Gesundheitswesen 2012; 74 - A74
DOI: 10.1055/s-0032-1322060

„Behinderung ist kein Argument gegen Elternschaft.“ – Geburtserleben und Unterstützungsbedarf behinderter und chronisch kranker Mütter

M Michel 1, A Seidel 1, S Wienholz 1
  • 1Universität Leipzig, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health

Einleitung/Hintergrund: Noch immer besteht ein defizitäres Wissen über Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft behinderter und chronisch kranker Müttern. Gesicherte Aussagen können weder zum Anteil behinderter Mütter unter allen Müttern getroffen werden, noch über den Verlauf von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft. In der UN-Behindertenrechtskonvention wird das Recht auf Elternschaft nachdrücklich festgeschrieben. Vorliegende Daten (Eiermann u.a 2000, Michel u.a. 2001, Michel u.a 2008) belegen, dass Frauen mit Behinderungen zunehmend Mütter werden. Um sie optimal zu betreuen, gewinnen Forschungsarbeiten zum Thema an Bedeutung. Im Beitrag werden erste Daten einer prospektiven Studie zu Einflussfaktoren auf Fertilität, Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft, gefördert durch die Roland Ernst Stiftung für Gesundheitswesen in Sachsen, vorgestellt.

Daten/Methodik: Von April bis Dezember 2011 erfolgte in drei geburtsmedizinischen Kliniken in Sachsen eine Screeningbefragung aller Frauen, die zur Entbindung kamen. Die Befragung lief pro Klinik jeweils 6 Monate. Damit sollte der Anteil der Frauen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen erfasst und Frauen gewonnen werden, die zu vertiefenden Interviews bereit waren. Aus den vorliegenden 1.500 Screeningbogen konnten 44Mütter mit und 38 ohne Behinderung für die Teilnahme an diesen Interviews gewonnen werden. T0 wurde innerhalb der ersten 4 Wochen nach der Geburt erhoben, T1 nach 6 Monaten und T2 folgt nach einem Jahr. Die Datenerhebung erfolgt mittels teilstrukturierter Fragebogen als schriftliche Befragung. Im Beitrag werden Ergebnisse der Messzeitpunkte T0 und T1 vorgestellt.

Ergebnisse: Frauen mit Behinderungen planen ihre Schwangerschaft überwiegend langfristig (88%), 95% gaben an, dass ihr Kind ein Wunschkind sei. Bereits 2010 konnten wir nachweisen, dass Frauen mit Behinderungen ihre Schwangerschaft früher bemerken und früher ihren Gynäkologen aufsuchen, als nichtbehinderte. Vorsorgeuntersuchungen werden behinderten Frauen vom Arzt deutlich häufiger empfohlen, wobei sie erweiterte Ultraschalluntersuchungen eher nutzen als invasive Untersuchungsmethoden. Ein Drittel der Frauen konsultierte zur optimalen Betreuung während der Schwangerschaft ihren Facharzt. Beachtenswert ist die hohe Sectio-Rate behinderter Frauen. Die Ergebnisse zum Geburtsverlauf bestätigen die 2010 erhobenen Befunde bezüglich der Entbindungsart. Laut Perinatalberichterstattung Sachsen 2009 entbanden 21,7% der nichbehinderten Frauen per Kaiserschnitt und 39,6% der behinderten. Wir erhoben eine Sectio-Rate behinderter Frauen ebenfalls von 39%. 8 Kinder der behinderten Frauen wiesen Fehlbildungen auf, 6 Kinder waren Frühgeburten. Auffällig ist die geringe Information der behinderten Mütter über Hilfs- und Unterstützungsangebote (z.B. Vorbereitungskurse oder verlängerte Hebammenbetreuung). Die Auswirkungen der Informationsdefizite sind Bestandteil der Befragung zum Messzeitpunkt T1, in dem es vorrangig um Ressourcen und Bedarfe der Mütter bei der Betreuung ihrer Kinder geht. Positiv bewerten alle Frauen die Hebammenbetreuung während der Geburt, etwas kritischer die gynäkologische Betreuung und die Wöchnerinnenstationen.

Diskussion/Schlussfolgerung: Die Ergebnisse belegen, dass Frauen mit Behinderungen selbstbestimmt über die Geburt ihrer Kinder entscheiden, die wesentlicher Bestandteil ihrer Lebensplanung sind. Um Mütter optimal zu betreuen, Risiken und Folgekosten zu vermeiden, besteht Informationsbedarf sowohl auf Seiten der Eltern als auch des medizinischen Personals. Die Ursachen für hohe Sectio-Raten sind zu hinterfragen, ebenso der Unterstützungsbedarf der Mütter während Schwangerschaft, Geburt und 1. Lebensjahr. Die Ursachen für Frühgeburtlichkeit und Fehlbildungen sind zu diskutieren in Bezug auf die Versorgungssituation.

Literatur:

Eiermann N, Häußler M, Helfferich C (2000): LIVE. Leben und Interessen vertreten. Frauen mit Behinderung. Lebenssituation, Bedarfslagen und Interessenvertretung von Frauen mit Körper- und Sinnesbehinderungen, Schriftenreihe des BMFSFJ, Bd.183. Stuttgart

Michel M, Häußler-Sczepan M, Riedel S (2001): Frauen mit Behinderungen im Freistaat Sachsen. Wissenschaftliche Begleitung beim Aufbau eines sächsischen Netzwerks von Frauen mit Behinderungen. Freistaat Sachsen. Staatsministerin für die Gleichstellung von Mann und Frau. Dresden

Michel M, Wienholz S, Jonas A (2010) Die medizinische und soziale Betreuung behinderter Mütter im Freistaat Sachsen – eine medizinsoziologische Begleitstudie zum Aufbau eines Kompetenzzentrums für behinderte Mütter. http://www.kompetenz-behinderte-eltern.de/veroeffentlichungen_eigen.htm