Psychiatr Prax 2001; 28(5): 207-208
DOI: 10.1055/s-2001-15578
EDITORIAL
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Haben Enthospitalisierungsstudien ihren Zweck erfüllt?

Did Dehospitalisation Studies Achieve their Aim?
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Im vorliegenden Heft erscheint der fünfte und letzte Teil [1] einer Serie, die seit 1996 in dieser Zeitschrift zur Berliner Enthospitalisierungsstudie [2] [3] publiziert wurde. Dies ist ein Anlass zum Resümee, was uns Enthospitalisierungsstudien letztendlich gebracht haben.

Die Berliner Enthospitalisierungsstudie ist möglicherweise die bekannteste, aber keineswegs die einzige Studie in Deutschland, die Enthospitalisierungsprozesse untersuchte. So wurden auch in Bremen, Bedburg-Hau, Bielefeld, Dresden, Gütersloh und Gießen Untersuchungen durchgeführt, die Entlassungen von vormals langzeithospitalisierten Patienten in die Gemeinde evaluierten. Genaue Fragestellung, Ansatz und Methode und auch die Ziele und Ansprüche der genannten Studien variieren sehr, weshalb die Ergebnisse nur begrenzt vergleichbar sind. Einige der Studien sind rein retrospektiv, verwendeten kaum oder keine standardisierten Methoden und sind vielleicht eher als „Audits” oder als Erhebungen im Dienste eines praktischen Qualitätsmanagements denn als wissenschaftliche Forschung im engeren Sinne zu verstehen. Dies macht sie nicht unbedingt weniger wertvoll, relativiert aber ihre Aussagekraft über die konkreten kontextbezogenen Ergebnisse hinaus.

Wie die vielen Studien im angloamerikanischen Raum auch, zeigen alle deutschen Studien mehr oder minder einhellig, dass die meisten Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen, die zum Teil mehrere Jahrzehnte in psychiatrischen Kliniken verbrachten, in die Gemeinde entlassen werden können und dass ihr Gesundheitszustand darunter zumindest nicht leidet. Wenn Veränderungen der Lebensqualität gefunden wurden, wiesen diese fast ausnahmslos in die positive Richtung. Diese generelle Erkenntnis mag beruhigen. Sie allein ist aber zum jetzigen Zeitpunkt, da die Enthospitalisierung in der Praxis weiter voran geschritten ist, vielleicht mehr von historischem Interesse. Haben uns die Studien nun mehr als die oben genannte Schlussfolgerung und zahlreiche weitere Detailbefunde hinterlassen?

Aus meiner Sicht haben die Studien in einem Punkt ihr Soll übererfüllt und in einem anderen ihr Klassenziel eindeutig verfehlt. Für beides wird im Folgenden exemplarisch die Berliner Studie angeführt. Es trifft aber zum Teil auf andere Untersuchungen - auch international - in ähnlicher Weise zu.

Zunächst das Positive: Die Untersuchung von mittel- und langfristigen Veränderungen bei psychisch Kranken erfordert konzeptionelle und methodische Grundlagen, die zu Beginn der Enthospitalisierungsforschung nur ansatzweise vorlagen. Zum Beispiel war nur wenig darüber bekannt, welche Instrumente geeignet sind, um die objektive Lebenssituation, die subjektive Lebensqualität oder die Bedürfnisse psychisch Kranker zu erheben und im Längsschnitt valide abzubilden, und wie die jeweiligen Ergebnisse im Vergleich zu interpretieren sind. Durch die Enthospitalisierungsstudien sind viele dieser Grundlagen geschaffen worden. Verschiedene der diesbezüglichen Ergebnisse wurden in angesehenen internationalen Zeitschriften publiziert und werden wahrscheinlich für die weitere Forschung von Nutzen sein. U. a. haben sie die Kenntnisse darüber erweitert, von welchen Faktoren wesentliche Erfolgskriterien beeinflusst werden, wie sich Sichtweisen von Behandlern und Patienten unterscheiden, welche Bedeutung Prognosen der Behandler für die zukünftige Versorgung ihrer Patienten zukommt, welche Prozesse verschiedenen subjektiven Bewertungen der Patienten zugrunde liegen und wie Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen im Langzeitverlauf kovariieren. Die Ergebnisse - z. B. bezogen auf die möglichen Effekte verschiedener Formen des Betreuten Wohnens - warfen unmittelbar neue Fragen auf, die vereinzelt zu Folgestudien geführt haben. Enthospitalisierungsforschung hat somit - auch in Deutschland - geholfen, psychiatrische Versorgungsforschung zu entwickeln und ihr Niveau wesentlich anzuheben. Zyniker mögen sagen, dies sei angesichts der Ausgangslage auch nicht schwer gewesen. Es scheint mir dennoch ein Verdienst.

Nun zur Kritik: Im ersten Teil der Berliner Enthospitalisierungsstudie [2] wurde ein ehrgeiziges Ziel abgesteckt. Die zunächst umgrenzte Untersuchung der Enthospitalisierung sollte übergehen in eine andauernde wissenschaftliche Evaluation sowohl der sich verändernden stationären Einrichtungen als auch der ambulanten und komplementären Versorgung von schwer und chronisch psychisch Kranken in der Gemeinde. Dieses Unternehmen kann - zumindest zunächst - als gescheitert betrachtet werden. Zwar existiert in vielen Kliniken und wahrscheinlich bald auch im komplementären Bereich eine Basisdokumentation, aber eine systematische Forschung gibt es nicht. Gezielte Studien mit wissenschaftlichem Anspruch etwa zur Evaluation der Effekte von Akutstationen oder Einrichtungen des Betreuten Wohnens sind nicht bekannt, obwohl doch daran ein Interesse bestehen müsste - schon allein wegen der hohen finanziellen Ausgaben, die für beide Einrichtungsformen aufgebracht werden müssen. Der Impetus der Enthospitalisierungsstudien hat nicht ausgereicht, die angestrebte und wünschenswerte Evaluationsforschung entsprechend auf den Weg zu bringen. Dafür gibt es sicher viele Gründe, von denen an dieser Stelle nur wenige kurz angesprochen werden können.

Die Berliner Enthospitalisierungsstudie war nur möglich, weil verschiedene entscheidende Mitarbeiter in Kliniken, bei Betreibern ambulanter und komplementärer Einrichtungen und in lokalen Verwaltungen sie unterstützten und durchweg äußerst kooperativ waren. Es zeigt sich jetzt, dass diese positive Konstellation nicht der Regelfall ist und sich beim Wechsel einzelner Personen schnell ändern kann. Das politische Interesse an solcher Forschung ist begrenzt. Die Behörden des Berliner Senats hatten sich der ganzen Berliner Enthospitalisierungsstudie gegenüber recht misstrauisch gezeigt und sie mehr behindert als gefördert. Aus anderen Bundesländern wird eine bessere Zusammenarbeit mit politischen Instanzen berichtet, aber die Träger der Versorgung sind auch dort zumeist reserviert und fürchten möglicherweise, dass negative Ergebnisse ihre Einnahmequellen gefährden könnten. In diesem Klima gedeihen zum Teil immer noch fragwürdige „Begleitforschungen”, die wenig wissenschaftlichen Wert haben und vorwiegend eine Legitimationsfunktion ausüben, aber dennoch Geld kosten. Die Schwierigkeiten liegen aber nicht nur im Umfeld, sondern auch in der Struktur psychiatrischer akademischer Einrichtungen.

Der Mangel an universitären Einrichtungen mit sozialpsychiatrischer Forschungskompetenz ist hinreichend bekannt. Darüber hinaus aber hat auch die Organisationsform der psychiatrischen Forschung bisher noch nicht Schritt gehalten mit der praktischen Entwicklung: Während die weitaus meisten Patienten ambulant und komplementär versorgt werden, ist die akademische Psychiatrie noch immer ausnahmslos an Krankenhäusern angesiedelt. Die forschenden Psychiater machen in ihrer klinischen Tätigkeit Visiten auf Stationen oder in Tageskliniken, haben ihr Büro in Klinikgebäuden und beschäftigen sich gegebenenfalls mit der Leitung von stationären Einrichtungen, möglicherweise unter Einschluss einer Poliklinik oder Institutsambulanz. Warum machen sie nicht stattdessen Hausbesuche, residieren in der Gemeinde und sind in ambulante und komplementäre Versorgung integriert, um spezifische Kompetenz zu entwickeln? Der Enthospitalisierung der Patienten müsste nun die Enthospitalisierung der Forscher folgen. Dafür sind nicht notwendigerweise mehr Geld, aber sicher neue Organisationsstrukturen erforderlich. Hilfreich wäre in diesem Prozess eine Drittmittelförderung, die nicht nur Versorgungsforschung inhaltlich anerkennt, sondern diese auch in ihren Abläufen unterstützen kann. So hatte sich die Möglichkeit zur Berliner Enthospitalisierungsstudie innerhalb weniger Monate ergeben; weder die Deutsche Forschungsgemeinschaft noch andere angesehene Förderer sind bis jetzt in der Lage, in einer solchen Zeitspanne einen Neuantrag zu bearbeiten.

Enthospitalisierungsstudien haben meines Erachtens manchen wissenschaftlichen und anderen Zweck erfüllt, den nächsten Schritt zur umfassenderen Versorgungsevaluation, die auch konzeptionell weiteres Neuland betreten muss, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht vollziehen können. Ein solcher Schritt liegt also noch vor uns.

Literatur

  • 1 Kaiser W, Hoffmann K, Isermann M, Priebe S. Langzeitpatienten im Betreuten Wohnen nach der Enthospitalisierung - Teil V der Berliner Enthospitalisierungsstudie.  Psychiatrische Praxis. 2001;  28 234-242
  • 2 Priebe S, Hoffmann K, Isermann M, Kaiser W. Klinische Merkmale langzeithospitalisierter Patienten - Teil I der Berliner Enthospitalisierungsstudie.  Psychiatrische Praxis. 1996;  23 15-20
  • 3 Hoffmann K, Isermann M, Kaiser W, Priebe S. Lebensqualität im Verlauf der Enthospitalisierung - Teil IV der Berliner Enthospitalisierungsstudie.  Psychiatrische Praxis. 2000;  27 183-188

Prof. Dr. med. Stefan Priebe

Unit for Social & Community Psychiatry
St. Bartholomew's and the Royal London School of Medicine
West Smithfield

London EC1A 7BE
U. K.

Email: S.Priebe@qmw.ac.uk

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