Balint Journal 2017; 18(02): 59-61
DOI: 10.1055/s-0043-112042
Deutscher Studenten Balint Preis
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Aus Ratlosigkeit entsteht eine Anamnesegruppe

1. Preis – Deutscher Studenten Balint Preis PreisarbeitenOut of Cluelessness emerges an Anamnesis Group
Louisa Hecht
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Publication Date:
03 July 2017 (online)

Seelsorge aus der Not

Meinen ersten intensiven Patientenkontakt, der mich auch lange danach noch sehr beschäftigte, hatte ich während meines Krankenpflegepraktikums in der Unfallklinik Murnau. Einen Monat arbeitete ich auf der Station für Rückenmarks- und Wirbelsäulenverletzte mit. Vor allem die ausführliche Pflege der Tetraplegiker, also jener Patienten, die weder Arme noch Beine bewegen können, war für mich ein guter Einstieg in die Arbeit im Gesundheitswesen. Es brauchte dazu noch nicht viele medizinische Kompetenzen und so war meine Hauptaufgabe die Pflege von 4 Tetraplegikern, welche alle in einem Zimmer untergebracht waren. Die meiste Zeit des Tages verbrachte ich deshalb in diesem einen Zimmer.

2 der Patienten waren nicht viel älter als ich. Der eine hatte einen Motorrad-, der andere einen Kletterunfall. Für beide war es alles andere als leicht zu akzeptieren, dass sie nun mit Anfang 20 an den Rollstuhl gefesselt waren. So kann man sich nur allzu gut vorstellen, dass sie oft schlechte Stimmung hatten oder sich schnell durch eine Kleinigkeit verletzt fühlten. Ich hatte dennoch einen recht guten Zugang zu ihnen, vielleicht dadurch, dass ich ein junges Mädchen war, welches sie so akzeptierte wie sie waren, auch mit Behinderung. Und einige Male konnte ich die beiden sogar zum Lachen bringen.

Der Mann, der gegenüber im Zimmer lag, war bereits Anfang 40 und nicht mehr so albern. Er sprach nicht viel. Lag meistens in seinem Bett und betätigte seinen James, mit dem er über den Mund einige technische Geräte bedienen konnte. Er trug häufig ein graues, unbedrucktes T-Shirt, welches nicht mehr ganz über seinen muskellosen Bauch passte. Unten herum eine schwarze Trainingshose und recht moderne Turnschuhe. Mit seinen Haaren hatte ich morgens nicht viel Mühe, allerdings war ihm sein korrekt rasierter Bart umso wichtiger. Auch beschwerte er sich schnell, wenn ich beim Essen eingeben kleckerte. Die Schwestern ihrerseits ärgerten sich, dass er immer so mürrisch war. Eigentlich bekam niemand so richtig Zugang zu ihm. In meinem jugendlichen Schwung machte mir das alles nicht so viel aus. Außerdem hatte ich genug Abwechslung durch die beiden anderen Patienten im Zimmer. So kümmerte ich mich auch intensiv um ihn.

Es wunderte mich nicht groß, als er mich eines anderen Tages darum bat, ihn in den leeren Aufenthaltsraum zu bringen, um ihm einen Joghurt einzugeben. Ich tat es gern, freute ich mich doch, etwas Gutes zu tun. Er aß den Joghurt ganz auf und sah mich dann schweigend an. Ich merkte, dass er keine Anstalten machte, ins Zimmer zurück zu kehren. Ich blieb sitzen und wartete. Da begann er zu erzählen. Er erzählte von seinem Unfall, den er mit 26 Jahren auf der Arbeit hatte und seit dem er außer seinem Kopf nichts bewegen konnte. Wie er trotzdem geheiratet hatte und gemeinsam mit seiner Frau das Leben meisterte. Sie pflegte ihn nicht nur, für ihn war sie sein ein und alles. Sie hatte ihm wieder den Spaß am Leben beigebracht. Bis sie vor ein paar Monaten erfuhren, dass sie Brustkrebs hatte. Ich sah, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Jetzt lag sie in München im Krankenhaus und er musste nach Murnau zur Reha, weil er alleine nicht zurecht kam. Dabei war es für ihn das Wichtigste, bei seiner kranken Frau zu sein. Für sie da zu sein. Aber weil er nun dieser – wie er es bezeichnete – „Krüppel“ war, blieb er in der Unfallklinik gefangen. Und nun hatte er seit ein paar Tagen schon nichts mehr von ihr gehört. Er wusste nicht, wie es ihr gerade ging, wie es weiterging und was nun mit ihr passierte.

Wortlos starrte ich ihn an. Ich hatte selbst mit meinen Tränen zu kämpfen. Ich wusste nicht im Geringsten, was ich antworten sollte. „Tut mir leid?“ oder „Das wird schon wieder?“ Irgendwie schien mir nichts so recht passend. Ich war mir unsicher, ob ich die Hände beschwichtigend auf seinen Arm legen sollte. Ich entschied mich dagegen. Er würde es ja noch nicht einmal spüren. Eine gefühlte Ewigkeit saßen wir so da und ich hatte Angst, irgendetwas Falsches zu sagen oder fragen. Darum schwieg ich.

In meinen bisherigen 18 Lebensjahren war mir noch nicht viel Schlimmes widerfahren. Genug zwar, dass ich nur allzu gut nachvollziehen konnte, wie sich der Verlust, die Angst und die Hilflosigkeit anfühlten, aber ich hatte immer jemanden gehabt, zu dem ich gehen konnte, der für mich da war. Nun war ich diejenige, die für ihn da sein sollte. Mit dieser Situation fühlte ich mich in diesem Augenblick völlig überfordert. Ich fragte ihn ein paar Dinge zu seinem Leben und seiner Frau. Lenkte ihn mit der Zeit wieder auf gute Gedanken. Er zog mit und nach ein paar Minuten ging es ihm wieder besser. Er brachte sogar ein Lächeln hervor. Es hatte ihm gut getan, einfach mal über seine Situation zu sprechen, um nicht von seinen Gefühlen übermannt zu werden.

Mich allerdings beschäftigte das Gespräch noch lange. Ich hatte nicht gerade das Gefühl, mein Möglichstes gegeben zu haben. Ich wollte für ihn da sein, ihm seine Sorgen abnehmen. Aber alles was ich geschafft hatte, war ihn abzulenken. Diese Unzufriedenheit war es vor allem, die mich so lange umtrieb.