Psychiatr Prax 2010; 37(8): 415
DOI: 10.1055/s-0030-1268369
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Psychiatrie in Lettland

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Publication Date:
05 November 2010 (online)

 

Verantwortlich für diese Rubrik: Manfred Wolfersdorf, Bayreuth; Iris Hauth, Berlin

Im Mai 1998 wurde in Riga/Lettland ein Kooperationsvertrag zwischen dem Bezirk Oberfranken und dem damaligen Zentrum für psychiatrische Gesundheitsfürsorge, jetzt Mental Health Agency geschlossen. Diese Kooperation, die bis zum heutigen Tag andauert, hat das Ziel, "die Psychiatrie in Lettland, die sich im Umbruch befindet, bei der Bewältigung der sozialistischen Erblast zu unterstützen und an den westeuropäischen Standard heranzuführen" (Kooperationsvertrag vom Mai 1998 [Präambel]).

Nach Angaben im statistischen Jahrbuch "Mental Health Care in Latvia 1991–2000" leiden 2,5–3% der Menschen in Lettland (Gesamtbevölkerung ca. 2,7 Mio.) an psychischen Erkrankungen. Die Zahl der Krankenhäuser in Lettland lag 1991 bei 187, davon gab es 11 (4963 Betten) stationäre psychiatrische Einrichtungen. Im Jahr 2000 war die Zahl der Krankenhäuser auf 142 gesunken mit 9 psychiatrischen Krankenhäusern. Die durchschnittliche Verweildauer betrug 2000 über alle psychiatrischen Einrichtungen im Mittel 65,3 Tage. Die Anzahl der Psychiater nahm von 1991–2000 von n=280 auf n=238 ab.

In der 3. Ausgabe des Statistischen Jahr.buches "Mental Health Care in Latvia 2002" wird eine Prävalenz n=92657 für das Jahr 2002 (inkl. Suchtkrankheiten n=29771) angegeben. Erste Eindrücke der psychiatrischen Versorgungssituation in Lettland aus dem Jahr 1998 lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

"Geschlossene Psychiatrie" wenig Kommunikation zwischen Behandlern und Patienten kaum psychotherapeutische Behandlung keine komplementäre Vernetzung vornehmlich "duales System" – kaum Psychologen, keine Ergotherapie, keine Sozialpädagogen "schizophrenielastige Diagnostik" selten tagestrukturierende Maßnahmen keine Psychoedukation und kognitive Therapieelemente kein Trialog

In den Jahren 1998–2001 stand der Aufbau der Forensischen Klinik in Riga im Vordergrund. Organisation und Konzep.tion einer forensischen Klinik, interdisziplinäre Zusammenarbeit, Behandlungsmöglichkeiten- und Ziele, Deeskalationsmaßnahmen, pharmakologische und psychotherapeutische Behandlungsmethoden, Aufbau einer Ergotherapie sowie ethische Überlegungen waren Hauptbestandteile des Fort- und Weiterbildungskonzepts.

In den folgenden Jahren stand die Öffnung der Psychiatrie – gemeindenahe Psychiatrie – sowie die Einführung und Verstärkung der Psychotherapie im Vordergrund. Themen wie z.B. Therapie von Depressionen, Essstörungen, bipolaren Störungen, Persönlichkeitsstörungen wurden im Laufe der Jahre in das Fort- und Weiterbildungsprogramm integriert.

Gesundheitsökonomische Themenbereiche, Epidemiologie sowie Ablauf- und Organisationsstrukturen im Gesundheitswesen und Qualitätsmanagement vervollständigten das Angebot.

Im Jahr 2005 wurde nach großen, teils auch finanziellen Schwierigkeiten eine Tagesstätte mit integrierter psychiatrischer Ambulanz eröffnet. Diesem Projekt wurde auch seitens der WHO große Be-deutung zugemessen. Mit der Implementierung dieser Tagesstätte wurde ein wesentlicher Teil der psychiatrischen Rehabilitation eingeleitet. Tagesstrukturierende Maßnahmen, arbeitsrehabilitative und arbeitsdiagnostische Überlegungen einerseits und Integration und Teilhabe am sozialen und Arbeitsleben andererseits sind nach wie vor laufende Projekte der lettischen psychiatrischen Versorgung.

Für diesen Bereich der psychiatrischen Versorgung, der Wiedereingliederung von psychisch erkrankten Menschen in den Arbeitsmarkt sowie die Konzeption eines "Lettischen Psychiatrieplans" hat sich das Mental Health Agency am EQUAL-Programm der EU beteiligt. Die Unterzeichner waren in diesem EU-Programm "Overseas Expert for the European Community Initiative Project".

Weitere Schwerpunkte der Arbeit waren Unterstützung der zunehmenden Orientierung der lettischen Psychiatrie in Richtung europäische Psychiatrie, Unterstützung der Entwicklung in Richtung einer sozialpsychiatrisch-psychotherapeutisch orientierten Psychiatrie.

Zitat aus einer "Würdigung über die Zusammenarbeit im Rahmen des Vertrages zwischen Bezirk von Oberfranken und Psychiatrie-Zentrum in Riga, Lettland" aus dem Jahr 2002:

"Das wichtigste Ergebnis der Zusammenarbeit besteht in den ausgezeichneten angebotenen Fortbildungsmöglichkeiten für alle Berufsgruppen sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich, wobei auf der Basis selbstloser Hilfe von den deutschen Kollegen Im Zeitraum von 1996–2001 hospitierten in Bayreuth 27 Arbeitenden in der Psychiatrie. Alle Veranstaltungen im Zeitraum von 6 Jahren ist ein erheblicher Beitrag zur Fortbildung und Überwindung unserer Kenntnislücken sowie zum Annähern des westlichen Psychiatrieniveaus"...

Im April 2007 wurde Herr Prof. Dr. M. Wolfersdorf mit der Ehrendoktorwürde der Stradins Universität Riga ausgezeichnet. Die Ökonomisierung der psychiatrischen Versorgung in Lettland, nicht zuletzt wegen der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, ist spürbar und ein wichtiger Bestandteil der Treffen in den letzten Jahren. Eine Bettenreduzierung um 50% ist gefordert, ein Klinikneubau sowie ein weiteres Ambulatorium in Riga sind geplant. Diese Thematik, aber auch Psychotherapie, Einbeziehung von Angehörigen und Teilhabe am sozialen- und Arbeitsleben sind weiterhin Inhalte einer erfolgreichen Kooperation.

W. Rätzel-Kürzdörfer, M. Wolfersdorf, Bayreuth

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