PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(3): 327-331
DOI: 10.1055/s-2006-940038
Resümee
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Achtsamkeit und Akzeptanz: Modische Trends, therapeutische Substanz oder etwas von beidem?

Johannes  Michalak, Thomas  Heidenreich
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Publication Date:
05 September 2006 (online)

In diesem abschließenden Beitrag des Themenhefts zu Achtsamkeit und Akzeptanz wird zunächst eine Zusammenschau der aktuellen Bedeutung dieser beiden therapeutischen Prinzipien in den verschiedenen therapeutischen Schulen versucht. Dabei wird deutlich, dass sowohl das wissenschaftliche als auch das therapeutische Interesse in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Daran anschließend wird das Potenzial von Achtsamkeit und Akzeptanz für einen Dialog zwischen verschiedenen therapeutischen Schulen erörtert. Den Abschluss des Beitrags bilden Überlegungen zur Frage, ob Achtsamkeit und Akzeptanz eher Modetrends oder substanzielles therapeutisches Potenzial darstellen.

Die letzte Durchsicht der Beiträge dieses Themenhefts zeigte uns plastisch, wie stark sich im Laufe der letzten Jahre das Interesse an Achtsamkeit und Akzeptanz auch in Deutschland entwickelt hat und wie vielfältig die Beiträge zu dieser Thematik mittlerweile sind. Uns überrascht und freut dies, zumal dieses aus unserer Sicht wichtige Thema vor drei bis vier Jahren noch stark am Rande des therapeutischen „Mainstreams” stand. Damit wollen wir nicht zum Ausdruck bringen, dass Achtsamkeit und Akzeptanz aktuell dem Mainstream zuzurechnen seien - es wird jedoch deutlich, dass dem Thema sowohl vonseiten der praktisch tätigen Psychotherapeuten als auch vonseiten der Psychotherapieforscher großes Interesse entgegengebracht wird.

Die Beantwortung der Frage, weshalb gerade jetzt diesen Themen ein solches Interesse entgegengebracht wird, dürfte vielfältig sein und aller Wahrscheinlichkeit nach für die verschiedenen Perspektiven und therapeutischen Traditionen und Orientierungen unterschiedlich ausfallen: Therapeutische Traditionen, die seit je eine starke Affinität zu Themen wie Akzeptanz und Achtsamkeit haben (etwa die personzentrierte Therapie, Focusing und die Gestalttherapie), dürften sich durch Achtsamkeit und Akzeptanz in ihrem innersten Wesen angesprochen fühlen und die neuen Entwicklungen primär als eine Erweiterung bereits bestehender Therapieprinzipien begreifen. Dieses Wiedererkennen erleichtert zweifellos den Einstieg in die Thematik - beinhaltet aber potenziell die Gefahr, dass das Neue lediglich durch die Brille bekannter Konzepte gesehen wird. Diese Gefahr der vorschnellen Assimilation gilt sicherlich für alle therapeutischen Orientierungen, und wir werden weiter unten auf das genuin Neue ausführlicher eingehen, das Achtsamkeit und Akzeptanz unserer Meinung nach ausmacht.

Die Prinzipien Achtsamkeit und Akzeptanz können auch dazu beitragen, Schwerpunktsetzungen einzelner therapeutischer Traditionen (selbst)kritisch zu hinterfragen - beispielhaft seien hier Linehans Analyse der klassischen Verhaltenstherapie unter Akzeptanz- und Veränderungsaspekten (Linehan 1994) sowie Doubrawa (in diesem Heft) genannt: In der Formulierung, dass Achtsamkeit „die Haltung [sei], mit der TherapeutInnen sich auf dem Weg der Demut halten” und der Einschätzung, dass in den Anfängen der Gestalttherapie das „Ausagieren” aufkommender Gefühle eine relativ zu große Bedeutung hatte, bieten sich spannende Weiterentwicklungsmöglichkeiten eigener therapeutischer Schwerpunktsetzungen.

Ein weiterer Punkt, der für Angehörige humanistischer Therapieverfahren eine Rolle spielen dürfte, ist, dass mit der größeren Nähe zu moderner störungsspezifischer Forschung aktuelle empirische Evidenzen für die Bedeutsamkeit dieser Prinzipien geliefert werden. Eine vorschnelle Gleichsetzung „humanistische Therapieverfahren = Affinität zu Achtsamkeit und Akzeptanz” erscheint uns dennoch vereinfacht: Während wir uneingeschränkt der Meinung sind, dass Akzeptanz etwa im Sinne der therapeutischen Basisvariablen von Rogers in der personzentrierten Therapie eine deutlich stärkere Rolle spielt als in der Verhaltenstherapie, scheint uns dies für das Thema Achtsamkeit nicht in gleichem Maße zu gelten. Viele Prinzipien der Verhaltenstherapie wie die explizite Gegenwartsorientierung sowie eine aus der behavioristischen Tradition herrührende Skepsis gegenüber mentalistischen Konzepten weist eine auf den ersten Blick verblüffende Affinität zum Achtsamkeitsprinzip auf (Heidenreich u. Michalak 2003).

Auf der anderen Seite sind wir der Meinung, dass die Prinzipien Achtsamkeit und Akzeptanz im Rahmen der primär veränderungsorientierten (kognitiven) Verhaltenstherapie gleichsam eine Lücke schließen: Hier dürften Prinzipien, in deren Mittelpunkt ein zweckfreier Kontakt mit dem Hier und Jetzt steht und die den Wert des Gewähren- und Geschehenlassens betonen, möglicherweise bei Therapeuten auf einen „Mangelzustand” treffen, der diesen Prinzipien eine hohe Anziehungskraft verleiht - ermöglicht die daraus abgeleitete Haltung doch ein „Mit-dem-Leiden-des-Patienten-sein-ohne-(direkt)-zu-verändern” und damit die Option, Erlebnisse und Sachverhalte nicht unbedingt verändern zu müssen.

Für das steigende Interesse an Achtsamkeit und Akzeptanz dürften jedoch neben diesen eher psychotherapieimmanenten Faktoren auch noch andere Faktoren verantwortlich sein. An dieser Stelle ist aus unserer Sicht z. B. das gesamtgesellschaftliche Klima zu nennen: Dies betrifft u. a. die im Laufe der letzten Jahre zunehmend zu beobachtende Offenheit gegenüber Meditation, spirituell-religiösen Themen und östlichen wie westlichen Weisheitslehren. Scheinbar triviale Indikatoren für diese Entwicklung sind etwa Berichte über das Prinzip Achtsamkeit in der Tagespresse (von „Hörzu” bis zur „Zeit”) oder allenthalben sichtbare großformatige Werbeplakate mit Menschen in Meditationshaltung. Ein weiterer gesamtgesellschaftlicher Trend, der die Aufnahme des Prinzips Achtsamkeit begünstigt haben dürfte, zeigt sich im Gegensatz zu anderen Strömungen: Die zunehmende Ökonomisierung und Effizienzorientierung unserer Gesellschaft (und damit auch des Gesundheitswesens und der Psychotherapie) bergen die Gefahr, das Hier und Jetzt zu einer bloßen „Ressource” zu degradieren, in der die Gegenwart nur noch als Mittel zur Erreichung von zukünftigen Zielzuständen gesehen wird. Die unvereinnahmbare und unwiederbringliche Qualität des gegenwärtigen Augenblicks wird damit weder erfahren noch wertgeschätzt. Das mit dieser Geisteshaltung verbundene Leiden stellt bildhaft gesprochen einen „Stachel” dar, der Menschen für die Aufnahme von Achtsamkeit und Akzeptanz empfänglicher machen dürfte.

Literatur

  • 1 Bishop S R. What do we really know about mindfulness-based stress reduction?.  Psychosomatic Medicine. 2002;  64 71-84
  • 2 Fiedler P. Psychotherapie in der Entwicklung.  Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis. 2006;  38 269-282
  • 3 Heidenreich T, Michalak J. Achtsamkeit („Mindfulness”) als Therapieprinzip in Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin.  Verhaltenstherapie. 2003;  13 264-274
  • 4 Linehan M M. Acceptance and change: The central dialectic in psychotherapy. In: Hayes SC, Jacobson NS, Follette VM, Dougher MJ (Hrsg) Acceptance and change: Content and context in psychotherapy. Reno; Context Press 1994: 73-86
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