Balint Journal 2010; 11(4): 107-111
DOI: 10.1055/s-0030-1262658
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Vom Symptom zum Narrativ

Diskursanalyse der interaktiven Konstruktion einer PatientengeschichteFrom Symptom to NarrativeDiscourse Analysis of the Interactive Construction of a Patient’s StoryA. Koerfer, R. Obliers, B. Kretschmer, K. Köhle
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Publication Date:
07 December 2010 (online)

Zusammenfassung

In einer diskursanalytischen Untersuchung soll die interaktive und thematische Entwicklung des Gesprächs zwischen Julia und ihrem Arzt rekonstruiert werden. Dabei geht es uns vor allem um die allmähliche Transformation des Gesprächs von der Symptomschilderung der Patientin zu einem biografisch bedeutsamen Narrativ, in dem die Patientin einen drohenden Bruch in ihrer bisherigen Lebensgeschichte vergegenwärtigt. Im Detail fokussieren wir auf die spezifischen Transformationsleistungen der ärztlichen Interventionen, die der Versprachlichung von Emotionen der Patientin in der Form einer gemeinsamen Konstruktion der Patientengeschichte dienen. 

Abstract

In a discourse analytic study, we seek to reconstruct the interactive and thematic progression of a conversation between Julia and her physician. Our focus is on the gradual transformation of the conversation from a description of symptoms to an important biographical narrative within and through which the patient realizes the possibility of a rupture in her life. Specifically, we concentrate on the transformative potential of the physician’s interventions: these facilitate the verbalization of the patient’s emotions in the context of a joint construction of her story. 

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1 Die Länge der Beiträge streut in diesem Gespräch zwischen 1 Wort (z. B. „ja“ oder „nein“ nach Entscheidungsfrage) und maximal 61 Wörtern. Methodisch anzumerken ist, dass bloße Rückmeldungen des Hörers in der Funktion von „auditor back-channel signals“, die nach Duncan [1] eine „speaker-auditor interaction during speaking turns“ erlauben, sodass der Sprecher in seiner Rede „as if uninterrupted“ fortfahren kann, nicht als eigenständige Redebeiträge gezählt wurden [2].

2 In komparativen Studien zur Evaluation von Balintgruppenarbeit haben wir in einem prä-post-Design Arzt-Patient-Gespräche verglichen und dabei als Mindestmaß den Schwellenwert von 40 Wörtern für längere Redebeiträge angenommen. Gespräche, in denen Patienten kaum Gelegenheit haben, diesen kritischen Schwellenwert zu überschreiten, schneiden in der Regel auch nach weiteren Evaluationskriterien schlechter ab [3] [4] .

3 Wenn Interventionen keine weitere Gesprächsrelevanz mehr entfalten, heißt dies aber nicht, dass der Informationsaustausch überflüssig wäre. Informationsfragen etwa nach Medikamenten, Nikotin- oder Alkoholkonsum sind wegen des hohen medizinischen Klärungsbedarfs auch dann zu stellen, wenn sie (evtl. erwartbar) verneint werden.

4 Vgl. die Kategorien im Manual Ärztliche Gesprächsführung [8] , das in Lehre und Forschung der Kodierung von ärztlichen Interventionen dienen kann.

5 Das „wir“ wird in diesem Gespräch vom Arzt kein einziges Mal in der Funktion von „pluralis majestatis“, sondern ausschließlich in der „Funktion einer Betonung der Gemeinsamkeit“ [9: 193] benutzt. Zur weiteren Evaluation derartiger Vorkommenshäufigkeiten von Personalpronomina bedarf es jedoch vielfältiger komparativer Studien zum Zweck der Normierung [9].

6 Allerdings sind auf der interaktiven Ebene auch diskontinuierliche Entwicklungen zu verzeichnen bis hin zu einer kritischen Gesprächsschwelle, an der Julia mit dem Angebot eines alternativen Gesprächspartners (P 52: „Vielleicht kann meine Mutter dazu mehr sagen“) die Flucht aus dem Gespräch sucht, was angesichts der inhaltlich immer schwerer werdenden Gesprächsarbeit als Widerstandstandsphänomen interpretiert werden kann.

7 Eine informelle Definition: Schlüsselinterventionen zeichnen sich mit ihrer Weichenstellungsfunktion u. a. dadurch aus, dass sie „neuen Gesprächsstoff“ bringen, der eine Weile das besondere Interesse von Arzt und Patient findet.

8 Vgl. zur Nachhaltigkeit dieses Lernprozesses aus der subjektiven Erlebensperspektive der Patientin den Beitrag von Obliers et al. in diesem Heft.

Dr. phil. Armin Koerfer

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie· Universitätsklinikum Köln

Kerpenerstr. 61

50931 Köln

Email: armin.koerfer@uk-koeln.de

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