Z Sex Forsch 2002; 15(3): 193-210
DOI: 10.1055/s-2002-34336
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sexueller Kindesmissbrauch als Thema in der Kinderarztpraxis[1]

Tanja Föll, Daniel Mertens, Hertha Richter-Appelt, Rainer Richter
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Publication Date:
25 September 2002 (online)

Übersicht

Die Konfrontation mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs in der Kinderarztpraxis war Gegenstand einer Befragung von Hamburger und Münsteraner Kinderärztinnen und Kinderärzten. In Hamburg handelte es sich um eine Replikation einer Befragung aus dem Jahr 1989. 41 Hamburger und 20 Münsteraner Kinderärztinnen und Kinderärzte nahmen 1997 an der Untersuchung teil. Ein Vergleich der Antworten aus dem Jahr 1997 mit denjenigen von 1989 machte die zunehmende Bedeutung dieses Themas für die praktische Arbeit von Kinderärzten deutlich. 1997 gaben die Befragten signifikant häufiger an, bei der Untersuchung von Kindern an die Möglichkeit eines vorgefallenen Missbrauchs zu denken. Zugenommen hat auch die Behandlung von Kindern, von denen die Ärztinnen und Ärzte mit großer Sicherheit annehmen, dass sie sexuell missbraucht wurden. Den Kinderärztinnen und Kinderärzten waren 1997 deutlich mehr Hilfseinrichtungen bekannt als 1989, bei denen sie Rat suchten bzw. an die sie Familien überwiesen. Der Vergleich der Befragung der Kinderärzte von Münster und Umgebung mit Hamburg zeigte, dass die Münsteraner Kinderärztinnen und Kinderärzte deutlich seltener einen Missbrauchsverdacht bei ihren Patientinnen und Patienten hegten. Sie berieten sich seltener mit Kollegen oder anderen Institutionen, führten häufiger eine körperliche Untersuchung durch und wurden seltener selbst beratend tätig.

1 Die Autorinnen und Autoren danken den beteiligten Kinderärzten und Kinderärztinnen für ihre Mitarbeit und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. für seine freundliche Unterstützung.

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1 Die Autorinnen und Autoren danken den beteiligten Kinderärzten und Kinderärztinnen für ihre Mitarbeit und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. für seine freundliche Unterstützung.

2 In diesem Prozess, der Anfang der neunziger Jahre in Münster stattfand, wurde der Erzieher R. M. des sexuellen Missbrauchs an 55 Kindern im Alter zwischen 4 und 7 Jahren angeklagt. Der Stein kam dadurch ins Rollen, dass die Vorsitzende von „Zartbitter e. V.” in Coesfeld die Äußerung eines Kindes als sexuelle Annäherung interpretiert hat. R. M. wurde am 7. März 1991 fristlos gekündigt. In der Folgezeit fanden zahlreiche Elternabende in Kindergärten und Grundschulen der Region statt, die von „Zartbitter” und dem Münsteraner Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Fürniss initiiert wurden. Daraufhin kam es zu immer zahlreicher werdenden Anschuldigungen gegen R. M., die sich ausnahmslos auf Aussagen von Kindern gegenüber ihren Eltern oder Erziehern stützen. Der Verlauf des am 13. November 1991 begonnenen Prozesses nahm allerdings eine überraschende Wendung nach der Anhörung des Psychologen Prof. Undeutsch als Sachverständiger: Das Gericht hob den Haftbefehl gegen M. ohne Antrag der Verteidigung auf. Undeutsch konnte überzeugend darlegen, dass alle gesammelten Aussagen von Kindern suggestiven Einflüssen der befragenden Personen entsprungen waren und nicht als rechtliche Grundlage dienen konnten (Friedrichsen und Mauz 1994).

Prof. Dr. Rainer Richter

Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie

Universitätsklinikum Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: rrichter@uke.uni-hamburg.de

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