Psychiatr Prax 2010; 37(4): 209
DOI: 10.1055/s-0030-1254204
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Ganz Jenseits

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Publication Date:
18 May 2010 (online)

 

Da schreibt Martin Walser und damit einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller der Gegenwart eine Novelle mit einem Psychiater als Hauptfigur, die in einer Klinik mit einem ehemaligen Kloster nahe dem Bodensee spielt, unschwer als die Weissenau zu erkennen. Da könnte man als Psychiater elektrisiert sein, der Rezensent allemal. Was für eine Bühne für die Psychiatrie. Wunschbild, Zerrbild, Realität oder Fiktion eines Psychiaters oder Psychotherapeuten? Nichts davon. Der Protagonist Professor Feinlein ist ein Klinikchef, der kraft seines Amtes die Pachtverträge für die Cafeteria vergibt und bestimmt, wo die Krankenpflegeschule steht. Fachlich erfährt man nur, dass er ein Anhänger von Johanniskraut ist, während sein Gegenspieler auf Psychopharmaka setzt. Sein "wissenschaftliches" Interesse gilt der Reliquienforschung. Die ganze Handlung würde man in der Szenerie und der Atmosphäre am ehesten in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts lokalisieren wollen, ließe nicht eine Textstelle den eindeutigen Schluss zu, dass das Jahr 2007 gemeint ist. Es gibt einige mitreißende Erzählpassagen, vor allem in der Darstellung des subjektiven Erlebens einer finalen Niederlage vor dem übermäßig vitalen Rivalen, die aber thematisch und sprachlich fast schon als Selbstzitate früherer Walser-Themen wie seiner Novelle "Ein fliehendes Pferd" wirken – und die manche enthusiastische Kritiken hervorgerufen haben. Ein Martin Walser braucht für seine Erzählung nicht zu recherchieren, was die Realität eines psychiatrischen Krankenhauses ist. Die darin arbeiten, brauchen das Ergebnis nicht belangvoll zu finden.

Tilman Steinert, Ravensburg

Email: Tilman.Steinert@ZfP-Zentrum.de

Walser M. Mein Jenseits. Berlin University Press, 2010, 119 Seiten, € 19,90. ISBN 978-3-940432-77-3

  • 01 Walser M . Mein Jenseits. Berlin: University Press; 2010. 119 Seiten, € 19,90. ISBN: 978-3-940432-77-3
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