Geburtshilfe Frauenheilkd 2001; 61(8): 599-606
DOI: 10.1055/s-2001-16932
Originalarbeit

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zwangssterilisationen und Zwangsabruptiones an der I. Universitätsfrauenklinik München zwischen 1933 und 1945 - Versuch einer späten Lebenshilfe

Involuntary Sterilization and Abortion at the First Department of Gynecology at the University of Munich Between 1933 and 1945: An Attempt to Aid the VictimsC. Horban, M. Stauber, R. Kästner, O. Dathe, G. Kindermann
  • I. Universitätsfrauenklinik München
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Publication Date:
04 September 2001 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund

Namhafte europäische Wissenschaftler wie Darwin, Spencer, Lamarck, Haeckel, Mendel und viele mehr trugen mit ihren Ideen über Evolution, Gesellschaftstheorie und Genetik zur Entwicklung des Sozialdarwinismus bei. Dieser wurde in Deutschland um 1905 mit eugenischen und nationalistischen Gedanken zur so genannten Rassenhygiene verknüpft und von den Nationalsozialisten in beispielloser Weise umgesetzt. Aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurden in Deutschland zwischen 1933 und 1945 300 000 bis 400 000 Menschen gegen ihren Willen zwangssterilisiert.

Methode

An der I. Universitätsfrauenklinik in München wurden damals 1345 Zwangssterilisationen durchgeführt. In 58 Fällen wurde hierbei auch eine Zwangsabruptio bestehender Schwangerschaften vorgenommen. 33,2 % der Frauen wurden unter der damaligen Diagnose „angeborener Schwachsinn“ sterilisiert, immerhin 27,9 % jedoch ohne den Akten entnehmbare Diagnose. Dies legt eine ideologisch gefärbte Auslegung der Indikationen zur Zwangssterilisation nahe.

Ergebnis

Erst seit 1980 ist eine Entschädigung der Betroffenen möglich, jedoch aufgrund des langen Zeitabstandes und der sozialen Stigmatisierung erheblich erschwert.

Schlussfolgerung

An der I. Universitätsfrauenklinik München wurde erstmals der Versuch unternommen, mit den zwangssterilisierten, ehemaligen Patientinnen der Klinik Kontakt aufzunehmen, um ihnen gegenüber im Namen der Klinik eine späte Entschuldigung zu formulieren. In Form einer späten Lebenshilfe sollten sie bei Entschädigungsanträgen Unterstützung finden und die Möglichkeit einer Bearbeitung ihrer psychischen Traumatisierung im Rahmen von Einzel- oder Gruppengesprächen. Die enorm positive Reaktion der Zwangssterilisierten gab diesem Vorgehen Bestätigung. In einer Zeit der erneuten Diskussion um Kostenersparnis im Gesundheitswesen, um Sterbehilfe und um die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik und der Gentechnik sollten sich insbesondere die Ärzte mit der Gefahr des Missbrauchs der Medizin auseinandersetzen.

Summary

Background

Ideas of social Darwinism and eugenics and nationalism intertwined in Germany around 1905 and led to the concept of racial hygiene. This was put into practice by the Nazi regime. Under the “Law for the Prevention of Congenitally Deformed Descendents”, between 300,000 and 400,000 people were involuntarily sterilized between 1933 and 1945.

Method

A total of 1345 enforced sterilizations, including 58 compulsory abortions, were performed at the First Department of Gynecology at the University of Munich. 33.2 % of these women were sterilized because they were considered mentally deficient but in 27.9 % the records contained no explicit indication.

Results

Financial compensation for the victims has been possible since 1980 but has been complicated by the passage of time and social stigmatization.

Conclusion

The First Department of Gynecology undertook an attempt to contact the involuntarily sterilized women to express a belated apology on behalf of the department, to provide support for applications for financial compensation, and to offer counselling for coping with the physical and emotional trauma of compulsory sterilization. The reaction of the women has been very positive.

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Prof. Dr. Manfred Stauber

I. Universitätsfrauenklinik München

Maistraße 11

80337 München

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