Erfahrungsheilkunde 2016; 65(04): 222-223
DOI: 10.1055/s-0042-114056
Aktuell
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Aktuelle Fragen der Arzneimitteltherapie in der Onkologie - kritisch kommentiert

Symposium der Arzneimittelkommission der deutschen ­f#8222;rzteschaft auf dem 122. Kongress der Deutschen ­Gesellschaft für Innere Medizin e. V.
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Publication Date:
30 August 2016 (online)

Prof. W.-D. Ludwig sprach zuerst über den „Status quo und zukünftige Anforderungen an wissenschaftliche Erkenntnisse zu Wirksamkeit und Sicherheit bei der Zulassung onkologischer Wirkstoffe im Zeitalter der Präzisionsmedizin “. Seit 2014 würden wieder mehr onkologische Präparate zugelassen, die Onkologie dominiere die aktuelle Forschung. Dabei wurden 2014 in den USA 9/10 und 2015 11/14 Präparaten „priority“ oder „fast track“ zugelassen.

Bei den Zulassungskriterien gibt es seitens der Industrie, Patientengruppierungen oder der medizinischen Notwendigkeit Druck und eher regulierende Eingrenzung seitens Krankenkassen und Versicherern. Problematisch sei die Überwachung der rasch zugelassenen Medikamente und die Erfüllung von Auflagen. So berichtet die Europäische Arzneimittelagentur (EMA), dass von den 26 neuen Arzneimitteln, die zwischen 2006 und 2015 „bedingt“ zugelassen wurden, bis heute nur 10 Arzneimittel alle Auflagen erfüllt und eine reguläre Zulassung erhalten hätten. f#8222;hnliche Daten gibt es seitens der FDA in den USA. Er forderte eine Intensivierung von „Postmarketing-Studien“. Die Zahl der Sicherheitswarnhinweise für solche Präparate und Medikamentenrückzüge steigen aktuell an.

In Deutschland regelt das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) die frühe Nutzenbewertung. Eine zeitliche Befristung der Zulassung wäre sinnvoller; zuletzt waren 38/55 Präparaten unbefristet zugelassen worden). Nur 6 % der Phase-I-Medikamente der Pharmaindustrie würden überhaupt später zugelassen, so Ludwig.

Die oft nur wenige Tage bis Wochen Überlebenszeit bringenden neuen Präparate stehen im Konflikt mit z. T. hohen und unkalkulierbaren Nebenwirkungen sowie Kosten. Die Diskussion um die Bezahlbarkeit der Onkologie ist ja bekanntlich schon entbrannt. Vor diesem Hintergrund ist bspw. kaum zu verstehen, dass eine preisgünstige Vitamin-D-Messung beim Krebskranken vom gleichen Redner in der Diskussion als unnötig betrachtet wird, wo doch neben epidemiologischen Daten zu Inzidenz und Rezidivraten von Tumoren erste klinische Studien dem Vitamin-D-Spiegel eine hohe Relevanz beimessen, dieser jedoch im onkologischen Alltag selten bestimmt wird. Nach persönlicher Erfahrung schwankt die Notwendigkeit der Einnahme von Vitamin D je nach Patient, Alter, Jahreszeit und Erkrankungssituation zwischen Null und 40 000 IE/Woche, um Blutspiegel von mindestens 75 nmol/l zu erreichen.

Prof. S. Fetscher referierte zum Thema „Pharmakologische Entscheidungen in der Hämatologie und Onkologie - Darstellung an klinischen Beispielen.“

Er beschrieb Probleme mit den Leitlinien in der Onkologie betreffend Unabhängigkeit der Kommissionsmitglieder, Heterogenität in der Qualität der Empfehlungen und deren umfassenden Anspruch. In Anwendung der Leitlinien müssten auch die individuelle Pharmakogenetik (NW), diverse Begleiterkrankungen, subjektive Patientenpräferenzen oder atypische Krankheitspräsentationen beachtet werden. Leitlinien seien nur auf einen Teil der Patienten sinnvoll anwendbar.

Er referierte 6 gut dokumentierte Kasuistiken aus seiner klinischen Erfahrung, darunter auch 2 interessante Fälle von Fieber im Erkrankungsverlauf mit langjährig bestehenden Vollremissionen (1 × Lymphom, 1 × M. Hodgkin).

In seiner Zusammenfassung sieht er die S-3-Leitlinien, Studienprotokolle und Standardempfehlungen der Fachgesellschaften als Basis der Therapieentscheidungen für die meisten onkologischen Patienten. Viele therapeutische Algorhythmen seien aber nicht ausreichend geeignet, belegt, differenziert oder klinisch sinnvoll anwendbar. Zentrale Aufgabe sei eine Unterscheidung zwischen Standardpatient und Ausnahmefällen, die nur durch langjährige kritische Behandlungserfahrung, kritische Lektüre von Fachliteratur und individualisierte Betrachtung des Krankheitsfalls möglich sei. Eine rationale pharmakologische Entscheidung könne nur bei genug Informationen über Sicherheit und Wirksamkeit des Behandlungskonzepts gefällt werden. Bei den in den letzten 20 Jahren entwickelten Wirkstoffen und Therapieverfahren sei die Evidenz für eine sichere und rationale Behandlungsentscheidung in vielen Fällen zu gering. „Choosing wisely“ könne hier bedeuten, dass man im Interesse der Patienten den Einsatz dieser Wirkstoffe und Verfahren im Einzelfall begrenzen, beenden oder primär vermeiden müsse.

In der Diskussion auf das möglicherweise „heilend helfende Fieber“ angesprochen, verwies er auf eine geringe Datenlage und das weiterhin kaum erforschte Gebiet der Spontanheilungen. Es ist bedauerlich, dass sich universitäre Arbeitsgruppen diesem spannenden Thema trotz zunehmender immunologischer Forschung in der Onkologie nicht widmen. Meine eigene Fallserie mit Rezidivverhütung durch fieberartige Ganzkörperhyperthermie und konzeptioneller komplementärer Begleitung liegt bei > 86 % 5 Jahre nach Diagnosestellung, trotz z. T. hoher Rückfallrisiken des Patientengutes. Bemerkenswert war auch die Diskussion um die Kasuistiken, die ein Zuhörer im Zeitalter der Evidence Based Medicine als Rückfall in frühere Jahrzehnte kritisierte. Ich empfinde im Kontext einer langjährigen therapeutischen Erfahrung gut dokumentierte Kasuistiken jedoch als geeignetes „Lehrmaterial“ in der individualisierten Medizin. In diesem Zusammenhang verweise ich auf das Internetportal www.bestcase-oncology.com (European Society for integrative Oncology e. V.), das es mit Kasuistiken gerade aus der Komplementärmedizin mit Leben zu füllen gilt.

Zuletzt sprach PD Dr. Jutta Hübner über den „Einfluss von komplementären und alternativen Methoden in der Onkologie - denn sie wissen nicht, was sie tun“.

Nach einer Begriffserklärung alternativ-komplementär-integrativ erklärte sie die Nutzerrate in Deutschland, wobei Orthomolekulare Medizin vor Gebeten und Entspannungsverfahren sowie Homöopathie und TCM im Ranking der Patienten komme. Laienätiologische Vorstellungen zur Krebsentstehung nennen Stress vor Psyche, Umwelt(-störungen), Genen und dann erst Lifestyle-Aspekte. Gründe für den Besuch bei komplementären oder alternativen Anbietern seien „hat sich mehr Zeit genommen“ vor „ich habe positive Wirksamkeit erfahren“ und „aus Angst vor den Methoden der Schulmedizin“. Infoquellen seien Printmedien vor Arzt, dann erst Freunde und Familie und zuletzt Internetquellen. Eine Befragung von 100 Frauen in einer gynäkologisch-onkologischen Ambulanz habe ergeben, dass 64 % CAM-Methoden nutzten und 14 von ihnen (29 %) potenzielle Wechselwirkungen mit anderen Präparaten dabei in Kauf nähmen.

Thematisch ging Hübner auf die Misteltherapie ein mit den sehr unterschiedlichen Lektingehalten der unterschiedlichen Präparate (und somit fehlender Vergleichbarkeit), warnend vor den Nebenwirkungen einer einseitigen „ketogenen Ernährung“, den Empfehlungen der 3-E-Medizin von Lothar Hirneise, der „Germanischen Heilkunde nach R. G. Hamer“ und den Schwedenkräutern nach Maria Treben (hoher Alkoholgehalt). Abschließend thematisierte sie noch die Kommunikation zwischen Patient und Arzt („Was kann ich tun?“).

Leider wurde der Vortrag in keiner Weise einer Aufklärung zum täglichen Einsatz von komplementären Methoden gerecht. Diese wurde erst in der anschließenden Diskussion mit ca. 25 Zuhörern angestoßen und wenigstens Entspannungsverfahren, Sport, Selen bei nachgewiesenem Mangel und in Teilen Vitamin D und Omega 3 positiv besprochen.

Es bleibt der fade Beigeschmack, wer denn eigentlich mit „denn sie wissen nicht, was sie tun“ gemeint ist - der Patient, der einfach nicht den Leitlinien der konventionellen Onkologie allein folgen will und Komplementäres oder Alternatives sucht; oder der komplementäre Therapeut, dem unterstellt wird, mit o. g. Außenseitermethoden dem Patienten zu schaden.

Gerade das „choosing wisely“ vermisse ich in der Diskussion, was eben auch eine individualisierte, komplementäre Medizin je nach Situation des Patienten u. a. mit folgenden Säulen bedeutet:

  • Lifestyle-Modifikation und Entspannungsverfahren

  • Ernährungsmedizin: Unter- genauso wie Übergewicht, Diabetes Typ II und falsche Makronährstoffzusammensetzung beeinflussen

  • Mikronährstoffe:

    • optimale Diagnostik und Therapie über die „konventionelle Laborroutine“ hinaus

    • Wie kann ich optimale Selen- oder Vitamin-D-Werte erreichen, wenn ich nicht den Ausgangswert kenne und therapeutisch um den Faktor 10 unterschiedlich dosieren muss?

    • Hochdosiertes Vitamin C nicht direkt zu Strahlen- oder Chemotherapie!

    • Mikronährstoffe gerade als Ausgleich von Nebenwirkungen konventioneller Medizin, wie L-Carnitin, Magnesium, Zink, Vitamin D, Vitamin B12, Folsäure

  • Phytotherapie: aus dem reichhaltigen Arsenal der Pflanzenheilkunde von supportiv bis additiv oder kurativ wirksam; strenge Beachtung der Neben- und Wechselwirkungen, was für einen erfahrenen Therapeuten selbstverständlich ist

  • Hyperthermie-Verfahren von Fieber bis lokale Hyperthermie: in Deutschland liegen zu wenig Daten vor, aber ermutigende Fallserien und Epidemiologie zu Fieber

In der täglichen Praxiserfahrung sind diese Methoden Basics einer optimierten und individuellen Patientenversorgung, die aufgrund der Stringenz und häufigen Ablehnung der onkologischen Schwerpunktpraxen und -kliniken sowie der bunten Zerfahrenheit der komplementären Anbieter noch zu wenig Patienten konsequent zur Verfügung gestellt wird.

Auf der Medizinischen Woche in Baden-Baden bieten mehrere Fachgesellschaften der komplementären Medizin seit Jahren breite Möglichkeiten, Vorträge und Fortbildungen zu besuchen, die solche Grundlagen erklären und immer wieder auch Neues oder Unkonventionelles beleuchten und kritisch hinterfragen. Im Rahmen dieser Plattform wäre eine intensive Diskussion über diese Methoden für jeden Therapeuten möglich. Frau PD Dr. Hübner kann aufgrund Terminüberschneidung 2016 nicht teilnehmen, eine erneute Einladung wird für 2017 folgen.

Im Sinne der onkologischen Patienten muss es Ziel sein, dass sich die universitären Institute oder onkologischen Schwerpunktpraxen und die mit hoher praktischer Erfahrung ausgestatteten naturheilkundlich-komplementären f#8222;rzte optimaler vernetzen.