Psychiatr Prax 2008; 35(3): 149-151
DOI: 10.1055/s-2008-1074815
Serie · Szene · Media Screen
Szene
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wirksamkeit von Antidepressiva: Evidence b(i)ased Medicine

Further Information

Publication History

Publication Date:
10 April 2008 (online)

 

Antidepressiva zählen zu den meistverordneten Psychopharmaka weltweit. Neben den bereits seit Jahrzehnten in Gebrauch befindlichen trizyklischen Antidepressiva und ebenfalls seit langem bekannten anderen Wirkstrukturen wie tetrazyklischen Antidepressiva oder MAO-Hemmern haben sich in den letzten Jahren zahlreiche weitere Substanzen mit anderen und kombinierten Werkmechanismen etabliert, mit der größten Verbreitung die Serotonin-selektiven Reuptake-Hemmer (SSRI). Angesichts der großen Verbreitung und großen klinischen Erfahrung im Umgang mit diesen Substanzen überrascht es, dass Diskussionen um die Frage, ob diese Substanzen überhaupt antidepressiv wirksam sind, noch immer geführt werden und gerade jetzt breites öffentliches Interesse hervorrufen. Ein indirektes Indiz für die eher bescheidene Wirkung ist zunächst bereits die Vielzahl anderer Substanzen, für die nach einem ursprünglich anderen zugelassenen Indikationsgebiet nun auch eine antidepressive Wirkung beschrieben wird (z.B. "atypische" Neuroleptika, das Raucherentwöhnungsmittel Bupropion, Omega-3-Fettsäuren, das Anxiolytikum Buspiron, das Antiepileptikum Lamotrigin, Schilddrüsenhormone, Sexualhormone usw.). Tatsächlich zeigte die wohl bisher größte und methodisch beste vergleichende Therapiestudie, die STAR*D-Studie [1], dass unter der initialen Monotherapie mit verschiedenen Substanzen nur einer von drei Patienten remittierte. Ein nicht zu unterschätzender Anteil von Remissionen findet sich im Verlauf schließlich auch unter Placebo. Systematische Probleme der typischen Placebo-kontrollierten Zulassungsstudien über einen Verlauf von 4-6 Wochen beinhalten die Erkennbarkeit des Verum-Präparates auf Grund der vegetativen Nebenwirkungen, die Selektion von klinisch untypischen Patienten ohne Komorbidität und Suizidalität [2] und die quasi-psychotherapeutische Wirkung der Zuwendung durch die regelmäßigen Assessments im Verlauf von Studien. Auf letztere lassen sich ca. 40% der Response unter Placebo (und Verum) zurückführen [3]. Alle genannten Effekte führen dazu, dass die in diesen Studien bestimmte Wirksamkeit sich quantitativ von der tatsächlichen unterscheidet - ob dies zu einer Unter- oder Überschätzung des therapeutischen Effektes führt, wird jeweils kontrovers diskutiert.

In den letzten Jahren hat sich das Interesse zunehmend auf einen weiteren Effekt gerichtet, der ebenfalls zu einer systematischen Verfälschung der vorliegenden Evidenz führt, auf deren Basis Therapieentscheidungen getroffen werden: den "Publication Bias". Gemeint ist damit die (oft hypothetisch angenommene) Tendenz, dass Studien mit einem positiven Ergebnis wahrscheinlicher publiziert werden als solche mit einem negativen. Eben dies behaupten seit Jahren Joanna Moncrieff vom University College London, Department of Mental Health Sciences, und Irving Kirsch vom Department of Psychology an der University of Hull (ebenfalls Großbritannien), die in vielen Beiträgen in hochrangigen wissenschaftlichen Zeitschriften die These vertreten, dass Antidepressiva im Grunde unwirksam seien und nur mit großem Erfolg von einem industriellen Kartell mit Hilfe kollaborierender Ärzte in der Forschung vermarktet würden. In einer 2005 erschienenen Metaanalyse über "Efficacy of Antidepressants in Adults" [4] im seriösen British Medical Journal argumentierten Moncrieff und Kirsch auf der Basis einer Analyse der publizierten Studien, dass die Wirksamkeit gegenüber Placebo nur durch die künstliche Festsetzung von Cut-off-Grenzen im Hamilton-Score willkürlich errechnet sei und dass der verbleibende relativ geringfügige Effekt statistischer Überlegenheit der Verum-Substanzen auf einen Publication Bias zurückzuführen sei. Die Arbeit löste damals bereits eine sehr lebhafte wissenschaftliche Diskussion aus und war von immerhin 22 publizierten Leserbriefen gefolgt.

Das Argument des Publication Bias erhielt nun neue und obendrein sehr fundierte Nahrung durch eine Arbeit, die vom wissenschaftlichen Gehalt her eigentlich wesentlich interessanter ist als die später noch zu diskutierende, fast zeitgleich erschienene Arbeit von Kirsch et al. [5]. Die im New England Journal of Medicine publizierte Arbeit über "Selective Publication of Antidepressant Trials and its Influence on apparent Efficacy" überzeugt durch solide Methodik und umfassende Daten [6]. Die Autoren analysierten das Register und die Datenbasis der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA), bei der alle pharmazeutischen Hersteller bereits vor Beginn ihre Zulassungsstudien und die zu untersuchenden primären Outcomes registrieren lassen müssen, wenn sie eine Zulassung auf dem amerikanischen Markt anstreben. Die Hersteller müssen der FDA die Rohdaten übermitteln, welche von den Statistikern der FDA einer eigenen Bewertung unterzogen werden.

Die Autoren identifizierten alle Phase-2- und Phase-3-Studien für 12 Antidepressiva, die durch die FDA zwischen 1987 und 2004 zugelassen wurden. Die Datenbasis umfasste 12 564 erwachsene Patienten. Für diese Studien wurden jeweils die zugehörigen Publikationen in den Fachzeitschriften identifiziert. Die Bewertungen der FDA (positiv, negativ oder fraglich, letzteres, wenn sich keine positiven Effekte bei den primären Outcomemaßen ergaben, jedoch günstige Effekte bei sekundären) wurden den Bewertungen in den Journal-Publikationen gegenübergestellt.

Im Register der FDA konnten 74 Studien gefunden werden, immerhin 23 davon waren nicht publiziert. Die Stichprobengröße und die Studienqualität waren in den nicht publizierten Studien nicht geringer als in den publizierten. Nur 38 (51%) der Studien wurden von der FDA als positiv eingestuft. Allerdings wurden diese mit einer Ausnahme alle publiziert. Von den 36 Studien mit negativem oder fragwürdigem Ergebnis wurden hingegen 22 nicht publiziert, 11 wurden - abweichend von der Bewertung durch die FDA - als positiv publiziert und nur 3 wurden mit negativem Ergebnis publiziert. Bezogen auf Patientenzahlen wurden immerhin Daten von 3 449 Patienten in den klinischen Studien (27%) nicht publiziert. Daten von weiteren 1 843 Patienten wurden in einer Weise in Journal-Artikeln beschrieben, die nicht mit der Bewertung des primären Outcomes durch die FDA übereinstimmte.

In einem nächsten Schritt berechneten die Autoren, welche Verfälschung der wissenschaftlichen Evidenz sich durch den Publication Bias ergab. Für jedes der 12 Antidepressiva wurde die Effektstärke der Wirkung (Differenz der Mittelwerte des primären Outcomes geteilt durch die mittlere Standardabweichung) nach den publizierten Daten und den FDA-Daten berechnet. Die Abweichung war in allen Fällen hoch signifikant (p<0,001). Die Wirkung der Substanzen wurde auf Grund des Publication Bias zwischen 11% und 69%, durchschnittlich um 32%, überschätzt. In allen Fällen blieb jedoch auch nach Abzug dieses Effekts eine dem Placebo überlegene Wirkung erhalten. Die Autoren der Studie kommentieren, dass sie nicht in der Lage seien zu beurteilen, ob der Bias durch das Ausbleiben von Manuskripten seitens der Studienleiter und pharmazeutischen Firmen oder die Entscheidung von Reviewern oder Journal-Herausgebern, betreffende Manuskripte nicht zu publizieren, verursacht sei. Sie betonen, dass die künstlich überhöhten Effektstärken neben diversen ethischen Problemen auch dazu führten, dass für künftige Studien systematisch die Größe der Stichprobe unterschätzt werde, welche benötigt werde, um einen signifikanten Effekt nachzuweisen.

Eine ähnliche Methode wendeten Kirsch et al. in ihrer Metaanalyse an, welche nun Gegenstand großen öffentlichen Interesses wurde [5]. Auch sie griffen auf Daten der FDA zurück, die nach dem amerikanischen Freedom of Information Act öffentlich zugänglich gemacht werden müssen. Sie beschränkten sich allerdings im Gegensatz zu der zuvor referierten Metaanalyse von Turner et al. auf die Studien von 1987 bis 1999 und argumentieren, dass nur von vier Substanzen (Venlafaxin, Fluoxetin, Nefazodon, Paroxetin) vollständige Datensätze verfügbar seien. Auf der Basis der Analyse der so identifizierten Daten gelangen sie (zum wiederholten Mal in den letzten 10 Jahren, aber jeweils mit einer anderen wissenschaftlichen Methode) zu der Schlussfolgerung, Antidepressiva seien im Grunde der Wirkung von Placebo nicht überlegen; lediglich bei schwersten Depressionen entfalte sich ein substanzeigener Effekt.

Diese Studie wurde im März 2008 im In- und Ausland in nahezu allen Tages- und Wochenzeitungen als Sensationsmeldung aufgegriffen und in unterschiedlicher, teilweise auch polemischer Form kommentiert. Die DGPPN sah sich zu einer Stellungnahme und einer Pressemitteilung veranlasst [7]. Darin wird Kirsch eine manipulative Tendenz mit einer selektiven Auswahl von Studien ebenso vorgeworfen wie die Überbewertung von Metaanalysen, deren Schwäche es ist, auch schlechte Studien einzuschließen. Der Unterschied zwischen Antidepressiva und Placebo hinsichtlich erreichter Remission liege typischerweise bei 10-20% mit einer "number needed to treat" (NNT) (Anzahl von Patienten, die behandelt werden müssen, um bei einem einzigen den erwünschten Effekt zu erzielen) von ca. 10, was eine im Vergleich zu vielen anderen medizinischen Interventionen beachtliche Wirksamkeit bezeichne.

Diese Argumentation ist insgesamt schlüssig und wiederholt im übrigen die Kritik, die bereits gegenüber den früheren Publikationen von Moncrieff und Kirsch geäußert wurde: die selektive Auswahl der Datensätze bei ansonsten solider wissenschaftlicher Methodik. Ernsthafte Zweifel kommen für den klinisch tätigen Arzt allerdings bei dem letzten Satz auf. Diejenigen medizinischen Interventionen, denen im verbreiteten Urteil von Ärzten und Patienten eine "beachtliche Wirksamkeit" eigen ist, pflegen eine bedeutend bessere NNT zu haben - also etwa die Behandlung von Schmerzen mit Salicylaten, Osteosynthesen, Appendektomien, antibiotische Behandlung von Harnwegsinfekten oder die Chemotherapie von Hodgkin-Lymphomen. NNTs in der Größenordnung von 10 oder auch darüber sind häufig im Indikationsgebiet der Rezidivprophylaxe und Prävention zu finden, etwa bei der Prophylaxe erneuter Herzinfarkte mit Betablockern oder bei der Primärprophylaxe mit Cholesterinsenkern. Rezidivprophylaktische Interventionen, die wir in der Psychiatrie mit Überzeugung und guten empirischen Belegen vertreten und deren Wirksamkeit sich Arzt und Patient auch im Einzelfall erschließt, wie etwa die Neuroleptikabehandlung bei Schizophrenie, weisen dagegen eine viel günstigere NNT von <2 aus. Trotzdem ist eine hohe NNT, d.h. eine vergleichsweise schwache Wirksamkeit, bei der Prävention und Rezidivprophylaxe eher ein gesundheitsökonomisches Problem als eines der Behandlung: Der Patient kann, durchaus zu Recht, die Hoffnung haben, dass er zum großen Anteil derjeniger gehört, die auch ohne die Behandlung nicht krank würden. Die Behandlung stellt dann nur einen zusätzlichen pharmakologischen und auch psychologischen Schutz dar und eine hohe NNT ist akzeptabel. In kurativer Indikation dagegen ist eine hohe NNT in der Sicht von Ärzten und Patienten oft eher im Bereich von Verzweiflungstaten angesiedelt. Aus einer derart hohen NNT für den Einsatz von Antidepressiva folgt unter anderem auch, dass es kaum zu vertreten ist, ausschließlich auf diese biologische Zugangsweise zu vertrauen, sondern dass weitere, z.B. psychotherapeutische Maßnahmen im engeren oder weiteren Sinne unabdingbar sind. Eine NNT von 10 könnte der behandelnde Arzt bei der Verordnung eines Antidepressivums gemäß der juristischen Verpflichtung nach umfassender Aufklärung des Patienten über Wirkungen und Nebenwirkungen korrekt Evidenz-basiert folglich in die Worte fassen: "Ich möchte Ihnen ein Medikament verordnen, das einige Nebenwirkungen aufweisen kann und erfahrungsgemäß in 9 von 10 Fällen unwirksam ist." Eine derartige Aufklärung freilich wäre, obwohl sachlich korrekt, nicht nur antitherapeutisch, sondern womöglich auch unethisch, würde sie doch zugleich das mächtigste in der Hand des Arztes verbleibende Instrument, die Vermittlung von Hoffnung und Zuversicht, die der Patient (und gerade der depressive Patient) zu Recht von ihm erwartet, systematisch zerstören. Das ist das eigentliche Dilemma: der kaum aufzulösende Widerspruch zwischen der Pflicht, den Patienten umfassend und sachlich zu informieren, um ihm eine rationale Partizipation an Entscheidungen zu ermöglichen einerseits und der in gewisser Weise manipulativen Option andererseits, mittels der persönlichen Beziehung auch angesichts schwacher Wirksamkeitsnachweise Hoffnung zu vermitteln und den erwünschten Placeboeffekt zum eigentlichen Gewinn der Behandlung zu machen. Dafür im individuellen Fall die richtigen Worte und die richtige Beziehungsgestaltung zu finden, ohne den Boden der aufrichtigen Information zu verlassen, ist der Anteil, der über die Evidenz-Basierung hinausgeht und vielleicht tatsächlich bei allen Leitlinien noch so etwas wie ärztliche Kunst ist.

Tilman Steinert, Weissenau

Email: tilman.steinert@zfp-weissenau.de

Literatur

  • 01 Rush AJ . Limitations in efficacy of antidepressant monotherapy.  J Clin Psychiatry. 2007;  68 Suppl 10 8-10
  • 02 Zimmermann M . Chelminski I . Posternak MA . Generalisability of antidepressant efficacy trials: differences between depressed psychiatric outpatients who would or would not qualify for an efficacy trial.  Am J Psychiatry. 2005;  162 1370-1372
  • 03 Posternak MA . Zimmermann M . Therapeutic effect of follow-up assessments on antidepressant and placebo response rates in antidepressant efficacy trials: meta-analysis.  Br J Psychiatry. 2007;  190 287-292
  • 04 Moncrieff J . Kirsch I . Efficacy of antidepressants in adults.  BMJ. 2005;  331 155-157
  • 05 Kirsch I . Deacon BJ . Huedo-Medina TB . Scoboria A . Moore TJ . Johnson BT . Initial severity and antidepressant benefits: a meta-analysis of data submitted to the Food and Drug Administration. PLoS Medicine Vol. 5, No. 2, e45 doi: 10.1371/journal.pmed. 0050045. 
  • 06 Turner EH . Matthews AM . Linerdatos E . Tell RA . Rosenthal R . Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy.  N Engl J Med. 2008;  358 252-260
  • 07 Fritze J . Aldenhoff J . Bergmann F . Eckerman G . Maier W . Möller HJ . Gaebel W . Wirksamkeit von Antidepressiva. Stellungnahme zu Irving Kirsch. http://media.dgppn.de/mediadb/media/dgppn/pdf/stellungnahmen/2008/dgppn-stn08-02-fritze-zu-kirsch-wirksamkeit-antidepressiva.pdf
    >