Psychiatr Prax 2005; 32(7): 370
DOI: 10.1055/s-2005-919725
Fortbildung und Diskussion
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was haben psychiatrisch-psychotherapeutische Tageskliniken mit Pflichtversorgung zu tun?

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Publication Date:
11 October 2005 (online)

 

Renate Engfer gibt einen umfassenden und gekonnten Überblick über die aktuellen Studien zur Evaluation tagesklinischer Behandlungen. Gut gesichert ist die Erkenntnis, dass bis zu 40% der Menschen mit schweren psychischen Störungen, die derzeit vollstationär behandelt werden, genauso gut in der Tagesklinik aufgehoben wären. Außerdem ist die Zufriedenheit der Patienten und der Angehörigen bei tagesklinischer Behandlung größer. Erstmalig sind über einen Zeitraum von elf Jahren systematisch die Krankheitsverläufe aller Patienten einer Tagesklinik untersucht worden.

Die Ergebnisse sind beeindruckend: In einem gut ausgebauten gemeindepsychiatrischen Verbund können - insbesondere chronisch kranke Menschen - gut von der tagesklinischen Behandlung profitieren, nehmen weniger stationäre Behandlungen in Anspruch. Ihre eigenen Ergebnisse vergleicht Engfer mit Befunden aus anderen Tageskliniken. Häufig wird ja behauptet, dass mit einer gut ausgebauten gemeindepsychiatrischen Infrastruktur der Anteil an schizophreniekranken Menschen in Tageskliniken zwangsläufig sinken müsse. Die Ergebnisse der Engfer-Studie sprechen dagegen: Einer solchen Entwicklung liegt eher Ausgrenzung zugrunde. Dieser Tendenz wird verstärkt durch die erzwungene Verkürzung der Verweildauern in Tageskliniken. Schwerkranke Menschen, die häufig tagesklinisch behandelt werden müssen, werden "herausgeprüft": Die medizinisch notwendige Behandlungsdauer wird nicht mehr zugestanden.

Diese Entwicklung wird außerdem verstärkt durch die Vorliebe mancher Tageskliniken zur Behandlung von psychisch kranken Menschen, deren Erkrankung nicht kompliziert oder chronisch verläuft. Lukrativer sind diese Patienten ohnehin - aber auch nicht wenigen Mitarbeitern in den Tageskliniken kommt dieser Prozess keineswegs ungelegen. Natürlich entwickelt sich durch die ökonomischen Anreize, aber auch die allseits empfundenen Therapieerfolge eine Affinität hin zu den weniger schwer gestörten Patientengruppen. Engfer weist hier ein deutliche Veränderung im (Selbst-)Verständnis von Tageskliniken nach: Konzipiert und betrieben wurden diese Einrichtungen in der Zeit der Enquete bis weit in die 90er-Jahre hinein als ein Behandlungsangebot für psychisch kranke Menschen mit komplizierten Krankheitsverläufen. Diese Personen, die sich - krankheitsbedingt - nicht verhalten können wie "Kunden", die von sich aus Hilfsangebote nicht selten ablehnen, bleiben dann - wenn die Tageskliniken ihren Schwerpunkt verlagern - zunehmend unter- bis unversorgt. Wenn diese chronisch psychisch kranken Menschen sich in der Öffentlichkeit auffällig oder gar gewalttätig verhalten, droht die Gefahr, dass Psychiatrie sehr schnell wieder zu einer Agentur der Risikobewertung im Dienste der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wird.

Renate Engfer verknüpft hier auf eine sehr originelle Weise die Denkweisen von Public Mental Health mit der Gemeindepsychiatrie. Die Etablierung spezialisierter Tageskliniken, in denen störungsspezifische Therapien für Menschen mit ausgewählten Diagnosen und ähnlichem Schweregrad der Erkrankung überregional und ohne Integration in den gemeindepsychiatrischen Verbund angeboten werden, wird den Ausgrenzungsprozess zu Lasten chronisch Kranker verstärken - mit den bekannten Risiken. Das Buch gibt viele Hinweise darauf, wie erkennbare Fehlentwicklungen vermieden werden können und wie Veränderungen zum Wohle der Patientinnen und Patienten ausgestaltet werden können.

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