Dtsch Med Wochenschr 2016; 141(20): 1430
DOI: 10.1055/s-0042-116137
Klinischer Fortschritt
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wissenschaftlichkeit in der Medizin

Science based medicine
Georg Ertl
1   Medizinischen Klinik und Poliklinik I, Universitätsklinikum Würzburg
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Publication Date:
04 October 2016 (online)

Wir haben wissenschaftliche Evidenz für viele diagnostische und vor allem therapeutische Verfahren. Diese Evidenz hat die Prognose und Lebensqualität unserer Patienten entscheidend verbessert. Der Siegeszug der modernen Medizin ist wissenschaftsbasiert. Andererseits wird Evidenz in Studien für ein Musterkollektiv erhoben, das für unseren Alltag in Klinik und Praxis nicht zwangsläufig repräsentativ ist, zum Beispiel was Alter, Geschlecht oder mögliche Komorbiditäten betrifft. Der Arzt, auch wenn er selbst nicht mehr forscht, muss wissen, wie Forschung funktioniert, um neue wissenschaftliche Erkenntnisse auf seine Patienten anzuwenden. Aber auch dafür, festzustellen, wo es in der Medizin an wissenschaftlicher Erkenntnis fehlt: banale Erkrankungen, die wir ohnehin nur symptomatisch behandeln, Beschwerden, bei denen wir keine Krankheit für die Beschwerden finden, oder aber multimorbide Patienten, die in klinischen Studien meist nicht vorkommen und auf die wir dennoch, mit der gebotenen Vorsicht und Kenntnis, die Ergebnisse der klinischen Studien anwenden. Jede schwierige Diagnose ist auch eine wissenschaftliche Leistung, und die Therapie muss sich an wissenschaftlichen Standards messen.

Das heißt aber auch, dass ein Medizinstudium vor allem eine wissenschaftliche Ausbildung sein muss, mit einer grundlegenden methodischen Basis und Wissenschaftlern als Lehrern. Das Staatsexamen muss dafür qualifizieren, die Ausbildung nach dem Studium weiterzuführen und das eben Gelernte zu hinterfragen, weil die medizinische Forschung weiter fortgeschritten ist. Es wird ein wissenschaftliches Verständnis benötigt, um alles, was von verschiedenen Seiten und aus unterschiedlicher Motivation an Information angeboten wird, kritisch beurteilen zu können.

Neue, praxisorientierte Studiengänge integrieren zunehmend Lehrinhalte, die eigentlich in die Weiterbildung gehören. Die Zeit für Wissenschaft wird immer knapper, viele Medizinstudenten verzichten auf die Doktorarbeit. Dabei ist ohne Doktorarbeit die Medizin vermutlich das einzige Studium, das ohne eine wissenschaftliche Arbeit abgeschlossen werden kann. Die grundlegende Bedeutung von Wissenschaftlichkeit in der medizinischen Ausbildung und Praxis ist in unserer Gesellschaft nicht allgemein präsent. Es werden Alternativen zur wissenschaftlich begründeten Medizin propagiert und von der Öffentlichkeit akzeptiert. Veränderungen hin zu einer mehr praxisorientierten Ausbildung sollen strukturpolitische Probleme lösen, den Medizinermangel auf dem Lande beseitigen. Aber das Problem liegt woanders: in Medizinerfamilien arbeiten heute meist Mann und Frau, Frau und Mann nehmen Erziehungsurlaub, Überstunden sind nicht mehr attraktiv, sondern Teilzeitmodelle, und in der Landarztpraxis funktionieren diese Modelle schlecht. Das kann eine „praxisorientierte“ Ausbildung nicht ausgleichen, vielleicht ein anderes Auswahlverfahren fürs Medizinstudium, aber auch da habe ich meine Zweifel.

Nun propagieren nicht-staatliche Universitäten oder internationale Franchising-Unternehmen mit ihren Medical Schools die Lösung des Problems: eine Studentenauswahl und Studiengänge, die uns Landärzte bescheren. Dies stößt auf breite Kritik der medizinischen Wissenschaftsorganisationen. Die Länder verweisen trotz Kulturhoheit auf europäisches Recht, die Hände seien ihnen gebunden. Eigentlich ist aber das Konzept für die Länder attraktiv, weil das finanzielle Risiko nicht bei ihnen liegt; letztlich tragen es die Medizinstudenten selbst. Worin liegt dieses Risiko? Es liegt für die Studierenden darin, in einer Institution ausgebildet zu werden, in der Wissenschaft nicht gleichberechtigt neben Lehre und Patientenversorgung gefördert und mit Mitteln ausgestattet wird, weil es die Studiengebühren völlig überfordern würde. In der die lehrenden Ärzte die notwendigen Freiräume für die Forschung nicht haben können. In der die Unternehmensziele des Krankenhausträgers unangetastet bleiben, vielleicht sogar im Studiengang eine Rolle spielen.

Nicht zu Unrecht hören wir Klagen, dass ökonomische Ziele die wissenschaftlich begründete und allein dem Patienteninteresse verpflichtete Medizin aushebeln. Ist es nicht essenziell, dass wir unsere Studenten zunächst auf die medizinische Wissenschaft verpflichten, bevor sie die ökonomischen Randbedingungen für die praktische Medizin erlernen? Ist nicht eine rein evidenzbasierte Medizin, die alles Überflüssige, nicht Wirksame vermeidet, auch wirtschaftlicher? Wissenschaftsbasiert entscheiden heißt auch, auf überflüssige Diagnostik und Therapie zu verzichten. Für die Wissenschaftlichkeit der Medizin gibt es keine Alternative, weder im Studium noch in der ärztlichen Tätigkeit. Dies zu vermitteln ist auch eine wesentliche Aufgabe der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, wie auch an den Beiträgen in dieser DMW Ausgabe sehr schön abzulesen ist.