Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(5): 210-213
DOI: 10.1055/s-2003-36984
Ethik in der Medizin
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Menschenbilder und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen

Perspektiven theologischer SozialethikImages of man and distributive justice in health careEthical considerations in theological perspectiveP. Dabrock1
  • 1Philipps-Universität Marburg, Marburg
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eingereicht: 12.12.2002

akzeptiert: 15.1.2003

Publication Date:
30 January 2003 (online)

Auch wer nicht der katastrophischen Metapher von der Kostenexplosion im Gesundheitswesen aufläuft [2], muss sich eingestehen, dass die Mittel nicht nur begrenzt sind - unter irdischen Bedingungen ein allgemeines Phänomen [6] - sondern so knapp, dass nicht mehr alles bezahlt werden kann, was sinnvoll und angemessen ist. Zu diesem Krisensyndrom tragen allgemeine und Gesundheitssystem-spezifische Faktoren bei.

Da die Prognose einer zunehmenden Ressourcenknappheit bedeutet, einzelnen Patienten möglicherweise lebens(-qualitäts-)wichtige Maßnahmen vorzuenthalten, ist es ethisch unzulässig, diese dramatische Knappheit ohne explizite Kriterien verwinden zu wollen [18] [19]. Geschieht dies doch, können auf der makroallokativen, also der gesundheitspolitischen Ebene, Willkür, Profitorientierung und Intransparenz das Regiment übernehmen. Auf der mikroallokativen Ebene, also der unmittelbaren Arzt-Patienten-Beziehung, reagiert man auf die faktische Rationierung, d. h. das Vorenthalten von notwendigen Gesundheitsleistungen, die dem Patienten die Erhaltung oder Wiederherstellung seines alters- und konstitutionsbedingten Gesundheitszustandes in Aussicht stellen, mit der fünffachen-„D-Methode”: denial (Verweigerung), deflection (Umlenken), delay (Hinhalten), dilution (Ausdünnung) und deterrence (Abschreckung) [17]. Um solchen Verschleierungstaktiken politisch effektiv und sozialethisch angemessen entgegenzuarbeiten, gilt es, unter der Voraussetzung, dass solidarische Finanzierungen nicht gänzlich zur Disposition gestellt werden sollen, Rationierungen, wo sie sich ereignen, offen zu legen und damit Kriterien zu benennen, nach denen eine Verteilung der Ressourcen effizient und gerecht ablaufen kann.

kurzgefasst: Es ist sozialethisch unzulässig, die Knappheit der Mittel im Gesundheitswesen zu verschleiern. Eine kriteriengeleitete Diskussion zum Problem ist notwendig.

Literatur

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  • 9 Kant I. Kants gesammelten Schriften, Bd. I-IX,. hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1902 - 1923; hier: VIII, 366
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  • 16 Sen A. Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. Aus dem Engl. übersetzt von Goldmann C (Development as freedom). München Wien: Hanser 2000
  • 17 Smith R. Plädoyer für eine offene Rationierungsdebatte.  Dtsch Ärztebl. 1998;  95 A2453-2458
  • 18 Marckmann G, Siebert U. Prioritäten in der Gesundheitsversorgung: Was können wir aus dem „Oregon Health Plan” lernen?.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 1601-1604
  • 19 Maio G. Warum die Rationierung medizinischer Leistungen keine einfache Lösung ist.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 1573-1574

HD Dr. theol. Peter Dabrock

Juniorprofessor für Sozialethik (Bioethik), Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Evangelische Theologie

Lahntor 3

35037 Marburg

URL: http://www.theologische-bioethik.de

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