Gesundheitswesen 2004; 66(11): 739-747
DOI: 10.1055/s-2004-813778
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Rechtliche Aspekte im Verfahren der geschlossenen Unterbringung Minderjähriger in der Jugendhilfe gemäß § 1631 b BGB - Untersuchung anhand 101 jugendpsychiatrischer Gutachten

Aspects of the Legal Concession and its Procedures Concerning the Commitment of Juveniles to Safe Custody Institutions in Youth Welfare Care according to German § 1631 b BGB - an Inquiry into 101 Cases of Adolescent Psychiatric ExpertisesU. Rüth1 , A. Wentzel2 , F. J. Freisleder1
  • 1Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Bezirks Oberbayern, München
  • 2Krankenhaus Haar bei München des Bezirks Oberbayern
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Publication History

Publication Date:
24 November 2004 (online)

Zusammenfassung

Zielsetzung: Die Realität verfahrensrechtlicher Aspekte der gerichtlichen Genehmigung einer Unterbringung von Minderjährigen in der Jugendhilfe gem. § 1631 b BGB sollte anhand quantitativer Daten näher beleuchtet werden. Methode: Es wurden 101 Gutachten und Gutachtenssituationen im Unterbringungsverfahren für Minderjährige in der Jugendhilfe gem. § 1631 b BGB retrospektiv analysiert. Ergebnisse: Es zeigten sich deutliche Mängel im Verfahren. Überwiegend wurde kein Verfahrenspfleger (79,2 %) bestellt, insbesondere nicht bei den nicht verfahrensfähigen unter 14-Jährigen (94 %) und nicht bei ausländischen Jugendlichen (89 %). Die Haltung des Jugendamts gegenüber der geschlossenen Unterbringung entsprach nur eingeschränkt den gutachterlichen Einschätzungen. Eine Prozessdiagnostik unter Berücksichtigung der konkreten Mitarbeit des Jugendlichen führte signifikant häufiger zu einer Entscheidung gegen eine unmittelbare geschlossene Unterbringung. Nicht selten wurde die Dauer der geschlossenen Unterbringung von den Gutachtern nicht präzisiert (15,9 %). Schlussfolgerung: Die Realität des gerichtlichen Unterbringungsverfahrens gem. § 1631 b BGB weist Mängel auf, die besonders den Schutz der Verfahrensrechte und die rechtliche Vertretung der Jugendlichen betreffen.

Abstract

Objectives: Legal procedures concerning the legal concession of juveniles to safe custody care in youth welfare according to German § 1631 b BGB were to be examined. Method: 101 cases of adolescent psychiatric expertises were retrospectively examined. Results: Legal procedures were unsatisfactory. A guardian (”Verfahrenspfleger” according to German law) was usually not named (79.2 %), especially not in cases of juveniles under 14 years of age (94 %) who cannot take part in the procedure on their own right, and not in cases of foreigners (89 %). In a number of cases the adolescence psychiatrist did not agree with statement of the youth welfare office regarding the juvenile confinement. In cases where the expert’s counsel was a “process diagnosis” evaluating the juvenile’s concrete ability to cooperate and to accept alternative forms of placement, closed commitment could be reduced significantly. Experts did not precisely term of commitment in a number of cases (15.9 %). Conclusions: Legal procedures concerning the legal commitment of juveniles to safe custody care in youth welfare institutions are partly unsatisfactory, especially according to the juvenile’s rights regarding the legal procedure and the ways, how these rights are safeguarded.

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1 Schlink/Schattenfroh [9] verweisen darauf, dass die Unterbringungsgesetze der Länder - abhängig vom jeweiligen Wortlaut - zwar eine Unterbringung in der Jugendhilfe nicht in allen Ländern ausschließen, bei systematischer Auslegung aber nur dann zu einer geschlossenen Unterbringung ermächtigen, wenn eine ärztliche Betreuungsstruktur gewährleistet ist, welche regelmäßig nur in psychiatrischen Einrichtungen vorzufinden sei. Regelungen zur Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII lassen demgegenüber nur eine GU für maximal 48 Stunden zu. - Nicht Teil der hier gemachten Ausführungen sollen die Maßnahmen des Jugendstrafgerichts nach §§ 71, 72 JGG bzw. §§ 63, 64 StGB, § 126 a StP0 sein - vgl. hierzu auch Rüth/Weber [10].

2 Wille [11] verweist auf juristisch problematische Konstellationen bei Pflegschaft bzw. Vormundschaft, hier bliebe eine mögliche sachliche Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts aufgrund § 70 FGG denkbar, auch wenn § 1631 b BGB ausdrücklich auf das Familiengericht verweise. - In der Praxis würden aufgrund des Wortlauts von § 1631 b BGB die Unterbringungen von Minderjährigen grundsätzlich beim Familiengericht beantragt.

Dr. med. Ulrich Rüth

Fachbereichsoberarzt, Heckscher-Klinik des Bezirks Oberbayern für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Deisenhofener Straße 28

81539 München

Email: ulrich.rueth@heckscher-klinik.de

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