Dtsch Med Wochenschr 2002; 127(39): 2021-2024
DOI: 10.1055/s-2002-34359
Ethik in der Medizin
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Shared Decision Making”

Arzt oder Patient - Wer entscheidet?„Shared Decision Making”Doctor or patient - who will decide?J. Isfort, B. Floer, N. Koneczny, H. C. Vollmar, M. Butzlaff
  • 1Fakultät für Medizin, Universität Witten/Herdecke
Further Information

Publication History

eingereicht: 21.5.2002

akzeptiert: 8.8.2002

Publication Date:
26 September 2002 (online)

Das traditionelle Arzt-Patienten-Verhältnis wandelt sich. Der Arzt ist häufig nicht mehr die wichtigste Wissensquelle oder der alleinige Ratgeber. Viele Patienten sind selbstbewusster, „wählerischer” geworden. Verordnungen ohne verständliche Erklärung werden oft nicht mehr einfach hingenommen, „blindes Vertrauen” ist seltener geworden. Das Schlagwort der „Patientenaufklärung” - in den 70er und 80er Jahren als Folge juristischer Notwendigkeit zunächst vor operativen Eingriffen etabliert - wird abgelöst von der Forderung nach gemeinsamer Entscheidungsfindung [13]. Von den Ärzten wird eine kompetente, partnerschaftliche und umfangreiche Kommunikation erwartet [6] - eine Erwartung, die sich aus Sicht der Patienten häufig nicht erfüllt.

So untersuchten Braddock et al. [3] durch Videoaufzeichnungen von 1057 Arztbesuchen, in welchem Maße Hausärzte und Chirurgen Elemente einer gemeinsamen Entscheidungsfindung mit in ihre Gespräche einfließen ließen. Insgesamt erfüllten nur 9 % aller getroffenen Entscheidungen die entsprechenden Kriterien. Auch die Einschätzung, ob eine Entscheidung gemeinsam getroffen wurde, differiert erheblich: Strull et al. [22] befragten in einer Studie 210 Patienten, wer normalerweise die Entscheidung bezüglich ihrer Therapie fällt. 80 % der teilnehmenden Ärzte meinten, ihre Patienten gut in den Entscheidungsprozess eingebunden zu haben; dies hatten allerdings nur 30 % der Patienten so empfunden.

Interessierte Patienten haben zwar die Möglichkeit, ihren Informationsbedarf über Fernseh- und Radiosendungen, Internet, Bücher und Broschüren zu decken [10], sie können diese Informationsflut jedoch meist weder bündeln noch auf Qualität und Glaubwürdigkeit überprüfen [9] . Ein großer Teil des veröffentlichten und verfügbaren Wissens ist für die meisten Menschen nutzlos, ein ebenso erheblicher Teil ist einseitig und interessengebunden. Die gewünschte Transparenz, die es einem medizinischen Laien ermöglichen könnte, diagnostische und therapeutische Prozesse nachzuvollziehen und mitzutragen, kann so nicht entstehen. Sie könnte aber im Gespräch mit dem Arzt hergestellt und auch genutzt werden.

Der Begriff des „Shared Decision Making” wurde 1990 von der WHO aufgegriffen: „Ein Mitentscheiden von Patienten (...) ist nicht nur wünschenswert, sondern aus sozialer, ökonomischer und technischer Sicht notwendig” [25] . In der aktuellen Diskussion um die Reform des deutschen Gesundheitswesens ist die stärkere Einbindung der Patienten auf verschiedenen Ebenen zu finden:

bei der Planung von „Disease Management Programmen“, in denen die Einführung von Patientenschulungen, telefonischen Beratungsstellen („Call Center” und „Hotlines”) und umfangreichem Informationsmaterial als Hauptbestandteile gelten; bei der Einführung von Hausarztmodellen und -tarifen, in denen die Patienten selbst entscheiden können, ob der Zugang zum System zunächst über einen Hausarzt der Wahl oder weiterhin ohne Beschränkung zu einer Vielzahl von niedergelassenen Ärzten möglich ist; bei Vorschlägen zu einer möglichen Differenzierung des Leistungskataloges nach Grund- und Wahlleistungen, wobei die Patienten über Art und Umfang von zusätzlich versicherten Maßnahmen entscheiden sollen.

Hinzu kommt, dass sich die Behandlungsoptionen für viele Krankheitsbilder vervielfacht haben. Wo früher nur eine Behandlung möglich war, müssen heute oftmals verschiedene invasive und nicht-invasive Möglichkeiten abgewogen werden.

In diesem Artikel sollen deshalb vier Fragen diskutiert werden:

Was ist Shared Decision Making? Wann und für wen ist Shared Decision Making sinnvoll? Wollen Patienten Shared Decision Making? Welche Voraussetzungen sind notwendig?

kurzgefasst: Die Erwartungen des selbstbewussten und aufgeklärten Patienten stellen neue Anforderungen an den Arzt, bieten jedoch auch die Chance einer besseren Mitarbeit und Mitverantwortung. Neue Wege im traditionellen Arzt-Patienten-Verhältnis werden möglich.

Literatur

  • 1 Beaver K. et al . Treatment decision making in women newly diagnosed with breast cancer.  Cancer Nurs. 1996;  19 8-19
  • 2 Böcken J, Braun B, Schnee M. Gesundheitsmonitor 2002. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung 2002
  • 3 Braddock C H. et al . Informed decision making in outpatient practice: time to get back to basics.  JAMA. 1999;  282 2313-2320
  • 4 Charles C, Gafni A, Whelan T. Shared decision-making in the medical encounter.  Soc Sci Med. 1997;  44 681-692
  • 5 Charnock D. et al . DISCERN: an instrument for judging the quality of written consumer health information on treatment choices; Deutsche Version des Discern-Instruments unter: http://www.discern.de/.  J Epidemiol Community Health. 1999;  53 105-111
  • 6 Coulter A. Paternalism or partnership? Patients have grown up-and there’s no going back.  BMJ. 1999;  319 719-720
  • 7 Deber R B. Shared decision making in the real world.  J Gen Intern Med. 1996;  11 377-378
  • 8 Elwyn G. et al . Towards a feasible model for shared decision making: focus group study with general practice registrars.  BMJ. 1999;  319 753-756
  • 9 Eysenbach G, Diepgen T L. Towards quality management of medical information on the internet.  BMJ. 1998;  317 1496-1500
  • 10 Eysenbach G, Sa E R, Diepgen T L. Cybermedicine.   BMJ. 1999;  319 1294
  • 11 Fox S, Rainie L. The online health care revolution. Pew Charitable Trusts: Washington, DC 2000
  • 12 Garrud P, Wood M, Stainsby L. Impact of risk information in a patient education leaflet.  Patient Educ Couns. 2001;  43 301-304
  • 13 Gattellari M. et al . When the treatment goal is not cure: are cancer patients equipped to make informed decisions?.  J Clin Oncol. 2002;  20 503-513
  • 14 Gibson P G. et al . Self-management education and regular practitioner review for adults with asthma.  Cochrane Database Syst Rev. 2000;  2
  • 16 Korsch B , Negrette V . Doctor-patient communication.  Sci Am. 1972;  227 66-74
  • 17 Larsson S, Poensgen A. BCG-Studie: Patients, Physicians and the internet - Myth, Reality and Implications. Boston Consulting Group 2001
  • 18 Lidz C W. et al . Barriers to informed consent.  Ann Intern Med. 1983;  99 539-543
  • 19 Rieger D. Rechtliche Bedeutung eines Patiententestaments für den Arzt.   Dtsch Med Wochenschr. 1999;  124 945-947
  • 20 Rowland J H, Holland J C. Breast cancer,. University Press: New York, Oxford in The Handbook of Psychooncology, J.H. Rowland and H. J.C., Ed 1989: 188-207
  • 21 Spittler J F, Fritscher-Ravens A. Der Patientenwille zwischen Rechtsprechung, ärztlicher Sachlichkeit und Empathie.  Dtsch Med Wochenschr. 2001;  126 925-8
  • 22 Strull W M, Lo B, Charles G. Do patients want to participate in medical decision making?.  JAMA. 1984;  252 2990-2994
  • 23 Taylor H. Cyberchondriacs Update, Harris Interactive, Harris Poll #21. Online. New York, NY Available at http://www.louisharris.com/ 2002
  • 24 Thamm M. Blutdruck in Deutschland - Zustandsbeschreibungen und Trends.  Gesundheitswesen. 1999;  61 Sonderheft 2 90-93
  • 25 Waterworth S, Luker K. Reluctant collaborators.  J Adv Nurs. 1990;  15 971-976

Dr. med. Martin Butzlaff

Fakultät für Medizin, Universität Witten/Herdecke

Alfred-Herrhausen-Straße 50

58448 Witten

Phone: 02302/926714

Fax: 02302/926701

Email: butzlaff@uni-wh.de

    >