Besondere bei ihm ist, dass er ja eine Armlähmung hatte und das keine Indikation ist, eine Hand zu amputieren. Sein großes Glück war, dass er durch ältere Rekonstruktionsversuche eine gewisse Bewegung in den Arm bekommen hat, also im Ellenbogengelenk. Die Hand war tot. Wir sahen die Chance für ihn, dass er durch diese Operation eine funktionsfähige Hand erhält; abgesehen davon, dass er überhaupt keine Schmerzen mehr hat.“
Cardani spürt jeden Finger am Unterarm. Jetzt fällt dem Snowboarder das Training leichter: „Ich bin sehr zufrieden mit der Operation. Ich kann viele Bewegungen machen, die vorher nicht möglich waren. Und das hat meine körperliche Leistungsfähigkeit verbessert. Das hat mir ermöglicht, meine Muskulatur aufzubauen, die mir hilft, diesen Sport auszuüben.“
Snowboarden mit Prothese
Er bemerkt, dass durch den Einsatz der bionischen Prothese seine verkümmerten Muskeln im Oberarm stärker werden. Cardani ist Mitglied des italienischen Paraolympic-Nationalteams und hat an den Winterspielen in Peking teilgenommen. Ohne seine störende gelähmte Hand geht das Snowboarden besser. Als Profi-Sportler wollte er wegen des drohenden Dopingverdachts keine starken Schmerzmittel nehmen. Bei der bionischen Handprothese sind Bewegungen vorprogrammiert, die Cardani über motorische Sensoren ansteuern und auslösen kann. Zusätzlich hat die Firma Saphenus einen Handschuh entwickelt, der über die Prothese angezogen wird und Sensoren an den einzelnen Fingerkuppen hat. „Die Zuordnung der einzelnen Finger entspricht den Hautarealen am Stumpf, wo Gardetto die Nerven positioniert hat. Der Patient spürt an seinem Stumpf den Zeigefinger seiner künstlichen Hand“, erläutert Pitschl.
Sobald der Patient etwas in die Hand nimmt, wird der Sensor aktiviert, und dieses Gefühl wird dann mittels W-LAN über einen Transmitter an den Unterarm weitergeleitet, wo in der Prothese Vibratoren angebracht sind, die je nach Finger-Berührung vibrieren. Dieses Gefühl wird an das Gehirn weitergeleitet, das ausgetrickst wird und glaubt, dass die Hand noch wirklich vorhanden ist.
Phantomschmerzen verschwinden
Die neue Technik hilft auch gegen die Phantomschmerzen, unter denen 30 bis 60 Prozent aller Amputierten leiden. Gardetto erklärt den Begriff: „Das Gehirn meint, dass die Hand hier ist, aber sie ist in Wirklichkeit nicht hier. Es entsteht ein sogenanntes ,Leck’ im zentralen Gehirn, im Kortex. Das verursacht Schmerzen. Sobald diese Sensibilität weitergeleitet wird, wird das Gehirn ausgetrickst. Es glaubt, dass die Hand da ist. Und der Phantomschmerz verschwindet.“
Gardetto resümiert: „Die Hand ist etwas sehr Wichtiges. Mit der Hand wird gestikuliert, wird gesprochen, wird etwas angegriffen. Wir wissen, was wir in der Hand haben, ohne dass wir hinschauen müssen. Immanuel Kant hat das so beschrieben: Die Hand ist das Werkzeug des Geistes. Wir wiederum haben uns gefragt: Wie können wir diesen Geist wieder herstellen, wenn eine Hand verloren geht? Das geht nur, wenn man das Gefühl wieder herstellt. Das heißt, wenn man der Prothese, einem Gegenstand, eine Sensibilität gibt.“
Einen anderen Weg geht die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Oskar Aszmann von der Universitätsklinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie an der MedUni Wien. Seit 2007 arbeitet der Chirurg mit seinem Team an der Perfektionierung bionischer Prothesen. Seit 2019 leitet Aszmann das Klinische Labor für bionische Extremitätenrekonstruktion. Im Tierexperiment ist es ihnen gelungen, eine Schnittstelle zwischen Organismus und Maschine zu schaffen, die das Gefühl der verlorenen Gliedmaßen wiederherstellt, ohne technisches Biofeedback. Die Studienergebnisse wurden im Fachjournal Nature Communication publiziert. Erstautor Dr. Christopher Festin: „Wir wollen dem Menschen von der Prothese ein Signal ins Gehirn geben, um die verlorene Extremität wieder zu spüren.“
So funktioniert das Sensibilisierungs-Modell: Ein Hauptnerv der Hand, der sowohl sensorische als auch motorische Fasern beinhaltet, wird mit einem nicht dazugehörigen Muskel verbunden, auf dem zusätzlich ein Hauttransplantat angenäht wurde. „Wir nützen die Mechanorezeptoren, jene kleinen Korpuskeln, die bei uns in der Haut drinnen sitzen, um eine Rückmeldungs-Möglichkeit zu schaffen. Das haben wir gemacht in einem Tierexperiment mit Ratten. Wir haben eine Haut, die reich mit Mechanorezeptoren bestückt ist, z. B. von der Sohle oder von der Hand, auf einen Muskel transplantiert. Dann wird der Nerv umgeschaltet und wächst in diese Rezeptoren hinein“, sagt Aszmann.
Die Forschung zeigt, dass es gelingt, dass ein sensibler Nerv, der nach einer Amputation sein Ziel verloren hat, eine künstlich geschaffene Umgebung reinerviert, gezielt die Muskeln mit Gefühlsreizen versorgt. Das könnte Phantomschmerzen verhindern, führt Festin aus: „Wenn wir diese Nerven zu einem richtigen Ziel, zu Rezeptoren bringen können, die für Sensibilität zuständig sind, dann würde das Gehirn bemerken, dass da Signale kommen. Es ist eine Illusion, als wäre die Hand wieder da. Das Gehirn baut diese Reorganisation um, zurück in einen ursprünglichen Zustand, sodass die Phantomschmerzen geringer werden oder ganz verschwinden.“
Die Studienergebnisse sollen ermöglichen, dass Patienten die künstliche Extremität so spüren und bewegen können, als würde sie zum eigenen Körper gehören. Im nächsten Schritt sollen die Erkenntnisse aus dem Tiermodell bei Menschen umgesetzt werden. Schon jetzt kann auch eine bionische Prothese noch ohne Gefühlswahrnehmung Phantomschmerzen lindern, wie das Beispiel von Josef K. zeigt. Der Landwirt verlor vor sechs Jahren bei einem Arbeitsunfall seinen rechten Arm. Vor zwei Jahren bekam er an der MedUni Wien eine bionische Prothese. Der Rest des Hauptnervs der Hand wurde in seinen Brustmuskel umgeleitet, mit dem er jetzt seinen künstlichen Arm steuert.
„Ich habe zwei Elektroden auf der Haut kleben, das sind zwei Signale, mit denen ich eine Funktion machen kann. Wenn ich die künstliche Hand aufmache, habe ich eine Funktion, und wenn ich sie zumache, habe ich eine andere Funktion“, sagt Josef K., der mit seiner bionischen Prothese viel besser im Alltag zurechtkommt. So kann er selbstständig essen und auf seinem Hof arbeiten. Außerdem haben die quälenden Phantomschmerzen so nachgelassen, dass er zwei Drittel seiner Schmerzmedikamente absetzen und auch das Morphin weglassen konnte. K. wäre bereit, bei neuen Innovationen weitere Operationen machen zu lassen, um seinen bionischen Arm noch besser steuern und auch fühlen zu können.