Psychiatr Prax 2005; 32(8): 413-416
DOI: 10.1055/s-2005-923489
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Publication Date:
12 December 2005 (online)

 

Psychiatriegeschichten

Was soll man von dieser Verlagsankündigung halten: "Eine bunte Palette von Aufsätzen und Vignetten, die alle um das Ende des Irrenhauses kreisen. Der bekannte Psychiatriehistoriker Christian Müller, der selbst im Irrenhaus aufgewachsen ist, zögert nicht dessen Ende anzusagen." Ein so beschriebenes Buch würde ich weder lesen noch besprechen - schon gar nicht kaufen. Aber glücklicherweise ist alles ganz anders.

Christian Müller, Psychiatriereformer der ersten Stunde im Kanton Waadt, fast drei Jahrzehnte Klinikchef und Ordinarius für Psychiatrie in Lausanne, hat sich in seinem Alter der Psychiatriegeschichte zugewandt. In "Die Gedanken werden handgreiflich" (1992) geht er der Psychiatrie in der Literatur nach. In den nachfolgenden Büchern "Vom Tollhaus zu Psychozentrum" (1993), "Wer hat die Geisteskranken von den Ketten befreit" (1998) und dem vorliegenden "Abschied vom Irrenhaus" (2005) erzählt er faszinierende, historisch fundierte Geschichten aus 200 Jahren Psychiatriegeschichte, die fast immer auch heute von Belang und immer gut zu lesen sind. Müllers Schilderungen bedeutsamer und weniger bedeutsamer Episoden der Psychiatriegeschichte sind für manches Aha-Erlebnis gut.

Das gilt auch für viele Beiträge des "Abschiedes". Hervorheben will ich "Die Drehmaschinen in der Geschichte der Psychiatrie", die uns auch nach 200 Jahren immer wieder von kritischen Geistern vorgehalten werden; die "Bettbehandlung Geisteskranker und ihre Folgen", eine andere traurige Episode in der Geschichte unseres Faches, die zwischen 1880 und 1910 ihren Höhepunkt hatte; und "Ein deutscher Assistent erlebt 1949 die Schweizer Psychiatrie". Der deutsche Assistent ist Caspar Kulenkampff, der seine Erfahrungen in der Berner Kantonalen Psychiatrischen Klinik (Direktor: Max Müller, der Vater Christian Müllers) in lebhaften Briefen an Ehefrau, Mutter und Stiefvater Jürg Zutt schildert.

Von besonderer Bedeutung ist der Aufsatz "Der Psychiater und die Schizophrenie". Hier veröffentlicht er die Ergebnisse seiner Umfrage bei den Schweizer Psychiatern zur Schizophrenie (erneut) aus der u.a. hervorgeht:

"23,6% hatten in ihren eigenen Familien einen bis mehrere schizophrene Blutsverwandte" (Geschwister, Eltern, Onkel, Tanten); "15,3% gaben an, im Laufe ihres Lebens mindestens sechs Monate mit einem Schizophrenen im gleichen Haushalt gelebt zu haben."

Ja, warum wird man Psychiater?

Der Titel "Abschied vom Irrenhaus" wird der Vielfalt des Buches ebenso wenig gerecht, wie "Vom Tollhaus zum Psychozentrum" seinem Vorvorgänger; im Übrigen ist es bedauerlich, dass Christian Müllers Bücher zur Psychiatriegeschichte fast alle in unterschiedlichen Verlagen erschienen sind.

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