Dtsch Med Wochenschr 2010; 135(46): 2287-2288
DOI: 10.1055/s-0030-1267510
Nachruf | Obituary

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Prof. Dr. med. Dr. h. c. Walter Siegenthaler – 1923 – 2010

H. E. Blum1
  • 1Abteilung Innere Medizin II, Medizinische Universitätsklinik Freiburg
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Publication Date:
09 November 2010 (online)

Am 24. Oktober 2010 starb Professor Walter Siegenthaler nach langer und schwerer Erkrankung im Kreise seiner Angehörigen und Freunde. Mit ihm hat die Innere Medizin der Gegenwart einen ihrer prominentesten Vertreter im deutschsprachigen Raum verloren. Er hat über mehrere Jahrzehnte bis zu seiner Emeritierung 1991 und darüber hinaus das Fach Innere Medizin ganz wesentlich mitgestaltet und geprägt.

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Walter Siegenthaler – 1923 – 2010

Viele von uns hatten das Privileg, Walter Siegenthaler in für ihn und für uns unterschiedlichen Lebensabschnitten und Funktionen begegnet zu sein und begleitet zu haben. So kennen wir den Internisten und seine herausragenden Leistungen als Professor für Innere Medizin und Direktor der Universitätsklinik Bonn und später des Departements für Innere Medizin des Universitätsspitals Zürich, als Organisator von Kongressen, Fort- und Weiterbildungen, sein großes Engagement in Schriftleitungen, Fachgesellschaften, Stiftungen und Einrichtungen der Forschungsförderung und nicht zuletzt als Herausgeber seiner z. T. in viele Sprachen übersetzten Lehrbücher, die über die Jahrzehnte zu Klassikern geworden sind, wie die „Differentialdiagnose Innerer Krankheiten” und die „Klinische Pathophysiologie”. Diesem großen Katalog von herausragenden Leistungen steht eine entsprechend lange Liste von Preisen, Ehrungen und Auszeichnungen gegenüber. Er kommentierte diese meist mit dem Konrad Adenauer Bonmot, „Herr bestrafe die, die so gut über mich reden, aber vergib mir, dass ich es so gerne höre”. Details der Biographie und Lebensleistungen von Walter Siegenthaler sind in mehreren aktuellen Schriften festgehalten (Walter Siegenthaler; Arzt, Lehrer, Wissenschaftler. P. Stiefelhagen, Springer Verlag 2005; Zeitzeuge der Medizin. Im Gespräch mit dem Internisten Walter Siegenthaler. P. Müller, Georg Thieme Verlag 2009). Ich möchte deshalb zum Abschied von Walter Siegenthaler auf die detaillierte Aufzählung seiner großen Leistungen und zahlreichen Ehrungen, Preise und Auszeichnungen verzichten.

Vielmehr möchte ich einige seiner Persönlichkeitsmerkmale ansprechen, die aus meiner Sicht Grundlage für sein großes Lebenswerk waren. Zu diesen persönlichen Eigenschaften zählen sein unerschöpflicher Fleiß und seine vorbildliche Disziplin, seine intellektuelle Neugier und seine Fürsorge für andere, insbesondere die Förderung des Mediziner-Nachwuchses.

Aus meiner Sicht war Walter Siegenthaler dem Wesen nach ein Asket, ein „im Luxus lebender Asket”, eine „mönchische” Gestalt umgeben von Büchern und Kunstwerken von Museumsqualität. Größte persönliche Disziplin mit frühem Aufstehen, spätem Zubettgehen und absoluter Pünktlichkeit gepaart mit unermüdlichem Fleiß und großer persönlicher Bescheidenheit und Genügsamkeit kennzeichneten seinen Arbeitsalltag. Er lebte dies in vorbildlicher Weise vor und hat dies auch von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefordert. „Pünktlichkeit” und „Disziplin” waren oberstes Gebot bei seinen Vorlesungen, Visiten, beim Rapport und bei Patientenvorstellungen ebenso wie die strikte Einhaltung der Redezeit bei Kongressen oder des Abgabetermins von Manuskripten für seine Lehrbücher.

Ein zweites Charakteristikum, das alle Facetten seiner Leidenschaft „Medizin” mitbestimmte, war seine intellektuelle Neugier, die ihn bis zu seinen letzten Lebenstagen an den neuesten Entwicklungen der Medizin teilnehmen ließ. Dabei kamen ihm sein sicheres Gespür für notwendige Veränderungen ebenso wie für neue Möglichkeiten in Klinik, Lehre und Forschung, sein herausragendes Organisationstalent und seine Fähigkeit, andere für neue Aufgaben zu motivieren und zu begeistern, zugute.

So hat er die Entwicklung des primär versorgungsorientierten Zürcher Kantonsspitals zum forschenden Universitätsspital mit zahlreichen, auch international sichtbaren Spezialdisziplinen der Inneren Medizin entscheidend mitgeprägt. Er hat damit die allgemeine Innere Medizin des „Generalisten” in das neue Zeitalter der Inneren Medizin der „Spezialisten” geführt, ohne jedoch den „Generalisten” einfach abzuschaffen. Er und seine Klink haben damit zum einen ganz wesentlich zu den großen Fortschritten der Inneren Medizin in der Zeit zwischen 1960 und 1990 beigetragen. Denken wir dabei nur an die minimal invasive Koronardilatation/Angioplastie bei Erkrankungen der Herzkranzgefäße, heute weltweit die Therapie der Wahl bei Herzinfarkt oder die erste endoskopische Abtragung von Kolonpolypen, heute weltweiter Standard zur Prävention des kolorektalen Karzinoms. Zum anderen hat er damit die Basis für die Entwicklungen von heute und von morgen gelegt, die sich als zunehmende Individualisierung der Medizin beschreiben lassen. Bei dieser gehen individuelle genetische Merkmale in die Diagnostik, Therapie und Prävention der Erkrankung des einzelnen Patienten ein.

Bei großer intellektueller Beweglichkeit und einem sicheren Gespür für das momentan Notwendige bzw. Mögliche war für Walter Siegenthaler in der Inneren Medizin bis zuletzt nichts zu neu, um nicht verstanden und diskutiert zu werden.

Ein weiterer herausragender Aspekt im Lebenswerk von Walter Siegenthaler war die Förderung des akademischen Nachwuchses durch persönliche Beratung und Unterstützung von zahllosen Medizinstudenten im In- und Ausland. Ein sichtbares Zeichen dieser Motivation ist u. a. die von ihm eingerichtete Walter und Gertrud Siegenthaler Stiftung, durch die seit mehreren Jahren Medizinstudenten, Assistenten und Habilitierte der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich gefördert und ausgezeichnet werden. Besonders glücklich war er immer, wenn er mehrere Generationen von Medizinern um sich hatte, wobei er am liebsten mit Medizinstudenten und jungen Assistenten diskutierte und sich in deren Kreis bewegte.

Über das Gelingen eines Lebens und das Außergewöhnliche und Unverwechselbare einer Persönlichkeit entscheidet letztendlich jedoch nicht der äußere Erfolg. Ich möchte deshalb versuchen, die Frage zu beantworten, was über den beruflichen Erfolg hinaus Walter Siegenthaler besonders prägte und unvergesslich macht.

Professor Siegenthaler bei der traditionellen Signierstunde am Stand des Thieme Verlags anlässlich des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin in Wiesbaden. (Bild: DMW Redaktion)

Hier nenne ich zuerst und vor allem seine absolute Ehrlichkeit, Offenheit und Verlässlichkeit gegenüber seinen Patienten, Freunden und denen, die ihm nahe standen. Auf seinen Rat und sein Engagement egal in welcher Angelegenheit oder Funktion, konnte man sich absolut verlassen. Seine Unterstützung war die eines Mäzens, vorbehaltlos und ohne Erwartung einer „Gegenleistung”. In allen Facetten seines erfolgreichen Lebensweges spiegelt sich aber auch die stete Präsenz und Moderation seiner Ehefrau Gertrud wider. Sie hat ihn während nahezu 40 Jahren bei all seinen Aktivitäten begleitet und unterstützt. Ihr viel zu früher Tod war wohl die einschneidendste Zäsur in seinem Leben und ein Verlust, den er aus meiner Sicht im Innersten nie wirklich überwunden hat und der ihn nachhaltig prägte. So erinnere ich mich an das Symposium zu seinem 85. Geburtstag am 4. Dezember 2008 im Universitätsspital Zürich, das Walter Siegenthaler mit dem Bonhoeffer-Zitat beschloss: „Von guten Mächten wunderbar umgeben, erwarten wir getrost was kommen mag”.

Dass seine letzte Lebensphase von der schweren Krankheit bestimmt und er schließlich nur noch ein Schatten seines früheren Selbst war, war für ihn und für alle, die ihm nahe standen, eine tragische Fügung. Er hat jedoch nie geklagt oder Mitleid gesucht. In vorbildlicher Weise unterstützt durch seine immer präsente Schwester Anna Wälti-Siegenthaler und ihren Mann Ernst Wälti, die Familie Siddique sowie Frau Dr. Silvia Hofer hat er dieses Schicksal mit der für ihn charakteristischen Disziplin und Tapferkeit angenommen. So hat er zum einen nicht erfolgversprechende oder nebenwirkungsreiche therapeutische Maßnahmen konsequent abgelehnt. Gleichzeitig hat er in bewunderswerter und für ihn typischer Weise die Zeit nach seinem Tod bis in größte Detail vorbereitet und geplant. Nach seinem Lebensprinzip der „vita activa” hat er deshalb den nahenden Tod nicht als bedrohenden Schrecken, sondern eher als eine Erlösung empfunden.

Abschiednehmen bedeutet Sich-Erinnern. Wir erinnern uns an die außergewöhnliche Arztpersönlichkeit Walter Siegenthaler, den Mediziner aus Leidenschaft, den begabten Hochschullehrer und Herausgeber von „Lehrbüchern für ein Medizinerleben”, wie sie von begeisterten Studenten und Ärzten bezeichnet werden. Er hat durch Fleiß, Beharrlichkeit und Originalität ein übergroßes Lebenswerk geschaffen, das weit über die Schweiz hinaus höchste Anerkennung gefunden hat.

Wir erinnern uns an Walter Siegenthaler als einen unersetzlichen und unvergesslichen Kollegen, Mentor und Freund. Er hat vielen von uns etwas Besonderes und Bleibendes von sich gegeben, das in ehrenvoller Erinnerung in uns weiterleben wird.

Hubert E. Blum, Freiburg

Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Hubert E. Blum

Abteilung Innere Medizin II
Medizinische Universitätsklinik

Hugstetter Str. 55

79106 Freiburg

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