Psychiatr Prax 2008; 35(1): 47-48
DOI: 10.1055/s-2007-1022675
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Sollen sich Deutsche in die rumänische Psychiatrie einmischen?

Ralf-Peter Gebhardt, Paul-Otto Schmidt-Michel
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Publication Date:
24 January 2008 (online)

 

Während sich im Bereich der rumänischen Kinderheime nicht zuletzt aufgrund des Drucks der Europäischen Union in den letzten Jahren einiges verbessert hat, war und ist die Lage im Bereich der rumänischen Psychiatrie bis zum heutigen Tag skandalös [1]. Insbesondere die Krankenhäuser für chronisch psychisch Kranke versanken und versinken in einem Brei von Verwahrlosung und Verwahrung als immer noch währendes Vermächtnis der Ceauescu-Zeit.

Zum Beispiel Borsa bei unserem Besuch 2004, ein Dorf mit 1 000 Seelen mit einem Krankenhaus für chronisch psychisch Kranke - ein Psychiatrieasyl: Borsa liegt eine Stunde von der nächsten Stadt entfernt versteckt in einem Tal. Außer den Dorfbewohnern will dort niemand arbeiten. Man wird nach Borsa gebracht, meist von Polizei oder Krankenwagen, um dort zu bleiben und zu sterben. Die individuelle Existenz erlischt. Auch das Personal, das dort arbeitet, ist stigmatisiert. Deshalb und weil der Weg nach Borsa schlecht, teuer und weit ist, möchte auch kein Fachpersonal dort arbeiten. Eine ärztliche Versorgung gibt es in diesem Krankenhaus weder nachts noch am Wochenende. Es leben dort andauernd 200 Menschen in 160 Betten, die sich auf acht Säle verteilen. Duschen und Toiletten funktionieren nicht, Flöhe und Krätze sind Alltag. Alles gleicht eher einem Straflager. Borsa ist einer von vielen solchen Orten in Süd-Ost-Europa, an dem psychisch Kranke versteckt und dauerasyliert werden.

Die Titelfrage ist zunächst eine rhetorische, da die besagte Einmischung bereits stattfindet. Mitarbeiter des Bezirksklinikums Kaufbeuren engagieren sich im Bezirk Suceava im Nordosten Rumäniens, die Alsterdorfer-Stiftung aus Hamburg ist als "Rumänienhilfe e.V." im Bezirk Bihor an der ungarischen Grenze aktiv und unser Ravensburger Beclean-Verein unterstützt chronisch psychisch Kranke in den siebenbürgischen Bezirken Cluj und Bistritz.

Die eigentlichen Fragen lauten, ob denn deutsche Psychiatriebeschäftigte nicht genug damit zu tun haben, vor der eigenen Haustüre zu kehren (doch, das haben sie), warum sie sich (wenn das so ist) trotzdem in fremde Angelegenheiten einmischen, inwiefern diese Einmischung von rumänischer Seite gewünscht wird (ein klares Jein) und ob das deutsche Engagement in der rumänischen Psychiatrie überhaupt etwas bewirken kann (ebenfalls ein klares Jein).

Der Reihe nach: Haben deutsche Psychiatriebeschäftigte in ihrem heimischen Arbeitsfeld nicht genug zu tun? Die hierzulande in den letzten Jahren erfolgte Arbeitsverdichtung ist auch am Berufsfeld der Psychiatrie nicht spurlos vorbeigegangen. Eine aktuelle Umfrage des Bundesgesundheitsministeriums zeigt, dass heute mit weniger Personal fast doppelt so viele Aufnahmen in psychiatrischen Klinken bewältigt werden müssen wie in den frühen 90er-Jahren. In den komplementären und ambulanten Einrichtungen ist die Situation nicht entspannter. Woher kommen also die personellen und finanziellen Ressourcen für diese psychiatrischen Auslandsmissionen?

Die Antwort ist nur auf den ersten Blick banal: das Engagement erfolgt ehrenamtlich und die erforderlichen Mittel müssen über Spenden und Stiftungsgelder akquiriert werden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass ehrenamtliches Engagement nur dort dauerhaft möglich ist, wo es von den jeweiligen psychiatrischen Institutionen in Deutschland toleriert und mitgetragen wird. Doch selbst bei einer wohlwollenden Haltung des Arbeitgebers ist fraglich, ob deutsche Psychiatriebeschäftigte heute noch motiviert wären, eine solche ehrenamtliche Initiative zu gründen und am Leben zu halten. Die Entstehungsgeschichten der drei oben genannten Initiativen liegen jedenfalls mehr als 15 Jahre zurück und begannen alle unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Ceauescu-Regimes. [Falls Sie, liebe Leserin und lieber Leser, in den letzten Jahren eine vergleichbare, ehrenamtlich tätige "psychiatrische NGO" gegründet haben, wären wir an Ihrer Kontaktaufnahme und an einem Erfahrungsaustausch mit Ihnen sehr interessiert.]

Kommen wir zur Frage der Motive: Warum engagieren sich deutsche Psychiatriebeschäftigte in der rumänischen Psychiatrie? Die Gründungsgeschichten der drei oben genannten Initiativen ähneln sich darin, dass deutsche Psychiatriebeschäftigte nach 1989 auf Reisen durch Rumänien (mehr oder weniger zufällig) desaströse Verhältnisse in der rumänischen Psychiatrie vorgefunden hatten. Insbesondere in den Einrichtungen für chronisch psychisch kranke Patienten1 herrschten Zustände, die passiver Euthanasie gleichkamen. Mit dem Begriff der "passiven Euthanasie" wird ein spezifisch deutsches Dilemma unserer Einmischung deutlich. Haben wir aufgrund unserer eigenen Vergangenheit überhaupt das moralische Recht, uns in die psychiatrische Versorgung eines anderen Landes einzumischen. Oder ergibt sich gerade aus unserer historischen Verantwortung heraus die Verpflichtung des Hinsehens und der Einmischung? Immerhin: der "Vorteil" dieses spezifisch deutschen Dilemmas ist, dass wir unseren rumänischen Kooperationspartnern mit dem Wissen begegnen, dass unsere eigene Psychiatriegeschichte die noch ausmerzendere war [2].

Nun zur Frage, inwiefern unsere Einmischung von rumänischer Seite gewünscht und ob sie nach dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union weiter benötigt wird. Vordergründig ist die Antwort einfach: Unsere Unterstützung ist mehr als willkommen und kaum ein Beteiligter würde bestreiten, dass externe Unterstützung weiterhin dringend benötigt wird. Unsere Einmischung stört allerdings ein System der Ausbeutung und Bestechung, das sich dank der systematischen Vernachlässigung durch die zuständigen Behörden und die Öffentlichkeit über Jahrzehnte hinweg bilden konnte. In einer Klinik konnten wir das detailliert nachvollziehen [3], [4]:

Je höher die MitarbeiterInnen in der Hierarchie der Klinik stehen, desto geringer ist ihre Präsenznotwendigkeit in der Klinik bei voller Bezahlung. Die Vergabe frei werdender Stellen erfolgt gegen Bezahlung an die Leitung. Arbeitsfähige Patienten werden unter den Mitarbeitern aufgeteilt, um auf ihren Feldern zu arbeiten (Zigarettenlohn). Angehörige bezahlen Angestellte, um Schutz oder Privilegien für ihre Verwandten zu erkaufen. Doch je länger ihre Angehörigen in der Einrichtung bleiben, desto mehr bemerken sie, dass das Personal ihre Kinder und Geschwister nicht schützt, weil es meist nicht anwesend ist. Als Folge gehen sie dazu über, anderen Patienten Essen und Geld zu geben, damit ihre Verwandten von ihnen gepflegt/beschützt werden. Eine zweite Gruppe von Angehörigen hat ein hohes Interesse, dass ihr Familienmitglied in der Einrichtung bleibt (sich nicht liebende Verwandte) und bricht den Kontakt rasch ab, wenn ihr Familienmitglied erfolgreich untergebracht ist. Sie haben bei Arbeitsunfähigkeit/Behinderung des kranken Familienmitglieds zwei Vorteile: Einen Esser weniger zu Hause und häufig deren Rente. Um das Verbleiben ihrer Angehörigen in der Einrichtung zu sichern, sind sie zu Zuzahlungen an das Personal bereit.

Es erstaunt nicht, dass unsere Einmischung von den Profiteuren dieses Systems überaus argwöhnisch beäugt wird.

Nun zur letzten Frage: Können wir (unter diesen Bedingungen) durch unsere Einmischung überhaupt etwas bewirken? Sicherlich konnten wir in den vergangenen Jahren in Suceava, in Oradea und Nucet, in Beclean, Turda und Borsa durch unsere Unterstützung baulich sichtbare Verbesserungen in der rumänischen Psychiatrie erreichen. Sicherlich konnten wir dort auch neue Beschäftigungsangebote für die Patienten implementieren, die es vorher in dieser Form nicht gegeben hatte. Und sicherlich konnten wir punktuell einige rumänische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter qualifizieren und einigen Patientinnen und Patienten helfen.

Andererseits herrschen mancherorts nach wie vor katastrophale hygienische und medizinische Bedingungen. Was uns jedoch die größte Sorge bereitet und an unserer eigenen Wirksamkeit zweifeln lässt, ist die Frage der Nachhaltigkeit unserer Bemühungen.

Nach Karl Kaser, Südosteuropahistoriker der Universität Graz, beruht Macht und Einfluss in Rumänien noch immer auf persönlichen Beziehungen. Jeder versuche über persönliche Netzwerke an den gesellschaftlichen und staatlichen Ressourcen zu partizipieren. Ein Denken in Richtung Gemeinwohl sei nicht vorhanden. Im Unterschied zu anderen osteuropäischen Ländern hat es keine rumänischen Dissidenten gegeben, die in der Transformationsperiode demokratiepolitische Standards definierten. Auch ein Elitenwechsel hat in Rumänien nach dem Sturz Ceauescus nicht stattgefunden. Es ist ein tragisches Signal für die politische Situation in Rumänien, wenn eine Justizministerin abgesetzt wird, weil sie gegen Korruption vorgeht. Wie soll unter solchen Umständen ein Mentalitätswandel stattfinden und sich die rumänische Zivilgesellschaft entwickeln?

Um hier einen kleinen Beitrag zu leisten, haben wir begonnen, gemeindepsychiatrische Tagungen in Rumänien zu veranstalten, um die beteiligten Akteure und die Zivilgesellschaft hinsichtlich des Umgangs mit ihren psychisch kranken Mitbürgern zu sensibilisieren.

Hybris? Vielleicht. Trotzdem werden wir uns, gerade weil wir Deutsche sind, weiter in die rumänische Psychiatrie einmischen, solange die psychisch kranken Menschen dort externe Fürsprecher benötigen.

Literatur

  • 01 Schmidt-Michel PO . Wunder M . Miller W . Gebhard RP . Psychiatrie in Rumänien - ein langer Weg nach Europa.  Krankenhauspsychiatrie. 2003;  14 138-142
  • 02 Schmidt-Michel PO . Gebhardt RP . Ist die Psychiatrie in Rumänien noch zu retten.  Kerbe. 2005;  1 35-36
  • 03 Schmidt-Michel PO . Gibt es etwas strukturell Böses in psychiatrischen Versorgungssystemen? Beispiele kollektiver Unachtsamkeit in der Psychiatrie in Südost-Europa.  Neurotransmitter, Sonderheft. 2006;  2 56-59
  • 04 Schmidt-Michel PO . "Zobu" - Streben nach humanitärer Betreuung.  Neurotransmitter. 2007;  4 12-14

Prof. Dr. Paul-Otto Schmidt-Michel
Dr. Ralf-Peter Gebhardt

Zentrum für Psychiatrie Weissenau

Weingartshoferstraße 2

88214 Ravensburg

Email: Ralf-Peter.Gebhardt@zfp-weissenau.de

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