Psychiatr Prax 2005; 32(7): 324-326
DOI: 10.1055/s-2005-867047
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pro und Kontra: Kontrolliertes Trinken als sinnvolle und notwendige Behandlungsoption

For and Against: Controlled Drinking as Useful and Necessary Treatment Alternative
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Publication Date:
11 October 2005 (online)

Pro

Joachim Körkel

Missverständnisse um das Konzept des kontrollierten Trinkens beginnen bei der Frage, was damit gemeint ist. Deshalb vorneweg: Kontrolliertes Trinken bedeutet nicht einfach „weniger trinken” oder „trinken wie andere (,Normalkonsumenten‘) auch”. „(Selbst)kontrolliertes Trinken” steht vielmehr für einen Alkoholkonsum, der an einem zuvor festgelegten Konsumplan ausgerichtet ist. Pragmatisch betrachtet, heißt dies, jeweils für eine Woche im voraus (a) seine maximale tägliche und (b) maximale wöchentliche Trinkmenge sowie (c) die Anzahl abstinenter Tage festzulegen und einzuhalten. Zur Förderung einer derartigen bewussten Konsumsteuerung liegen verhaltenstherapeutisch strukturierte, manualisierte Programme vor - sowohl autodidaktische als auch einzel- bzw. gruppentherapeutische [1] [2]. In zehn, in Wochenabständen aufeinander folgenden Programmmodulen lernt der Konsument durch Führen eines Trinktagebuchs, gezieltes Erkennen von Risikosituationen für Zuvieltrinken, Auswahl individualisierter Kontrollstrategien (z. B. „Vor jedem alkoholischen ein großes nichtalkoholisches Getränk trinken”) u. a. m. seinen Konsum Schritt für Schritt und dauerhaft zu begrenzen.

Eine zweite Klarstellung: Alkoholabstinenz ist ein anstrebenswertes Veränderungsziel für Menschen mit exzessivem Alkoholkonsum, denn Abstinenz bildet eine solide Basis für die Reduzierung alkoholassoziierter Probleme und Neuausrichtung des Lebens. Auf jeden Fall sollten bereits abstinent lebende und abstinenzbereite Patienten darin bestärkt werden, ein alkoholfreies Leben zu führen. Programme zum kontrollierten Trinken verstehen sich insofern nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung abstinenzbezogener Behandlungsangebote - für Menschen, die zu einem abstinenten Leben nicht bereit oder nicht in der Lage sind. Es geht dementsprechend nicht um die Frage „Abstinenz oder kontrolliertes Trinken?”, sondern um ein Plädoyer für zieloffene Suchtarbeit, die dem Patienten die Wahl zwischen Veränderungszielen lässt.

Mindestens vier Gründe sprechen für Zieloffenheit, also dafür, Angebote zum kontrollierten Trinken in die Behandlungspalette der Suchthilfe und die medizinische Grundversorgung einzubinden:

Durch die Option einer Trinkmengenreduktion können mehr Menschen für eine Veränderung gewonnen werden, als durch die für viele Menschen abschreckende Vorabfestlegung auf Abstinenz („Nie mehr Alkohol!”). Die überwiegende Mehrzahl der Alkoholabhängigen - nämlich 95 % - und nahezu alle Alkoholmissbraucher tauchen im Suchthilfesystem (Suchtberatungsstellen, Suchtfachkliniken, Sozialpsychiatrische Dienste, Psychiatrische Krankenhäuser/Abteilungen, Selbsthilfegruppen) gar nicht erst auf 3. Im medizinischen Behandlungssystem ist die Erreichungsquote deutlich höher (34,5 % der Alkoholabhängigen werden mindestens einmal jährlich in Allgemeinkrankenhäusern und 80 % bei niedergelassenen Ärzten behandelt), allerdings werden Alkoholprobleme i. d. R. nicht erkannt und/oder nicht thematisiert/behandelt.Wesentliche Gründe für die geringe behandelte Prävalenz liegen in der Befürchtung der Konsumenten, als „Alkoholiker” etikettiert und auf das Abstinenzziel festgelegt zu werden - und in der Erfahrung vieler Mediziner, mit diesem Ziel bei vielen Betroffenen „gegen eine Wand zu laufen” und zu scheitern. Andere Länder sind hier weiter. Beispielsweise halten 66 % der australischen und 76 % der britischen Alkoholbehandlungseinrichtungen strukturierte Angebote zum kontrollierten Trinken vor 1. Eine zieloffene Herangehensweise an Alkoholprobleme wird der bioethischen Maxime gerecht, nichts gegen den Willen des Patienten zu tun. Diesem Grundsatz folgend, sollte die Frage von Abstinenz oder kontrolliertem Trinken explizit und sanktionsfrei ins Gespräch gebracht, das Für und Wider dieser Ziele erörtert und der Patient fachlich profund bei dem Ziel unterstützt werden, das er letztlich anstrebt - im Falle von kontrolliertem Trinken durch die dafür ausgearbeiteten Programme 1 2.Unter ethischem Blickwinkel ist es zudem geboten, Menschen nichts abzuverlangen, was zu erbringen sie im Moment nicht in der Lage sind („Sollen setzt Können voraus”). Eine Trinkmengenreduktion ist deshalb in Betracht zu ziehen, wenn sich Abstinenz - zumindest temporär - als nicht realisierbar erweist. Zieloffenheit ist Voraussetzung für eine kooperative Arzt-Patient-Beziehung und „geschmeidige” therapeutische Arbeit. Eine zieloffene Vorgehensweise bringt - im Gegensatz zur Abstinenzzielvorgabe - den erheblichen therapeutischen Vorteil mit sich, dass sich Patienten ernst genommen fühlen und zu ehrlichen Aussagen sowie aktiver Mitarbeit ermuntert werden, statt in die innere Emigration abzutauchen, im Widerstand gegen Veränderung zu verharren und „gute Miene zum bösen Spiel zu machen”. Außerdem wird durch eine zieloffene Herangehensweise der freiwillige, aus eigener Überzeugung vorgenommene Wechsel vom kontrollierten Trinken zur Abstinenz erleichtert, falls sich eine Trinkmengenreduktion als unerreichbar oder letztlich unerwünscht erweisen sollte. Programme zum kontrollierten Trinken sind mindestens so wirksam wie Abstinenzprogramme. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien belegt, dass Programme zur systematischen Konsumkontrolle - auch bei Alkoholabhängigen - Erfolgsquoten von durchschnittlich 65 % erreichen und mindestens so erfolgreich sind wie Abstinenzprogramme 1 4 5 6. Langzeitstudien demonstrieren, dass kontrolliertes Trinken auch über Jahre hinweg erfolgreich aufrecht erhalten werden kann bzw. das Reduktionsziel für 10 - 30 % der Behandelten die Brücke zur Abstinenz darstellt 1. Weitere positive Effekte von Reduktionsprogrammen sind die Verminderung alkoholassoziierter Probleme (z. B. Ängste und Depressionen) sowie Steigerung von Selbstwertgefühl und Lebensqualität. Eine magische, etwa biologisch vorgegebene Grenze, ab der kontrollierter Konsum absolut unmöglich wäre, gibt es nach bisherigen Studien nicht 7. Alkoholabhängige profitieren von Reduktionsprogrammen ebenso wie Missbraucher 5 6 - selbst chronisch alkoholabhängige Wohnungslose 8.

Fazit: Die Vernunft als „der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben” (Marquard) gebietet es, Programme zum kontrollierten Trinken gleichberechtigt neben Abstinenzprogrammen in die Behandlungspalette einzubinden. Auf diese Weise können bisher nicht (oder nicht mehr) erreichte Menschen mit Alkoholproblemen einer Veränderung zugeführt und Chronifizierungen vermieden, verkürzt oder gelindert werden.

Prof. Dr. Joachim Körkel
Ev. Fachhochschule Nürnberg
Bärenschanzstraße 4
90429 Nürnberg
E-mail: joachim.koerkel@evfh-nuernberg.de

Literatur

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  • 2 http://www.kontrolliertes-trinken.de
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