Aktuelle Ernährungsmedizin 2011; 36(1): 54-55
DOI: 10.1055/s-0030-1265988
Kommentar
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Die neue S3-Leitline Chirurgie der Adipositas – Was ist neu?

The German Guidelines for Bariatic Surgery – What is New?N.  Runkel1
  • 1Klinik für Allgemein-, Visceral- und Kinderchirurgie, Schwarzwald-Baar-Klinikum, Villingen-Schwenningen
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Publication Date:
04 February 2011 (online)

Die von der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft für die Adipositastherapie der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie initiierte S3-Leitlinie dient Ärzten, Patienten und Kostenträgern zur Optimierung der Adipositasbehandlung. Aus Sicht der Fachgesellschaft ist die Leitlinie ein Instrument beim qualitätsgesicherten Aufbau der Adipositaschirurgie in Deutschland. Die Kernaussagen sind evidenzbasierte Empfehlungen ([Tab. 1]), die systematisch entwickelt und interdisziplinär konsentiert wurden ([Tab. 2]).

Tab. 1 Graduierung der Evidenz- und Empfehlungsstärke. Studienqualität Evidenzstärke Empfehlung Beschreibung Symbol systematische Übersichtsarbeit (Metaanalyse) oder RCT (Therapie) oder Kohortenstudien (Risikofaktoren, Diagnostik) von hoher Qualität hoch „soll” starke Empfehlung ⇑⇑ RCT oder Kohortenstudien von eingeschränkter Qualität mäßig „sollte” Empfehlung ⇑ RCT oder Kohortenstudien von schlechter Qualität, alle anderen Studiendesigns, Expertenmeinung schwach „kann” Empfehlung offen ⇔

Tab. 2 Zusammensetzung der Leitliniengruppe: Liste der beteiligten Fachgesellschaften / Organisationen sowie ihrer für die Leitlinie nominierten Experten / innen. beteiligte Fachgesellschaften / Organisationen Vertreter / Experte Chirurgische Arbeitsgemeinschaft für die Adipositastherapie der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie Priv.-Doz. Dr. M. Colombo-Benkmann, MünsterDr. R. Flade-Kuthe, HannoverPriv.-Doz. Dr. Th. P. Hüttl, MünchenDr. O. Mann, HamburgProf. Dr. N. Runkel, Villingen-SchwenningenProf. Dr. E. Shang, MannheimDr. M. Susewind, BerlinDr. H. Tigges, KonstanzPriv.-Doz. Dr. S. Wolff, MagdeburgDr. R. Wunder, Hannover Deutsche Adipositas-Gesellschaft Prof. Dr. A. Wirth, Bad RothenfeldeDr. K. Winckler, Frankfurt Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin Prof. Dr. A. Weimann, Leipzig Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie Prof. Dr. Martina de Zwaan, Erlangen Methodiker Prof. Dr. S. Sauerland, Köln

Die Leitlinie basiert auf der Erkenntnis, dass die bariatrische Chirurgie oftmals die beste und einzige Behandlungsoption zur Gewichtsreduktion und Remission der metabolischen und sonstigen Folgeerkrankungen ist. Die Adipositaschirurgie wird damit in ein multimodales Therapiekonzept hineingestellt, das aus mehrdisziplinärer Evaluation und Vorbereitung, konservativen und operativen Therapieelementen und aus lebenslanger Nachsorge besteht. Damit fordert die Leitlinie ein Team aus internistischen, operativen, psychologischen und ernährungstherapeutischen Experten, deren Qualifikationsanforderungen und Ausbildungsstandards von den Fachgesellschaften festzulegen sind. Die Leitlinie befreit die Adipositaschirurgie von vielen hergebrachten Restriktionen, sie weisen aber gleichzeitig dem Chirurgen eine besondere Verantwortung weit über die perioperative Phase hinaus zu. Hier werden nur einige Empfehlungen und Kommentare zu Indikation, Verfahrenswahl und Nachsorge vorgestellt, während der Volltext, den jeder Adipositaschirurg kennen muss, auf der Homepage der DGAV und der AWMF abgerufen werden kann.

Indikation

Bei Patienten mit einem BMI ≥ 40 kg / m2 ist bei Erschöpfung der konservativen Therapie eine bariatrische Operation indiziert. ⇑⇑

Bei Patienten mit einem BMI zwischen 35 und 40 kg / m2 und mit einer oder mehreren adipositasassoziierten Folge- / Begleiterkrankungen ist ebenfalls eine chirurgische Therapie indiziert, sofern die konservative Therapie erschöpft ist. ⇑⇑

Bei Patienten mit einem Diabetes mellitus Typ 2 kann bereits bei einem BMI zwischen 30 und 35 kg / m2 eine bariatrische Operation im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie erwogen werden. ⇔

Auch bei einem höheren Lebensalter (> 65 Jahre) kann eine bariatrische Operation durchgeführt werden. Ziel des Eingriffes ist oft die Verhinderung von Immobilität und Pflegebedürftigkeit. ⇑

Kinderwunsch stellt keine Kontraindikation zur bariatrischen Chirurgie dar. ⇑

Eine chirurgische Maßnahme kann als Ultima Ratio bei extrem adipösen Jugendlichen mit erheblicher Komorbidität erwogen werden. ⇔

Können die als Kontraindikationen genannten Erkrankungen und Zustände erfolgreich behandelt werden, oder können psychopathologische Zustände in einen stabilen Zustand überführt werden, sollte eine Reevaluation erfolgen. ⇑

Kommentar: Die Leitlinie erweitert das Indikationsspektrum jenseits der klassischen NIH-Kriterien aus dem Jahre 1991 (BMI > 40 oder > 35 mit Sekundärmorbidität). Damit wird behutsam die – auch wenn noch nicht so benannte – metabolische Chirurgie beim Typ-2-Diabetes-mellitus eingeführt. Die prinzipiellen Altersgrenzen fallen nach oben und unten. Die lange Liste an Kontraindikationen wird bis auf wenige therapierefraktäre oder konsumierende Erkrankungen zusammengestrichen. Traditionell wurde ein „Versagen” der konservativen Behandlung für eine Operation vorausgesetzt. Dieser Begriff wird nun ersetzt und präzisiert durch „Erschöpfung” (Gewichtsverlust < 10–30 % nach einer strukturierten konservativen 6–12-monatigen Therapie). Zudem wird erstmals die primäre Operation bei „Aussichtslosigkeit” empfohlen, wenn Art und / oder Schwere der Krankheit bzw. psychosoziale Gegebenheiten keinen Erfolg einer konservativen Behandlung erwarten lassen.

Verfahrenswahl

Ein für alle Patienten pauschal zu empfehlendes Verfahren existiert nicht. ⇑⇑

Als effektive operative Verfahren zur Therapie der Adipositas sollten Magenband, Schlauchmagen, Roux-Y-Magen-Bypass oder BPD mit duodenalem Switch eingesetzt werden. ⇑

Zweizeitige Konzepte (Stufenkonzepte) sind in der Lage, das perioperative Risiko zu senken und sollten besonders bei Patienten mit Extremformen der Adipositas (BMI > 50) und / oder erheblicher Komorbidität erwogen werden. ⇑

Die plastisch-chirurgischen Korrekturen nach erfolgreicher Gewichtsreduktion sollten ein integraler Bestandteil des Gesamtbehandlungskonzeptes sein. ⇑

Kommentar: Die Leitlinie benennt klar die Standardoperationen, wozu nun auch der Schlauchmagen gezählt werden kann. Es gibt – bis auf den laparoskopischen Zugangsweg – keinen evidenzbasierten Goldstandard, vielmehr wird die Entscheidung im direkten Arzt-Patienten-Kontakt getroffen. Die chirurgischen Verfahren ergänzen sich zu einer effektiven Gesamtstrategie, indem sie beim Primäreingriff miteinander konkurrieren und sich in der Mehrschritttherapie und bei Revisionseingriffen ergänzen. Die postbariatrische plastische Chirurgie bei massivem Hautüberschuss wird als Teil der Adipositasbehandlung neu in die Leitlinie aufgenommen.

Nachsorge

Patienten nach adipositaschirurgischen Eingriffen bedürfen einer regelmäßigen Nachsorge durch einen in der Adipositastherapie erfahrenen Arzt und eine Ernährungsfachkraft. ⇑⇑

Kommentar: Ernährungsumstellung, Nachsorge und Supplementierung sollten möglichst lebenslang fortgeführt werden, wobei kein allgemeingültiges Nachsorgeschema existiert. Die Operation stellt keine Schnelllösung für psychische Störungen dar, und das Auftreten oder Wiederauftreten psychischer Störungen postoperativ soll fachspezifisch behandelt werden. Selbsthilfegruppen können einen positiven Effekt auch im postoperativen Verlauf ausüben.

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Norbert Runkel

Direktor der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Kinderchirurgie, Schwarzwald-Baar-Klinikum, Villingen-Schwenningen

Vöhrenbacherstraße 20

78050 VS-Villingen

Email: avc@sbk-vs.de

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